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03.09.2021

Interview von Olaf Scholz für den Tagesspiegel am Sonntag

Herr Scholz, wenn Sie Kanzler werden sollten, wen laden Sie als Dank für die große Wahlkampfhilfe zum Labskaus-Essen ein, Markus Söder oder Wolfgang Schäuble?
Labskaus ist eine Hamburger Spezialität, die nicht jedermanns Sache ist. Ich mag Labskaus. Trotzdem frage ich vor einer Einladung immer, ob man das mag. Doch den Kopf muss ich mir gar nicht zerbrechen. Wenn die Bürgerinnen und Bürger mir den Auftrag geben, die nächste Regierung zu führen, hätte ich erstmal keine Zeit für Labskaus-Partys.

Wir fragen, weil Söder durch seine Sticheleien Armin Laschet schwer geschadet hat und weil es Schäuble war, der gegen Söder den Weg zur Laschet-Kandidatur freigemacht hat. Sie waren an jenem vielleicht historischen Abend des 18. April auch im Bundestag…
Richtig, gemeinsam mit SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich war ich seinerzeit mit Herrn Brinkhaus und Herrn Dobrindt im Bundestag verabredet, um eine dringende Gesetzgebungsfrage der Koalition zu besprechen. Wir hatten schon mitbekommen, dass sich Herr Söder auf Anreise befand. Irgendwann wies ich darauf hin, dass wir wohl fertig werden müssten, denn einige hier hätten wohl noch einen Anschlusstermin. Als ich das Gebäude verließ, warteten am Eingang viele Journalisten und waren erstaunt, ausgerechnet mich dort zu sehen. Ich habe freundlich gegrüßt und ging meiner Wege.

Es folgte eine Kanzlerkandidatur unter schlechtem Stern, sie waren der Profiteur. Nun bezichtigt sie die Union der Erbschleicherei, weil sie sich als würdiger Nachfolger der Kanzlerin inszenieren. Was sind Eigenschaften, die Sie mit der Kanzlerin teilen?
Zunächst einmal: Die Demokratie ist kein Erbhof. In der Demokratie wird Macht auf Zeit verliehen und alle vier Jahre neu vergeben. Ich bewerbe mich bei den Bürgerinnen und Bürgern um ein Mandat. Und ich bin berührt, wie viele mir dieses schwere Amt des Bundeskanzlers zutrauen. Das bewegt mich. Jetzt geht es darum, Deutschlands Zukunft anzupacken. Dafür zu sorgen, dass Respekt in unserer Gesellschaft eine größere Rolle spielt, es geht darum sicherzustellen, dass wir den menschengemachten Klimawandel aufhalten und auch in 10, 20 und 30 Jahren noch gute Arbeitsplätze in Deutschland haben. Für all das braucht es die Fähigkeit zu führen. Und es braucht die Ausdauer, solche Prozesse beharrlich voranzutreiben.

Eine Parallele, die Ihnen nachgesagt wird, ist, dass Sie die Ausdauer mitbringen und vor allen Dingen auch lange verhandeln können. Was war die härteste Verhandlung Ihres Lebens bisher?
Eine bestimmte Verhandlung mag ich da gar nicht rausgreifen, ich habe viele harte Verhandlungen erlebt. Als Anwalt habe ich häufig Sozialpläne ausgehandelt und für Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gestritten. Später waren es politische Verhandlungen – als Parlamentarischer Geschäftsführer im Bundestag, als Minister, als Hamburger Bürgermeister und als Bundesminister der Finanzen. Was sich oft wiederholt: Wenn man anfängt, denkt man oft, es sei gar keine Einigung möglich. Am Ende hat es dann doch meist geklappt. Ich erinnere mich an die Verhandlungen über die Fertigstellung der Elbphilharmonie. Oder über den Länderfinanzausgleich, die Diskussion über die Grundrente, auch an manche Koalitionsverhandlung. Zuletzt waren die Gespräche auf globaler Ebene sehr kompliziert, um weltweit eine Mindestbesteuerung von Unternehmen durchzusetzen. Drei Jahre hat das gedauert. Lange glaubte mir niemand, dass wir eine Einigung erreichen könnten – jetzt haben wir sie.

Sie gelten als sachlich, emotionslos. Sie im Wahlkampf zu beobachten, sei so aufregend wie Wasser beim Kochen zuzusehen, sagt der frühere US-Botschafter John Kornblum.
Ein lustiger Vergleich – auch wenn ich nicht weiß, ob er viele unser Wahlkampfveranstaltungen besucht hat. Diese Woche war ich unter anderem in Melsungen, am Freitag in Treptow, am Wochenende in Göttingen – und ich finde es bemerkenswert, gerade überall so viel Zustimmung und Vertrauen auf den Straßen und Marktplätzen zu spüren. Es sind ja nicht allein Umfragen, die uns Rückenwind geben, sondern diese direkten Begegnungen mit den Bürgerinnen und Bürgern. Ich mag den Wahlkampf. Und es macht auch Spaß. Seit viele Leute wissen, dass ich gerne rudere, werde ich gerne mal zu Rudertouren eingeladen.

Warum soll man Ihnen vertrauen?
Aus vielen Jahren in der Politik kennen die Bürgerinnen und Bürger mich und wissen, dass ich viele Ämter ausgeübt habe und wie ich das gemacht habe. Im Kampf um das Kanzleramt geht es letztlich immer um zwei Fragen: Kann der oder die das? Und zweitens, mit welcher Einstellung geht man an eine solche Aufgabe: Es geht also ums Herz. Ich habe den Respekt schon genannt, den ich für unsere Gesellschaft wichtig finde. Ich möchte nicht in einem Land leben, in dem die einen auf die anderen herabblicken.

Hand aufs Herz: Hätten Sie im Juli gedacht, dass das Pendel so in Ihre Richtung ausschlägt?
Im Juli deutete sich so langsam an, dass unsere Strategie aufgehen könnte. Als wir uns im August vergangenen Jahres darauf verständigten, mich sehr früh zum Kanzlerkandidaten zu küren, war uns allen in der SPD klar, dass es ein langer Lauf sein würde. Denn die SPD musste den Wählerinnen und Wählern erstmal beweisen, dass sie einig und geschlossen agiert. Für zwei, drei Monate vor einer Wahl die Luft anzuhalten und Streit zu vermeiden, dass kriegt fast jeder hin. Wenn man es aber über einen so langen Zeitraum macht, können die Bürgerinnen und Bürger darauf vertrauen, dass diese Geschlossenheit auch in der schwierigeren Zeit des Regierens trägt. Zugleich haben wir ein gutes, pragmatisches und zuversichtliches Programm für unser Land formuliert, das Antworten auf die wichtigsten Zukunftsfragen Deutschlands gibt.

Was passiert mit der Geschlossenheit der SPD nach dem 26. September?
Sie wird fortbestehen. Wer sein Kreuz bei der SPD macht, um einen Kanzler Scholz zu bekommen, kann sich darauf verlassen, dass er ihn genauso bekommt, wie er ihn in den vergangenen Jahren kennengelernt hat. Ich werde die Politik machen, die viele mit mir verbinden. Auf der Grundlage des Programms, das wir gemeinsam formuliert haben. Vieles erinnert mich an meine Zeit in Hamburg: Damals raufte sich 2009 eine zuvor nicht geschlossene Partei zusammen, stellte sich neu auf, gewann die Wahl 2011 – und bis heute zeichnet sich die Hamburger SPD durch große Geschlossenheit aus.

Dann gilt auch für den linken Parteiflügel: Wer bei mir Führung bestellt, bekommt sie auch…
Diesen Wahlkampf führen wir alle gemeinsam – mit mir als Kanzlerkandidat an der Spitze.

Einige halten die SPD nur bedingt für regierungsbereit, wichtige Konflikte sind ungelöst. Ist Olaf Scholz für die Bewaffnung von Drohnen, damit die Bundeswehr sich besser schützen kann?
Ich bin dafür, dass unsere Soldatinnen und Soldaten bestmöglich ausgerüstet sind. Wenn Sie auf die vergangenen Jahre schauen, können Sie genau sehen, dass ich diesem Motto folge. Die schlechteste Zeit für die Bundeswehr war die schwarz-gelbe Koalition ab 2009. Damals hieß der Verteidigungsminister Guttenberg, der Finanzminister hieß Schäuble, die Wehrpflicht wurde abgeschafft und bei der Truppe massiv gekürzt. Seit ich Bundesminister der Finanzen bin, erlebt die Bundeswehr den stärksten Zuwachs ihres Haushalts seit langem. Genauso im Übrigen wie die Entwicklungszusammenarbeit. Der Verteidigungsetat umfasst heute über 50 Milliarden Euro, unsere Nato-Quote ist so hoch wie lange nicht. Nun zu den Drohnen: CDU, CSU und SPD haben gemeinsam entschieden, mit Frankreich die Euro-Drohne zu entwickeln. Sie soll in den nächsten Jahren europaweit zum Einsatz kommen, denn es ist wichtig, dass wir als EU diese neue Technologie beherrschen. Wichtig ist, dass unsere Soldatinnen und Soldaten sich sicher sein können, dass ein solcher Einsatz klar von unser Verfassung gedeckt ist und gesellschaftlich akzeptiert wird.

Aber der Streit drehte sich doch nicht um die Eurodrohne, sondern um die Heron TP der Bundeswehr, die man jetzt schon verfügbar hat und bewaffnen könnte.
Es geht nicht nur um die paar Heron-Drohnen, sondern um eine strategische Entscheidung, die für Deutschland und Europa wichtig ist. Ich bin dafür, die europäische Rüstungskooperation auszubauen. Wir können unsere Verteidigungsausgaben effektiver nutzen, dafür müssen wir uns innerhalb der EU-Partner auf möglichst einheitliche Waffensysteme verständigen.

Bleiben wir bei den Inhalten, Stichwort Innere Sicherheit. Viele Menschen, auch hier in Berlin, ärgern sich über die Macht krimineller Clans. Friedrich Merz sagt, solchen Kriminellen müsse man ihr Spielzeug, das Auto, wegnehmen. Das treffe sie härter als Haft. Stimmen Sie dem zu?
Ja, deshalb gibt es ja längst die Möglichkeit, Vermögensgegenstände, die kriminelle Banden erworben haben, staatlich zu beschlagnahmen und einzuziehen. Das ist schon heute die Gesetzeslage in Deutschland, dafür habe ich mich immer eingesetzt. Und Berlin hat davon im Übrigen in den vergangenen Jahren rege Gebrauch gemacht, wie Sie als Berliner Tageszeitung auch berichtet haben. Vielleicht werden Sie von Herrn Merz im Sauerland nicht so rege gelesen.

Sie wollten vor der Wahl noch genaue Berechnungen vorlegen, welche Haushalte von den SPD Steuerplänen profitieren und welche nicht, kommt das noch?
In dieser Legislaturperiode haben wir, wie vorher versprochen, den Soli für 90 Prozent der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler komplett abgeschafft, weitere 6,5 Prozent zahlen deutlich weniger. Für die Bürgerinnen und Bürger war das eine Steuerentlastung von zehn Milliarden Euro pro Jahr. Den Soli-Zuschlag zahlen eben nur noch diejenigen, die sehr, sehr viel Geld verdienen. Und diese Einnahmen brauchen wir in einer Zeit, in der wir wegen Corona insgesamt fast 400 Milliarden Euro an zusätzlichen Krediten aufgenommen haben werden. Für die nächste Wahlperiode hat die SPD ihr Steuerkonzept bereits klar dargelegt: Wir wollen, dass mehr als 95 Prozent aller Steuerzahlerinnen und Steuerzahler niedrigere Steuern zahlen. Ehepaare mit einem Jahresbruttoeinkommen von 200.000 Euro und Singles, die unter 100.000 Euro verdienen, werden davon profitieren. Dafür sollen die, die sehr, sehr viel Geld verdienen, einen etwas höheren Beitrag leisten.

Die SPD will oberhalb von 100 000 bzw. 200 000 Euro bei Ehepaaren den Spitzensteuersatz um drei Punkte anheben. FDP und Union dagegen versprechen: Keine Steuererhöhungen.
Als Bundesminister der Finanzen bin ich schwer irritiert, dass CDU und CSU auf Steuersenkungen für Menschen dringen, die so viel verdienen wie ein Spitzenpolitiker oder ein Vorstandsvorsitzender, und für Unternehmen, die sehr hohe Gewinne machen. 30 Milliarden Euro an Mindereinnahmen jedes Jahr würde das kosten – das ist unverantwortlich und unfinanzierbar, finanzpolitisches Voodoo. Das ist völlig aus der Zeit gefallen.

Sollten Sie es schaffen: Was wären die wichtigsten Projekte für die ersten 100 Tage?
Drei Vorhaben sind für mich am Wichtigsten, weil sie Antworten auf die großen Herausforderungen der Zwanzigerjahre geben. Ich habe von Respekt gesprochen. Da geht es um Anerkennung, die sich aber auch auf dem Konto zeigen muss. Einmal Beifall-Klatschen für die Corona-Helden reicht nicht. Die Kassiererin an der Supermarktkasse oder der Paketbote müssen auch mehr verdienen. In meinem ersten Amtsjahr will ich deshalb den gesetzlichen Mindestlohn auf 12 Euro anheben. Zweites wichtiges Vorhaben ist es, klar zu berechnen, wie viel Strom Deutschland 2045 brauchen wird, und den Ausbau unserer Stromerzeugung daran zu orientieren. Wir brauchen viel mehr Strom aus Sonne und Wind, und wir brauchen ein leistungsfähigeres Stromnetz. Und damit sind wir bei Punkt drei: Die notwendigen Gesetze zu verabschieden, damit Planung und Bau solcher Anlagen deutlich schneller vorankommen als bislang.

Sie wollen auch einen Strombedarfsplan bis 2045 aufstellen, weil Deutschland durch den Umbau der Industrie hin zu Klimaneutralität viel, viel mehr Strom brauchen wird als heute.
Das ist dringend nötig. Noch bis zum Sommer haben CDU/CSU strikt bestritten, dass wir bis 2030 überhaupt mehr Strom brauchen. Der zuständige Wirtschaftsminister hatte jede Berechnung dazu verweigert. Dabei ist jedem klar, dass es mehr Strom braucht, wenn die Industrie ihre Prozesse von Erdöl, Kohle oder Gas auf Strom umstellt. Erst in der Sommerpause hat der Minister etwas kleinlaut zugegeben, dass es wohl doch mehr Strom braucht. Genauer: fast 100 Terawattstunden – um das zu schaffen, müssen wir jetzt jedes Jahr so viel Strom zusätzlich zubauen wie eine Stadt wie Hamburg im Jahr verbraucht. Und der Bedarf wird weiter wachsen. Allein die deutsche Chemie-Industrie rechnet damit, im Jahr 2050 so viel Strom zu brauchen, wie Deutschland heute insgesamt zur Verfügung hat. Das umreißt ganz gut die Aufgabe, vor der wir stehen, im Kampf gegen den Klimawandel.

Für all das, wird es ohne ein, eher zwei Partner nicht gehen. SPD-Chefin Saskia Esken hat gesagt, das Nein der Linken zum Evakuierungseinsatz der Bundeswehr in Kabul habe gezeigt „dass da keine Regierungsfähigkeit“ und auch „keine Wille“ zur Regierungsbeteiligung da sei.
Die Ablehnung des Bundeswehr-Rettungsentscheidung durch die Partei Die Linke war schlimm, Saskia Esken hat da vollkommen recht. Wer in Deutschland Regierungsverantwortung übernehmen will, muss sich klar bekennen zur Zusammenarbeit mit den USA, zur transatlantischen Partnerschaft und dazu, dass wir die NATO für unsere Verteidigung und unsere Sicherheit brauchen. Er muss sich bekennen zu einer starken, souveränen Europäischen Union und dazu, dass wir solide mit dem Geld umgehen, dass die Wirtschaft wachsen muss. Auch dazu, dass die Sicherheit im Inneren gewährleistet ist. Das sind Mindestvoraussetzungen für eine gute Entwicklung unseres Landes.

Diese Mindestvoraussetzungen erfüllt die Linkspartei nicht. Warum schließen Sie die rot-rot-grüne Koalition dann nicht aus?
Diese Anforderungen sind unverhandelbar. Wer SPD wählt, um mich als Kanzler zu bekommen, kann sich darauf verlassen, dass das gilt. Die Bürgerinnen und Bürger kennen mich aus all den öffentlichen Ämtern, die ich in den vergangenen Jahren wahrgenommen habe. Sie wissen, dass ich ein sehr pragmatischer Politiker bin, der mit den Grundlagen für ordentliches Regieren niemals spielerisch umgehen würde.

Sie streben ein Ampel-Bündnis an. FDP-Chef Christian Lindner scheint sich angesichts der Lage bei der Union der Option etwas zu öffnen. Wie wollen sie die überzeugen?
Mir ist wichtig, ein starkes Mandat zur Regierungsbildung zu bekommen. Es geht darum, eine Koalition zu bilden, die gut ist für unser Land. Ich bin jetzt im Wahlkampf im Gespräch mit den Bürgerinnen und Bürger und diskutiere meine Pläne. Uns allen sollte bewusst sein, dass erst am 26. September gewählt wird. Deshalb finde ich es einigermaßen merkwürdig, wenn schon im Vorfeld im Wochentakt neue Ministerien erfunden werden und sich einzelne schon auf konkrete Ministerposten bewerben. Das ist nicht mein Stil.

Ein zweiter potenzieller Partner sind die Grünen. Deren Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock sagt, sie wolle mit der SPD regieren. Warum rufen Sie nicht Rot-Grün zum Wahlziel aus?
Ich möchte gerne mit den Grünen zusammen regieren. Daran habe ich nie irgendeinen Zweifel gelassen. Ich habe in verschiedenen Regierungen schon mit den Grünen zusammengearbeitet, im Bund wie in Hamburg. Wir sind unterschiedliche Parteien, wir haben unterschiedliche Zielsetzungen, aber wir haben viele Schnittmengen. Und die sind für die Zukunft unseres Landes wichtig.

Nochmal: Ist Rot-Grün jetzt für Sie das neue Ziel?
Mein Ziel ist ja ein starkes Ergebnis für die SPD.

Sie sind ständig unterwegs, sprechen mit Menschen, halten Reden. Welche Stimmung bekommen Sie mit in diesem Wahlkampf?
Ich spüre das Bedürfnis nach Wechsel und verspüre den Wunsch nach Aufbruch. Und ich spüre, dass viele das Gefühl haben, das könnte mit einem sozialdemokratischen Kanzler beides gut gelingen.

Wir haben das Thema Emotionen in der Politik schon angesprochen und kommen noch einmal darauf zurück: Haben Sie schon einmal wegen der Politik geweint?
Nein.

Sie sollen aber geweint haben, als Sie das Buch „Hillbilly Elegy“ gelesen haben, dass vom Schicksal der Menschen im amerikanischen „Rustbelt“ handelt, wo die Wirtschaft darniederliegt und viele in die Drogensucht flüchten…
Das stimmt, das hat mich sehr gerührt. Es berührt mich immer, wenn es um die Würde und die Hoffnungen von Menschen geht. Deshalb bin ich ja Politiker geworden, um mich dafür einzusetzen, die Würde zu schützen, und dass niemand einem miesen Schicksal hilflos ausgeliefert ist, sondern Hoffnung haben kann. Ich habe sehr bewusst Respekt zu einem der großen Themen meiner Kampagne gemacht. Ich bin kein Journalist, der Verhältnisse nur beschreibt, auch kein Wissenschaftler, der die Dinge erklärt. Ich will die Verhältnisse verändern. Ich möchte, dass unser Land zusammenkommt. Mir geht es um das, was der frühere Bundespräsident Johannes Rau „Versöhnen statt spalten“ nannte. Das ist meine Perspektive.

Sie wissen, dass das auch ein Motto von Armin Laschet ist?
Wenn andere das aufgreifen, umso besser. Als wir den Mindestlohn in Deutschland durchgesetzt hatten, sagte ich zu meinen Freunden: Wir werden dann richtig erfolgreich gewesen sein, wenn irgendwann auch die FDP behauptet, sie wäre schon immer für den Mindestlohn gewesen. Und natürlich geht es auch jetzt darum, große Veränderungen durchzusetzen, von denen ich hoffe, dass sie breit akzeptiert und nicht mehr rückgängig gemacht werden. So wie selbst die Konservativen seinerzeit die Ostpolitik von Willy Brandt nachträglich nicht mehr in Frage gestellt haben, muss es jetzt gelingen, dass die großen Reformen, die wir für mehr Respekt in der Gesellschaft und für die klimafreundliche industrielle Modernisierung auf den Weg bringen wollen, möglichst bald von einem breiten Konsens getragen werden.

Stichwort Respekt: Gerade in Ostdeutschland haben wir viele Enttäuschungen gesehen, die Wunden heilen sehr langsam.
Ich habe schon als junger Anwalt für Arbeitsrecht in den 90er Jahren sehr intensiv die Lebensrealität in Ostdeutschland kennengelernt. Und habe viele Betriebsräte und Gewerkschaftsmitglieder bei den gewaltigen Umstrukturierungen unterstützt. Dort konnte ich viele beeindruckende Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer kennenlernen, die mit ansehen mussten, wie alles, was sie mit aufgebaut hatten, was ihre berufliche Lebensleistung ausgemacht hatte, einfach zerrann.

Das waren Ihre Erfahrungen. Was ist heute Ihr Angebot?
Ich lebe jetzt in Potsdam in Brandenburg, kandidiere dort im Wahlkreis und kann an meine Erfahrungen anknüpfen. Ich bin überzeugt, wir müssen noch mehr tun für einheitliche Lebensverhältnisse in Ost und West. Ich denke, gerade was Produktionsstandorte neuer Technologien wie Batteriezell-Fabriken, Elektro-Fahrzeuge oder die Wasserstoffproduktion angeht, hat Ostdeutschland viel Potenzial. Und es sieht so aus, als ob wir das auch schaffen können, dort einiges anzusiedeln. Wir müssen auch dafür sorgen, dass die Renten jetzt endlich angeglichen werden. Das muss jetzt passieren. Endlich. Und wir müssen dafür Sorge tragen, dass die Löhne besser werden. Ein höherer Mindestlohn hilft. Etwa ein Drittel derer, die davon profitieren werden, leben im Osten Deutschlands. Aber wir brauchen auch eine Tarifangleichung zwischen Ost und West. Das alles steht jetzt auf der Tagesordnung.

In früheren Jahren war die SPD eine Partei, in der Künstler und Intellektuelle gehört und eingebunden wurden, gerade auch wenn es um die Spaltungen in der Gesellschaft ging. Wollen Sie an diese verloren gegangene Tradition anknüpfen und mehr Debatte wagen?
Unbedingt. Das große Gespräch mit Künstlerinnen und Künstlern, mit den Intellektuellen dieser Republik, möchte ich wieder führen. Die Zukunft können wir nur gemeinsam gewinnen und nicht, wenn wir einander lediglich beobachten, sondern wir müssen uns zusammentun. Diejenigen, die sich Gedanken machen über unser Miteinander, ob sie das in der Kultur tun oder in der Wissenschaft, können sehr viel dazu beitragen. Sie sollen im Kanzleramt willkommen sein und einen aufmerksamen Gesprächspartner vorfinden.