Sehr geehrter Herr Generaldirektor Tedros,
sehr geehrter Herr Prof. Pries,
sehr geehrte Frau Dr. Boehme,
liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Weltgesundheitsgipfels,
meine Damen und Herren,
vor einigen Tagen hat das Nobelkomitee in Stockholm den diesjährigen Träger des Nobelpreises in Medizin verkündet. Viele von Ihnen kennen ihn natürlich: Es ist Professor Svante Pääbo.
Ich habe mich über diese Wahl ganz besonders gefreut. Zum einen natürlich – das liegt auf der Hand –, weil Professor Pääbo seit den 90er Jahren hier in Deutschland lehrt und forscht; zunächst an der Universität München, später am Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Das macht uns stolz, das spricht für den Forschungsstandort Deutschland. Zum anderen habe ich mich gefreut, weil wir international ja manchmal etwas dafür belächelt werden, dass hier in Deutschland angeblich viel zu viel Grundlagenforschung stattfindet.
Immer wieder höre ich auch von dem Dilemma zwischen Ergebnisdruck und Innovation, vor dem viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gerade in der Grundlagenforschung stehen, von der Schwierigkeit, Drittmittel einzuwerben. Nun aber können sie sich auf den Nobelpreisträger berufen.
Noch als Student der Ägyptologie und der Medizin hatte er angefangen, an den Knochen ägyptischer Mumien zu forschen – heimlich und immer in Sorge, sein Doktorvater und die wissenschaftliche Community würden ihn für verrückt halten. Sein erstes Forschungsmaterial bekam er übrigens aus dem Ägyptischen Museum im damaligen Ost-Berlin. 1984 war das.
Dem Doktoranden gelang es dann tatsächlich, in den Zellen eines mumifizierten Kindes DNA zu finden. Aber wie es eben manchmal ist: Publiziert wurde dieser wissenschaftliche Durchbruch zunächst in einer eher wenig bekannten Zeitschrift in der damaligen DDR. Bis einige Forscher aus Berkeley darauf aufmerksam wurden. Der Rest ist Wissenschaftsgeschichte.
Ein Jahr später war die Publikation „Molecular cloning of Ancient Egyptian mummy DNA“ die Titelstory im Nature Magazine. Internationale Zeitungen berichteten begeistert über die Erkenntnisse. Eine neue medizinische Disziplin war geboren: die Paläogenetik.
Inzwischen hat der Nobelpreisträger mit seinen Kolleginnen und Kollegen nicht nur Antworten darauf gefunden, wieviel unseres Erbguts wir beziehungsweise jedenfalls einige von uns als Homo sapiens mit unserem Vorgänger, dem Neandertaler, teilen. Ich sage mal ganz unwissenschaftlich: Es sind zwischen eins und zwei Prozent. Diese Genvarianten aber beeinflussen bis heute, wie unser Körper auf bestimmte Krankheiten reagiert. So wissen wir dank des Professors Studien zum Beispiel, dass einige von uns – aus dieser Zeit der Zusammenkunft mit dem Neandertaler – auf dem Chromosom 3 eine Variante tragen, die das Risiko stark erhöht, schwer an Covid-19 zu erkranken. Ich finde, wir können aus dieser Geschichte einiges lernen.
Erstens: Grundlagenforschung matters. Dass Professor Christian Drosten, der hier an der Charité Direktor des Instituts für Virologie ist, nur wenige Wochen nach Auftreten des Coronavirus in Wuhan einen ersten erfolgreichen Virusnachweis entwickelt hat, war auch ein Ergebnis jahrelanger Forschung zu Coronaviren – und das zu einer Zeit, als diese Viren den meisten Bürgerinnen und Bürgern unbekannt waren.
Und dass Uğur Şahin und Özlem Türeci in ihrer Firma BioNTech innerhalb kürzester Zeit einen erfolgreichen Impfstoff gegen Covid-19 herstellen konnten, hat auch mit jahrelanger Forschung an mRNA-Technologien zu tun. In der Coronapandemie wurden dadurch unzählige Menschenleben gerettet. Und ich hoffe, dass dies erst der Anfang ist – denken wir nur an die Potenziale beim Einsatz von mRNA-Technologie in der Krebstherapie.
Als Bundesregierung werden wir die freie, von wissenschaftlicher Neugier getriebene Forschung daher weiter mit Nachdruck fördern. Dafür steht bei uns der Pakt für Forschung und Innovation. Dafür steht aber auch unsere Zusage, die Mittel für Forschung und Entwicklung weiter zu erhöhen auf 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts bis zum Jahr 2025.
Das Beispiel von Professor Pääbo zeigt aber noch etwas: Vernetzung matters, Zusammenarbeit matters, und zwar über Ländergrenzen hinweg, zwischen unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen, auch zwischen Wissenschaft, Politik und Gesellschaft. Ohne die aufmerksamen Kollegen aus Berkeley wäre seine bahnbrechende Forschung zur DNA unserer Vorfahren sonst womöglich in irgendeiner Schublade verschwunden.
Für Vernetzung und Zusammenarbeit steht auch der Weltgesundheitsgipfel. In den nächsten Tagen werden Sie hier intensiv miteinander diskutieren – international, interdisziplinär und auf höchstem wissenschaftlichem Niveau. Welche Bedeutung das hat, hat die Coronapandemie uns vor Augen geführt. Wie andere Epidemien der vergangenen Jahre auch, wurde sie vermutlich durch Erreger verursacht, die von Tieren auf den Menschen übertragen wurden.
Wenn wir solche Epidemien also künftig früher erkennen oder – besser noch – vermeiden wollen, dann brauchen wir eine noch viel engere Zusammenarbeit unterschiedlicher Fachrichtungen, ein noch viel besseres Verständnis der Zusammenhänge zwischen der Gesundheit von Menschen, Tieren und der Umwelt. One Health lautet das Stichwort.
Das ist natürlich nur einer von vielen Bereichen, in denen die Komplexität zunimmt in einer Welt, die immer enger vernetzt ist, die immer stärker geprägt ist von wissenschaftlichen Innovationen und technologischem Fortschritt. Umso mehr ist Politik heute auf den Rat der Wissenschaft angewiesen.
Gleich zu Beginn meiner Amtszeit als Bundeskanzler habe ich daher einen unabhängigen Rat von Coronaexpertinnen und Coronaexperten berufen. 19 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler begleiten und beraten uns seither im Kampf gegen die Pandemie. Einige davon sind heute auch hier.
In bislang zwölf Stellungnahmen haben sie uns wertvolle Hinweise gegeben in der Gesundheitspolitik, aber zum Beispiel auch zu unserer Kommunikation. So wie die Wissenschaft ihre Erkenntnisse immer wieder erweitert, neue Hypothesen aufstellt und überprüft, so muss auch eine wissenschaftsbasierte Politik immer wieder den von ihr eingeschlagenen Kurs überprüfen und anpassen.
Auch im internationalen Vergleich kann man heute feststellen: Diejenigen, die das getan haben, die auf den Rat von Expertinnen und Experten gehört haben, sind besser durch diese Pandemie gekommen als diejenigen, die rigide und ideologisch an einer bestimmten Krisenbekämpfungsstrategie festgehalten haben. Dieser Erfolg sollte uns in einem bestärken: denjenigen klar entgegenzutreten, die wissenschaftlichen Fortschritt bewusst anzweifeln, die gezielt Desinformationen streuen, ja, die zum Teil sogar Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler diffamieren und bedrohen.
Um es klar zu sagen: Drohungen gegen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler können und werden wir nicht akzeptieren. Die Wissenschaftsfreiheit ist ein kostbares Gut, und gemeinsam werden wir es verteidigen! Wichtig dafür ist Transparenz – Transparenz, wie wir sie etwa durch die Veröffentlichung der Ratschläge unserer Coronaexpertinnen und Coronaexperten hergestellt haben. Das stärkt nicht nur das Vertrauen in wissenschaftliche und politische Entscheidungen, so entkräften wir zugleich manche Desinformationskampagne.
Und ich bin dankbar für den Beitrag, den der Weltgesundheitsgipfel und Sie alle dazu leisten, indem Sie wissenschaftliche Informationen – auch über Fachkreise hinaus – den Bürgerinnen und Bürgern zugänglich machen.
Vernetzung und Zusammenarbeit matters – das gilt natürlich auch international, ganz besonders auf dem Feld der internationalen Gesundheitspolitik. Als G7-Präsidentschaft haben wir Gesundheit daher zu einem Schwerpunkt unserer Agenda gemacht. Fast 1,2 Milliarden Impfstoffdosen haben die G7-Partner inzwischen abgegeben, mehr als zunächst zugesagt.
Der ACT-Accelerator, der Impfstoffe, Therapeutika und Diagnostika weltweit schnell verfügbar macht, wird zu 83 Prozent von den G7 finanziert. Deutschland allein hat 2022 über 1,3 Milliarden Euro dafür zugesagt.
Mit bis zu 850 Millionen Euro unterstützen wir Länder in Afrika und im Nahen Osten, damit sie gespendete Impfstoffe auch wirklich verimpft bekommen. Und gemeinsam mit der EU, der Afrikanischen Union und afrikanischen Ländern wie Senegal und Ruanda unterstützen wir den Aufbau einer eigenen Impfstoffproduktion in Afrika – heute mit Blick auf Covid-19, morgen auch gegen andere Krankheiten wie Malaria oder Ebola.
Übrigens: Es ist wichtig, dass Sie hier beim Weltgesundheitsgipfel neben der Covid-19-Pandemie auch die Bekämpfung genau dieser Krankheiten im Fokus behalten. Millionen Menschen in Asien, Afrika und Lateinamerika sind von Tropenkrankheiten betroffen, die nach wie vor gern übersehen werden. Wir wollen das ändern. Mit 1,3 Milliarden Euro unterstützen wir daher den Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria – ein Anstieg um 30 Prozent seit der letzten Wiederauffüllung des Fonds.
Und auch Polio gehört endlich ins Medizinhistorische Museum. Deshalb wird Deutschland bei der Konferenz der Globalen Initiative zur Ausrottung von Polio am kommenden Dienstag 35 Millionen Euro für eine Welt ohne Kinderlähmung in diesem Jahr bereitstellen.
Damit bin ich in der Zukunft angekommen. Und diese Zukunft profitiert davon, dass wir die richtigen Schlüsse aus der Vergangenheit ziehen, auch das ist übrigens eine mögliche Lektion aus der Paläogenetik. In diesem Sinne möchte ich einen Appell an uns alle richten: Lassen Sie uns gemeinsam die richtigen Schlüsse aus der Covid-19-Pandemie ziehen! Preparedness matters!
Die Weltgemeinschaft muss auf künftige Pandemien besser vorbereitet sein, muss Gefahren schneller erkennen, Informationen enger austauschen, Gegenmaßnahmen gemeinsam entwickeln und den Zugang für alle sicherstellen. Unter unserer G7-Präsidentschaft haben wir uns daher auf einen Pact for Pandemic Readiness geeinigt. Es geht zum Beispiel um eine engere Zusammenarbeit bei der Genomsequenzierung oder um die Überwachung von Abwassersystemen, um Ausbrüche früher zu erkennen. In New York konnte so zum Beispiel im September ein Polioausbruch frühzeitig erkannt und gezielt der Katastrophenfall ausgerufen werden.
Im September haben wir einen „Financial Intermediary Fund“ gegründet, der die Vorsorge und Reaktion auf Pandemien auch finanziell absichern soll. Deutschland hat dafür bislang fast 70 Millionen Euro bereitgestellt, als einer von inzwischen bereits 18 Gebern aus allen Teilen der Welt.
Und schließlich unterstützen wir die Verhandlungen über einen internationalen Pandemievertrag und die Änderungen der Internationalen Gesundheitsvorschriften, um gemeinsam besser vorbereitet zu sein und in Gesundheitskrisen besser agieren zu können.
Aus der Vergangenheit die richtigen Schlüsse für die Zukunft ziehen – das ist eine Eigenschaft, die der Homo sapiens seinen Vorgängern voraushat. Warum – diese Frage könnte uns Professor Pääbo vermutlich aus paläogenetischer Perspektive sehr schnell beantworten. Beim Blick in diesen Saal lautet meine Antwort: weil wir großartige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit Forschergen haben, weil wir uns vernetzen und zusammenarbeiten und weil wir bereit sind, über den Tag hinaus zu denken – unabhängig davon, wieviel Neandertalererbgut wir noch in uns tragen.
Herzlich willkommen in Berlin! Ich wünsche Ihnen allen einen erfolgreichen und erkenntnisreichen Weltgesundheitsgipfel 2022!