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12.11.1999

Rede im Bundestag am 12.11.1999

12.11.1999 - Bundestag
Deutscher Bundestag: Plenarprotokoll 14/70 vom 12.11.1999
Zweite und dritte Beratung Förderung der Selbständigkeit
- Drs 14/1855, 14/2046 - SPD,B90/GRÜNE

Beratung BeschlEmpf u Ber (11.A)
zum Antrag CDU/CSU 630 DM-Gesetz und Neuregelung der Scheinselbständigkeit zurücknehmen
- Drs 14/1005, 14/2046 -

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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als nächster Redner hat der Kollege Olaf Scholz von der SPD-Fraktion das Wort.

Olaf Scholz (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren hier über die Weiterentwicklung eines Gesetzes, das wir vor einem Jahr beschlossen haben, das dringend notwendig war und das noch einmal erläutert werden muß, weil man manchmal ein bißchen durcheinanderkommt.

Bei diesem Gesetz ging es um einen großen Mißstand, der sich über Jahre hinweg aufgebaut hat und den die alte Regierung nicht beheben konnte.

(Beifall bei der SPD)

Er bestand darin, daß bei der zugegebenermaßen nicht immer einfachen Frage, wer Selbständiger und wer abhängig Beschäftigter, also Arbeitnehmer, ist, der Arbeitgeber aus ökonomischen Gründen in immer mehr Fällen Menschen als Selbständige behandelt hat, die in Wahrheit abhängig Beschäftigte waren. Es gibt Zählungen, die besagen, daß fast eine Million Menschen in dieser Art und Weise tätig sind. Das ist für einen Sozialstaat und für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft eine große Bedrohung.

(Beifall bei der SPD)

Wir haben uns nämlich schon sehr lange dafür entschieden, daß in Deutschland das System der sozialen Sicherheit, als Pflichtmitgliedschaft organisiert, vor allem denjenigen zugute kommt, die abhängig beschäftigt sind. Insofern ist für einen Sozialstaat unserer Prägung von zentraler Bedeutung, daß wir immer gewährleisten, daß alle abhängig Beschäftigten sozial- versichert werden und den daraus erwachsenden Schutz genießen können.

(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Aber Sie haben das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, Herr Scholz! Geben Sie das doch zu!)

Das Gesetz, das wir im letzten Jahr beschlossen haben und das im wesentlichen erhalten bleibt, hat dazu eine Neuerung eingeführt. Es ist gesagt worden: Weil auf Grund der Fehlberatung durch viele Steuerberater, der Fehlberatung leider auch durch viele Berufsverbände, der Fehlberatung durch viele Rechtsanwälte

(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Das ist eine massive Kritik an den freien Berufen, die hier laut wird!)

und wegen des guten Glaubens, daß man mit dem Mißbrauch durchkommen könnte, dieser Zustand immer mehr zugenommen hat, wollen wir eine Regelung einführen, daß neben der Rechtsprüfung - da, wo die Leute nicht mitmachen; da, wo die Leute die Angaben verweigern, wo sie falsche Angaben machen -

(Dirk Niebel [F.D.P.]: Also sind die Opfer schuld und nicht der Gesetzgeber! Ich glaube es nicht!)

eine Möglichkeit bestehen soll, auf Grund sozialer Sachverhalte - hier geht es darum, daß man aus einer Wahrscheinlichkeit heraus schätzen kann, daß es sich bei dem Betreffenden um einen Arbeitnehmer handelt - eine Vermutungsregelung hinzuzunehmen. Nur für diesen Fall hat sie gegolten. Die Kriterien, die wir bisher hatten, sind Vermutungsregelungen, die dann helfen, wenn gewissermaßen die Tatsachen nicht beigebracht werden.

(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Was sagen Sie denn zu dem Vorwurf von Professor Dieterich?)

Weil nun so viele Menschen dabei ertappt worden sind, wie sie das, was ihnen ihre Steuerberater oder Rechtsanwälte fälschlich gesagt haben, umgesetzt haben, oder bei dem ertappt worden sind, was sie von selbst gemacht haben,

(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Seien Sie vorsichtig mit Ihrer Kritik an

Steuerberatern, Rechtsanwälten und sonstigen freien Berufen!) hat es einen großen Schrecken gegeben. Dieser große Schreck hat zu folgendem geführt: Es wurde das Gesetz ganz anders wahrgenommen, als die Regelungen des Gesetzes es nahelegten oder als es beispielsweise schon im April die Spitzenverbände der Sozialversicherungsträger jedermann mitgeteilt haben. Es sollte nämlich nicht nach der Vermutungsregelung geprüft werden, ob jemand selbständig oder abhängiger Arbeitnehmer ist. Vielmehr sollte das an Hand der Kriterien geprüft werden, die seit Jahrzehnten in der sozialgerichtlichen und der arbeitsrechtlichen Rechtsprechung entwickelt worden sind. Da sollte gar nichts verschoben werden.

(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Ach ne!)

Zeitungsschreiber, Verbandsjournalisten, F.D.P.-Politi- ker haben immer so getan, als böte die Vermutungsregelung das alleinige Abgrenzungskriterium.

(Zurufe von der F.D.P.: Nein! Nein!)

Das war nicht richtig, weil das vom Gesetz nicht vorgesehen war.

(Beifall bei der SPD - Dirk Niebel [F.D.P.]: Die alte Formulierung ist ganz eindeutig! Die neue ist unglaublich!)

Weil man ja zur Kenntnis nehmen muß, was passiert, wenn Fehlinformationen von Politikern verbreitet werden - die Menschen glauben ja, daß sie sich danach richten müßten -, haben wir das Gesetz an dieser Stelle korrigiert, indem wir noch einmal ganz deutlich gesagt haben: Erst hat an Hand der beigebrachten Fakten eine Sachprüfung durch die Sozialversicherungsträger stattzufinden - das war immer schon der Fall, auch nach dem neuen Gesetz des letzten Jahres -, und dann, wenn jemand nicht mitwirkt, wenn er nicht tut, was er soll, wenn er keine Angaben macht, greift die Vermutungsregelung. Diese Klarstellung ist hilfreich, und ich glaube, es ist richtig, das zu machen.

(Beifall bei der SPD)

Das zweite Moment, das dieses Gesetz trägt, das Sie heute mit uns beraten, ist die Tatsache, daß wir nicht ein schrecklicher Gesetzgeber sind, der die Leute gewissermaßen bis ins letzte Glied verfolgen will.

(Zuruf von der CDU/CSU: Genauso ist das!)

Vielmehr wollen wir dafür sorgen, daß es den Menschen leichter fällt, sich an die Gesetze zu halten, und daß sie mit den Schwierigkeiten, die sich ergeben könnten, zurechtkommen können. Darum gibt es jetzt das Anfrageverfahren, das es irgendwie schon immer gegeben hat, das aber jetzt um neue Möglichkeiten erweitert worden ist.

(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Auch nichts anderes als Bürokratie!)

Jeder, der unsicher ist, braucht sich nicht mehr an sogenannte Berater zu wenden, die ihm Fehlinformationen geben; er kann sich statt dessen an die BfA wenden und kann dort eine Auskunft darüber erhalten, ob er Arbeitnehmer oder Selbständiger ist. Auch sein Arbeitgeber kann das tun.

(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Meinen Sie, die Leute haben nichts anderes zu tun, oder was?)

Das ist eine hervorragende Regelung. Es ist überhaupt nicht schlimm, daß dann für einen oder zwei Monate Beiträge in die falsche Versicherung einbezahlt werden. Bestimmungen hinsichtlich der Rückwirkung sind da auch nicht nötig. Die Leute haben sich ja an die Versicherung gewandt, und man kann die Sachen für die Zukunft lösen. Das ist ja wichtig. Das gleiche gilt für die wichtigste Vorschrift des Gesetzes. Ich meine nämlich den § 7 c, der eine Amnestieregelung beinhaltet.

(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Ach, das ist das Wichtigste?) Ich bitte die Mitglieder dieses Hauses darum, daß sie das auch einmal draußen sagen.

(Peter Dreßen [SPD]: Alte Rechtsprechung!) Auf vielen mittelständischen Unternehmen liegt seit Jahren eine schreckliche Last,

(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Ja, ist das das Wichtigste?) weil wegen der Gesetzesfehler, der Fehler im Gesetzesvollzug, wegen der Fehler ihrer Berater, die in der Vergangenheit passierten, Rückgriffe der Sozialversicherungsträger, die viele Jahre zurückreichen können, drohen. Das passiert auf der Grundlage von Gesetzen, die schon immer existiert haben. Das hat gar nichts mit Gesetzen aus unserer Regierungszeit zu tun.

(Dirk Niebel [F.D.P.]: Doch! Mit Ihren Korrekturen haben Sie erst die Voraussetzungen dafür geschaffen!)

Weil das also so ist, weil die mittelständische Wirtschaft durch Ihre Unfähigkeit in den letzten Jahren bedroht worden ist, weil die Unternehmen deswegen in ihren Bilanzen mit Belastungen zu rechnen haben, ist jetzt die Möglichkeit geschaffen worden, daß man bis zum 30. Juni des nächsten Jahres unter Bezugnahme auf diese Kriterien einen Antrag stellen kann. Wenn daraufhin festgestellt wird, daß es in der Vergangenheit falsch gemacht wurde, dann kann man, ohne Beitragslasten aus der Vergangenheit befürchten zu müssen, für die Zukunft alles in Ordnung bringen. Das ist richtig.

Ich sage ausdrücklich auch denjenigen, die das kritisieren, daß sie nicht genügend nachgedacht haben. Es ist für die Funktionsfähigkeit des Sozialstaates ohne jede Bedeutung, ob Beiträge für drei oder vier Jahre von irgend jemandem rückwirkend gefordert werden. Für die Funktionsfähigkeit dieses Sozialstaates ist es von zentraler Bedeutung, daß es uns in Hunderttausenden von Fällen gelingt, für die Zukunft eine Korrektur zustande zu bringen.

Darum werbe ich um die Mithilfe von Ihnen allen dafür, daß in der nächsten Zeit viele Unternehmen diese Anträge stellen. Daß diese Unternehmen für die Vergangenheit dann nichts nachzahlen müssen, macht nichts, weil ihre Arbeitnehmer in Zukunft sozialversichert sind. Das ist ein Fortschritt ungeheuren Ausmaßes.

(Beifall bei der SPD)

Die im Gesetz des letzten Jahres vorgenommene Regelung, daß der Alleinunternehmer rentenversicherungspflichtig ist, bleibt aufrechterhalten. Der Alleinunternehmer - irgendwer hat ihn einmal unglücklicherweise "arbeitnehmerähnlicher Selbständiger" genannt -

(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Das war Ihnen jetzt peinlich!) ist jemand, der im Prinzip keine Beschäftigten hat und für einen einzigen Auftraggeber arbeitet. Nach der bisherigen Rechtsprechung kann er aber sehr wohl auch ein Selbständiger sein. Dagegen ist gar nichts einzuwenden.

(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Ein Unternehmer ist wieder etwas anderes, Herr Scholz!)

Der Alleinunternehmer baut fast immer keine Altersversorgung aus seinem Betrieb heraus auf. Da insbesondere Sie von der F.D.P. nicht ordnungspolitisch denken können und auch von Marktwirtschaft keine Ahnung haben,

(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD)

muß man Ihnen einmal folgendes sagen: Eigentlich ist die Entscheidung, daß Selbständige - anders als abhängig Beschäftigte - nicht rentenversicherungspflichtig sein sollen, in der Vorstellung begründet, ein Unternehmer könne mit 60 oder 65 Jahren das Unternehmen veräußern und daraus seine Altersversorgung finanzieren.

(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Das haben Sie kaputtgemacht!)

- Hören Sie in der Lehrstunde zur Marktwirtschaft zu!

(Beifall bei der SPD - Heiterkeit bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Wer sich in einer Situation befindet, die von ihm verlangt, hier und dort einmal eine Programmierung vorzunehmen, der kann zwar mit 60 oder 65 Jahren aufhören zu arbeiten; aber er kann die Tätigkeit der letzten Jahre, den Kundenstamm und Sonstiges nicht als ideellen Wert des Unternehmens verkaufen, wie es ein Rechtsanwalt, ein Steuerberater oder andere möglicherweise können. Darin besteht der Unterschied. Deshalb sind die Alleinunternehmer, deren Stellung wir im Gesetzentwurf weiter geregelt haben, rentenversicherungsbedürftig. Sie werden auch weiterhin rentenversicherungspflichtig sein.

(Beifall bei der SPD)

Wir nehmen die Realität in der Gesellschaft ja ein bißchen zur Kenntnis.

(Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

In dieser Gesellschaft gibt es das Rentenversicherungsmobbing seitens der F.D.P. und vieler Leitartikler. Jedem Menschen wird gesagt: Das Schlimmste, was einem passieren kann, ist, daß man rentenversicherungspflichtig wird.

(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Das ist auf jeden Fall nicht das Beste!)

Um diese Lüge zu verbreiten, lassen Sie keine Bundestagsrede und keine öffentliche Rede aus. Wir haben daraus die Schlußfolgerung gezogen, daß sich viele Menschen offenbar grauenhaft davor erschrecken, 128 DM Rentenversicherungsbeitrag im Monat zahlen zu müssen, weswegen sie nicht mehr Unternehmer werden wollen. Sie haben mit Ihren Reden im Bundestag den Menschen zugemutet, so etwas zu glauben!

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)

Was Sie behaupten, ist aber nicht richtig. Deshalb haben wir dafür gesorgt, daß sich die in Frage kommenden Personen als Selbständige drei Jahre lang von der Rentenversicherungspflicht befreien lassen können. Man muß für einige Menschen hinzufügen: Davon geht nichts unter; das ist gar kein Problem. In Wahrheit ist es für einen wohlmeinenden Staat - das sollte der Sozialstaat immer sein - ein Fortschritt.

Das Wichtigste ist doch, daß man sich kennenlernt. Wer als Selbständiger drei Jahre lang keine Beiträge zahlen möchte, der muß sich an die Rentenversicherung wenden und erklären, daß er von der Rentenversicherungspflicht befreit sein möchte. Wenn das passiert, dann kennt man sich und schreibt sich zu Weihnachten Grüße und fragt: Wie geht es Ihnen mit Ihrer Selbständigkeit? Nach drei Jahren prüft man dann, wie sich die Situation weiterentwickelt hat. Ich glaube, das ist eine gute Sache. Dafür haben wir etwas mit unserem Gesetz zur Förderung der Selbständigkeit getan.

Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)