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Foto: Olaf Scholz spricht zur Eröffnung der Hannover Messe 2022
dpa
29.05.2022

Rede anlässlich der Eröffnung der Hannover Messe

Sonntag, 29. Mai 2022, Hannover

Sehr geehrter Herr Premierminister Costa, lieber António! Sehr geehrte Damen und Herren Ministerinnen und Minister aus Portugal und Deutschland! Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Weil, lieber Stephan! Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Onay! Sehr geehrter Herr Haeusgen! Sehr geehrter Herr Köckler! Meine sehr geehrten Damen und Herren!

„Nicht nur die Säulen des Herkules hat es hinter sich gelassen und einen wütigen Ozean bezähmt, sondern die bislang unterbundene Einheit der bewohnbaren Welt wiederhergestellt. Was für neue Möglichkeiten und wirtschaftliche Vorteile, welche Erhöhung des Wissens, welche Bestätigungen der alten Wissenschaft, die bisher als unglaubhaft verworfen wurden, dürfen wir noch erwarten! … Portugal ist heute der Hüter, der Wächter einer zweiten Welt.“

Meine Damen und Herren, so klang Zeitenwende Ende des 15. Jahrhunderts. Das Zitat stammt von einem Florentiner Humanisten, der voller Bewunderung auf ein Land blickt, dessen Seefahrer gerade innerhalb weniger Jahre das Kap der Guten Hoffnung umrundet, den Seeweg von Europa nach Indien entdeckt und schließlich erstmals die ganze Welt umsegelt hatten.

Portugals Entdeckungen, so schreibt viereinhalb Jahrhunderte später Stefan Zweig in seinem Buch über Magellan, markierten den Beginn der Neuzeit, den Moment, als die Welt zur Kugel, zum Globus wurde.

Insofern ist es nicht erstaunlich, lieber António, dass dein Land Gastland der Hannover Messe geworden ist. Weltoffenheit und Handel trägt Portugal schließlich genauso in seiner DNA wie Entdeckungen und Erfindungen, und die Hannover Messe ist die Messe der Entdecker und Erfinder.

Daher tritt das Motto, das ihr für euren Gastlandauftritt gewählt habt, lieber António, den Nagel auf den Kopf: „Portugal makes sense“ – und zwar nicht nur historisch betrachtet. In den vergangenen Jahren hat Portugal eine beeindruckende wirtschaftliche Erfolgsgeschichte geschrieben. Was für Comeback nach den schweren Zeiten der Wirtschafts- und Finanzkrise! Das Land hat riesige Fortschritte bei Technologie, Digitalisierung und Energiewende gemacht. Lissabon ist inzwischen eines der Epizentren der europäischen Start-up-Szene und beliebt bei digitalen Nomaden weltweit. Smartphone und Surfbrett – die Kombination funktioniert.

Und mehr noch: Gerade deine Regierung, lieber António, hat massiv in die Innovationskraft Portugals investiert. Spitzenforschung wie das Fraunhofer-Institut wurde so erfolgreich nach Portugal geholt.

Zahlreiche neue Unternehmenskooperationen sind in den vergangenen Jahren entstanden. Wir haben es schon gehört: Rund 600 deutsche Unternehmen sind bereits in Portugal tätig, und zwar nicht nur große Weltkonzerne wie Volkswagen, Bosch, Siemens oder Conti, sondern auch viele kleinere und mittelständische Betriebe, da bei euch ein gutes Klima herrscht, und zwar für Investitionen genauso wie zum Urlaubmachen.

In diesem Sinne: Bem-vindo! Herzlich willkommen, lieber António, dir und deiner ganzen Delegation!

Messen wie diese leben von der persönlichen Begegnung. Deshalb freut es mich ganz besonders, dass wir uns nach der pandemiebedingten Absage der Hannover Messe 2020 und der digitalen Ausgabe im vergangenen Jahr heute endlich wieder live und in Farbe treffen, zumal diese Hannover Messe ja eine ganz besondere ist: 75 Jahre ist es her, dass sie zum ersten Mal ihre Türen für Besucherinnen und Besucher aus aller Welt öffnete.

Seit diesen Anfängen als Exportmesse im noch kriegszerstörten Hannover, die ihre Gäste damals mit Fischbrötchen lockte, hat sie einen beeindruckenden Weg zurückgelegt. Innerhalb weniger Jahre wurde die Messe zum Symbol für den wieder florierenden Welthandel, dem die Exportnation (Deutschland) viel ihres Wirtschaftswunders zu verdanken hat.

Damals wurde der Grundstein für etwas Großes gelegt. Die Messe, die Stadt Hannover und das Land Niedersachsen können stolz darauf sein, was aus der Hannover Messe geworden ist, nämlich die bedeutendste Industriemesse der Welt.

Herzlichen Glückwunsch dazu an Sie alle und vor allem an Sie, lieber Herr Köckler, und all Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter!

So wie vor 75 Jahren steht die Hannover Messe auch heute für Aufbruch und Neuanfang. Das ist auch nötig. Denn vor uns liegt nicht weniger als die größte Transformation unserer Wirtschaft seit Beginn der Industrialisierung, und dies in einer Zeit, in der die internationale Lage so herausfordernd ist wie nie zuvor in den letzten Jahrzehnten.

Russlands Angriff auf die Ukraine markiert eine Zeitenwende, und zwar nicht nur weil dieser grausame Krieg in unserer direkten Nachbarschaft stattfindet, sondern weil Präsident Putin zurückwill in eine Zeit, als der Stärkere diktierte, was Recht ist und wo Grenzen verlaufen, als große Länder Einflusssphären für sich reklamierten und kleinere sich in ihr Schicksal zu fügen hatten. Putins Imperialismus bricht mit allen Grundsätzen, die uns in Europa Jahrzehnte des Friedens gesichert haben.

Deshalb haben wir in der Europäischen Union, in der NATO und gemeinsam mit den anderen wirtschaftsstarken Demokratien, der G7, so geschlossen und so entschlossen auf Russlands Angriffskrieg reagiert. Wir liefern Waffen, erstmals überhaupt in ein solches Kriegsgebiet. Wir haben Millionen Frauen, Männer und Kinder in der Europäischen Union aufgenommen, die vor der Gewalt in der Ukraine fliehen mussten.

Gerade Portugal mit seiner großen ukrainischstämmigen Gemeinde hat dabei eine vorbildliche Rolle gespielt. Das ist ein großes Verdienst, lieber António, und ein Zeichen auch deiner europäischen Führungsstärke und Weitsicht. Herzlichen Dank dafür!

Nicht zuletzt haben wir Sanktionen verhängt, gut vorbereitet und eng abgestimmt. Sie treffen Russlands Führung und Russlands Wirtschaft hart, jeden Tag ein Stück mehr. Zugleich achten wir darauf, dass sie uns und unsere Partner in Europa nicht härter treffen als Putins Russland.

Es ist gut, dass dieser Kurs vonseiten der Wirtschaft mitgetragen wird. Ich weiß: Für viele Ihrer Unternehmen ist das mit wirtschaftlichen Einbußen verbunden. Wir versuchen, die größeren Belastungen abzufedern, mit Krediten, Zuschüssen und gezielten Entlastungspakten etwa für energieintensive Unternehmen.

Und trotzdem, es bleiben Kosten. Aber ich sage auch: Diese Kosten sind viel geringer als der Preis, den wir alle miteinander zahlen würden, wenn Putin durchkäme mit seiner Aggression.

Deshalb vielen Dank für Ihre Unterstützung! Sie ist nötig, und sie trägt dazu bei, diesen Krieg möglichst schnell zu beenden. Das bleibt unser oberstes Ziel.

Wir alle hatten gehofft, dass 2022 zum Boomjahr wird nach dem vermeintlichen Ende der Pandemie. Stattdessen reden wir über Probleme in den Lieferketten, steigende Energie- und Rohstoffpreise, pandemiebedingte Lockdowns in China und die schweren Folgen des Krieges für die globale Ernährungssicherheit.

Eines ist dabei für mich ganz klar: Die Pandemie und der Krieg in der Ukraine nehmen der industriellen Transformation nichts von ihrer Dringlichkeit. Im Gegenteil: Unabhängig zu werden von fossiler Energie, das ist nicht nur klimapolitisch vernünftig, das ist angesichts steigender Preise für Gas, Kohle und Öl auch wirtschaftlich vernünftig, und – das erleben wir jetzt mit aller Härte – Energieunabhängigkeit ist auch ein Gebot unserer nationalen Sicherheit.

Wir erreichen das nur miteinander. „Transforming industry together“, der Slogan der diesjährigen Hannover Messe, ist daher gut gewählt.

Bei „together“ denke ich zuallererst an das Miteinander von Politik und Wirtschaft. Für die Transformation braucht es Innovationskraft. Genau das ist das Markenzeichen der deutschen Industrie. Nicht von ungefähr sind viele ihrer Unternehmen gerade im Maschinen- und Anlagenbau und die Elektroindustrie Weltmarktführer in hochspezialisierten Technologiemärkten.

Klar ist aber auch: Für Innovationen und Investitionen in Zukunftstechnologie braucht es Anreize und verlässliche Rahmenbedingungen. Dafür werden wir sorgen. Deshalb haben wir die steuerliche Forschungsförderung bereits deutlich ausgebaut. Und mit Instrumenten wie Klimaschutzdifferenzverträgen hebt die Bundesregierung Investitionen in klimafreundliche Technologien, wo nötig, über die Rentabilitätsschwelle. Das hilft dem Klimaschutz und den Unternehmen.

Ich weiß, viele Ihrer Betriebe arbeiten bereits mit großem Nachdruck an der Klimaneutralität. Viele stehen dabei gleich vor einer doppelten Herausforderung. Erstens müssen energieintensive Produktionsprozesse auf nichtfossile Energiequellen umgestellt werden. Zweitens muss die dafür benötigte Energie in passender Form und in ausreichender Menge zu einem wettbewerbsfähigen Preis zur Verfügung stehen.

Daran arbeiten wir. Schwimmende Flüssiggasterminals, Hafen‑ und Pipelineinfrastruktur, neue Lieferquellen – all das wird jetzt in kürzester Zeit erschlossen, viel schneller und viel entschlossener, als mancher das vielleicht erwartet.

Bei allen Herausforderungen: Darin liegt auch eine große Chance, gerade für die deutsche Industrie, weil ihre Unternehmen hier in Deutschland in den kommenden Jahren die klimafreundlichen Technologien entwickeln und erproben können, die schließlich überall auf der Welt gebraucht werden für die Transformation.

Schon heute sind die Stromgestehungskosten für erneuerbaren Energien am günstigsten. Das heißt, die Energiewende wird zum Standortvorteil. Deutschland hat alle Voraussetzungen, um eines der ersten wirklich klimaneutralen Industrieländer zu werden.

Damit das gelingt, investieren wir in den kommenden Jahren Milliarden in Energieeffizienz und in den Ausbau erneuerbarer Energien. Unser Ziel ist klar: 80 Prozent unseres Strombedarfs sollen 2030 aus erneuerbaren Quellen gedeckt werden.

Dafür wird auch dieser Staat sich verändern. Wir werden die Zeiten für Verwaltungs‑, Planungs‑ und Genehmigungsprozesse beschleunigen, mindestens halbieren, eher noch weiter verkürzen. Alles dafür Notwendige stoßen wir noch in diesem Jahr an. Schon mit dem sogenannten Osterpaket haben wir die Bedingungen für den Ausbau von Fotovoltaik und Windenergie deutlich verbessert. Weitere Gesetzespakete folgen im Sommer und im Herbst. Der Vorrang für erneuerbare Energien wird gesetzlich verankert.

Schon zum 1. Juli schaffen wir die EEG-Umlage ab. Wir reden hier über milliardenschwere Entlastungen für Bürgerinnen und Bürger und für Unternehmen. Und wir lassen auch diejenigen nicht im Stich, die ganz besonderes an den hohen Energiekosten leiden: Bürgerinnen und Bürger mit kleinen und mittleren Einkommen, Berufspendler und die Bezieher von Sozialleistungen. Auch das bedeutet „Transforming industry together“.

Meine Damen und Herren, gemeinsam mit Ihren Unternehmen werden wir dafür sorgen, dass gute Arbeitsplätze hier bei uns erhalten bleiben. Qualifizierung und Weiterbildung lauten die Stichworte. Und auch hier wird die Bundesregierung die Anstrengungen der Sozialpartner flankieren, unter anderem durch ein Qualifizierungsgeld für Beschäftigte während der Weiterbildung.

Ja, wir müssen die Kräfte bündeln. Das ist die Idee hinter der Allianz für Transformation, zu der ich Entscheidungsträger aus der Politik, Unternehmens‑ und Arbeitnehmervertreter in das Kanzleramt einlade. Sie soll den anstehenden Umbau in den nächsten Jahren vorskizzieren und eng begleiten, und sie wird für den gesellschaftlichen Rückhalt sorgen, den wir für eine solch große Veränderung brauchen.

„Transforming industry together“ hat für mich aber noch eine weitere Dimension: Wir brauchen mehr internationale Zusammenarbeit.

Erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg erleben wir in den letzten Jahren, empirisch messbar, einen Rückgang internationaler Vernetzung. Nicht wenige erklären das sogar für wünschenswert. „Slowbalisation“ oder gar „Deglobalisierung“ lautet die Parole. Ich halte das für einen gefährlichen Irrweg, und zwar nicht nur weil Deutschland und Europa ganz besonders von offenen Märkten und freiem Handel profitieren, sondern weil die internationale Arbeitsteilung und globaler Wissenstransfer weltweit für wachsenden Wohlstand gesorgt haben.

Der Anteil von Menschen in extremer Armut ist in den letzten 40 Jahren von 40 auf unter 10 % gefallen. Bis zum Beginn der Pandemie sind Jahr für Jahr rund 50 Millionen Bürgerinnen und Bürger Teil einer globalen Mittelklasse geworden. Das sollten wir nicht vergessen, wenn vorschnell von „Decoupling“ oder „Deglobalisierung“ gesprochen wird.

Und noch etwas kommt hinzu: Keine der großen Herausforderungen, vor denen wir international stehen, lässt sich im nationalen Alleingang bewältigen. Nirgendwo wird das so deutlich wie beim Klimaschutz und der notwendigen Dekarbonisierung der Industrie. Wir brauchen dafür nicht nur vergleichbare Anstrengungen, sondern gemeinsame Standards für klimaneutrales und klimafreundliches Wirtschaften.

Niemandem ist schließlich geholfen, wenn die Produktion von Stahl- oder Chemieprodukten in Länder mit geringeren Klimaschutzanstrengungen abwandert, weder der Wirtschaft noch dem Klimaschutz. Und natürlich müssen wir die aufstrebenden Schwellen- und Entwicklungsländer mitnehmen, deren demografische und wirtschaftliche Dynamik sie zu neuen Machtzentren macht. Das ist die multipolare Realität des 21. Jahrhunderts.

Als G7-Präsidentschaft wollen wir daher einen Internationalen Klima-Club ins Leben rufen. Er steht allen Ländern offen, die sich auf bestimmte Mindeststandards beim Klimaschutz festlegen. Gemeinsam können wir schneller vorangehen. So entsteht das berühmte „level playing field“.

Zugleich geht es darum, Kooperation zu stärken, zum Beispiel im Bereich „grüner Wasserstoff“. Auch Portugal ist da ein interessanter Partner. Über dieses Potenzial werden Premierminister Costa und ich sicher heute und morgen auch noch ausführlich sprechen.

Wenn es also eine Antwort gibt, meine Damen und Herren, auf die großen Herausforderungen unserer Zeit, dann lautet sie tatsächlich: „together“ – gemeinsam.

Gemeinsam verteidigen wird die internationale Ordnung gegen Putins Angriff, indem wir zusammenstehen mit unseren Freunden und Partnern, so wie unsere beiden Länder das tun, lieber António.

Gemeinsam begegnen wir der Klimakrise, indem wir auf Innovationen setzen und auf neue Partnerschaften.

Und gemeinsam schaffen wir die wirtschaftliche Transformation, dank einer Industrie, die kreativ und voller Erfindungsgeist ist, und mit einem Staat, der sich modernisiert und in die Zukunft investiert.

Das ist die Botschaft, die von dieser 75. Hannover Messe ausgeht, von der Messe der Entdecker und Erfinder.

Ich freue mich auf viele Gespräche mit Ihnen, auf die neuen Produkte und Innovationen und auf unseren gemeinsamen Rundgang morgen Vormittag, lieber António.

Let’s transform industry together!

Die Hannover Messe 2022 ist eröffnet.