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Regierungserklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz am 19. Mai 2022 im Deutschen Bundestag
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! „Der Frieden ist nun selbstverständlich, Krieg ist unvorstellbar geworden.“ - Zehn Jahre ist es her, dass der damalige Präsident des Europäischen Rats, Herman Van Rompuy, diese Sätze gesprochen hat. In Oslo war das bei der Verleihung des Friedensnobelpreises an die Europäische Union. Herman Van Rompuys Worte waren damals natürlich auf die Lage im Innern der Europäischen Union gemünzt. Und in der Tat: Krieg zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union ist auch heute unvorstellbar. Das ist und bleibt die größte Errungenschaft der europäischen Einigung.
Doch beim Blick auf die Ruinen von Mariupol, Tschernihiw oder Charkiw, beim Gedanken an die Massengräber von Butscha oder Hostomel, bei den Bildern zerschossener Häuser, zertrümmerter Autos und lebloser Körper unschuldiger Frauen, Männer und Kinder wird uns schmerzhaft bewusst: Krieg ist eben nicht überall unvorstellbar geworden - auch in Europa nicht. Und: Frieden ist nur dann selbstverständlich, wenn wir bereit sind, ihn zu verteidigen.
Das ist die Lehre, die wir aus Russlands brutalen Angriff auf die Ukraine ziehen. Darin liegt die Zeitenwende, von der ich Ende Februar hier in diesem Haus gesprochen habe.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unterschiedliche Herausforderungen und Krisen hat die Europäische Union in den letzten Jahren bewältigt. Der Krieg in unserer unmittelbaren Nachbarschaft ist ohne jeden Zweifel die größte. In einem aber ähnelt auch diese Krise den vorangegangen: Einmal mehr erleben wir: Je größer der Druck von außen ist, desto entschlossener und geeinter handelt die Europäische Union, weil der von Putin entfachte Krieg allem widerspricht, wofür diese Union steht.
Die Europäische Union ist ein Friedensprojekt, geboren aus der Idee, den Krieg und die Feindschaft zwischen den Völkern Europas ein für alle Mal zu überwinden. Unsere Länder sind offen, frei und demokratisch - anders als Putins Autokratie. Wir begegnen uns mit Respekt und in dem Wissen, dass Ausgleich und Kompromissbereitschaft keine Schwächen sind, sondern dass darin unsere Stärke liegt. Mit dieser Haltung werden wir die Europäische Union fortentwickeln und dabei ihre Geschlossenheit wahren.
Auch Emmanuel Macron hat das bei seinem Besuch letzte Woche bekräftigt. Ich bin dem französischen Präsidenten daher sehr dankbar, dass ihn seine erste Reise nach der Wiederwahl hierher, nach Berlin, geführt hat. Darin liegt auch ein Bekenntnis zur deutsch-französischen Zusammenarbeit, die stets mehr war als ein bilaterales Projekt. Ihre Aufgabe liegt darin, Lösungen für die Zukunft zu finden, die für alle Mitgliedstaaten tragen.
Das muss immer der Antrieb des deutsch-französischen Motors sein. Die Zeitenwende erfordert, dass wir auch in Europa über den Tag hinaus denken. Dabei werden wir anknüpfen an die vielen guten Vorschläge, die die europäischen Bürgerinnen und Bürger im Rahmen der Zukunftskonferenz entwickelt haben. Am Europatag, heute vor zehn Tagen, haben sie die Ergebnisse vorgestellt.
Den Bürgerinnen und Bürgern geht es um eine bürgernähere und effizientere Union. Das wird auch unser Fokus sein.
Viele der Vorschläge sind ganz konkret. Die Bürgerinnen und Bürger wünschen sich zum Beispiel mehr Konsequenz beim Klimaschutz, Fortschritte bei der europäischen Verteidigung, ein gerechteres und inklusiveres Europa mit mehr sozialem Miteinander. Vieles davon kann schnell umgesetzt werden. Dafür braucht es keine langwierigen Änderungen der Verträge. Dazu reichen gute Vorschläge der Kommission. Das gilt auch für viele Ideen, um die EU effizienter zu machen, wie die von uns geforderten Mehrheitsentscheidungen im Rat. Gerade hier sehe ich, dass sich in den letzten Wochen und Monaten immer mehr dieser Idee anschließen. Gut so!
Wenn die Sache es erfordert, dann können wir über eine Änderung der Verträge reden, auch über einen Konvent. Das ist kein Tabu. Wichtig aber ist, dass wir dabei größtmöglichen Konsens erzielen; denn wenn wir eines nicht brauchen in dieser Zeit, dann ist das eine kontroverse, zeit- und energieraubende Nabelschau zu institutionellen Fragen.
Das ginge auch an den Erwartungen vorbei, die die Bürgerinnen und Bürger an ein funktionierendes Europa haben. Die Zeitenwende betrifft auch Europa. Und deshalb: Ja, wir werden die EU weiterentwickeln. Genauso mutig und entschlossen wie unsere nationale Antwort wird auch unsere europäische Antwort darauf ausfallen.
Mit diesem Ziel werde ich in zehn Tagen zum Sondertreffen der Staats- und Regierungschefs nach Brüssel reisen. Deutschlands Rolle dabei ist für mich ganz klar: Als größtes Land tragen wir besondere Verantwortung für die Einigkeit der Europäischen Union. Und mehr noch: Selten zuvor war unsere Zusammenarbeit mit den wirtschaftsstarken Demokratien, den G 7, so effektiv und so intensiv wie in diesen Tagen und Wochen unter unserem Vorsitz. Deshalb blicke ich voller Zuversicht auf unser Gipfeltreffen Ende Juni in Elmau. Selten zuvor war das Transatlantische Bündnis so eng, so lebendig und so essenziell wie heute. Präsident Biden hat großen Anteil daran, und dafür bin ich sehr dankbar.
Uns alle eint ein Ziel: Russland darf diesen Krieg nicht gewinnen. Die Ukraine muss bestehen.
Darum geht es. Darum geht es bei allem, was wir tun: bei unseren Sanktionen gegen Russland, bei der Aufnahme Millionen Geflüchteter in der Europäischen Union, bei der humanitären, entwicklungspolitischen und wirtschaftlichen Unterstützung der Ukraine und, ja, auch bei der Lieferung von Waffen einschließlich schwerem Gerät.
Ich weiß: Das ist nicht unumstritten in unserem Land. Auch Sie erleben in Ihren Wahlkreisen sicher viele kontroverse Diskussionen. Sie bekommen Zuschriften von Bürgerinnen und Bürgern, die sich Sorgen machen. Mir geht es nicht anders. Manchen geht unsere Unterstützung nicht weit genug, anderen wiederum geht sie viel zu weit. Nahezu alle Bürgerinnen und Bürger eint die Sorge um den Frieden in der Ukraine, aber auch hier bei uns. Ich will daher eines ganz deutlich sagen: Einem brutal angegriffenen Land bei der Verteidigung zu helfen, darin liegt keine Eskalation, sondern ein Beitrag dazu, den Angriff abzuwehren und damit schnellstmöglich die Gewalt zu beenden.
Noch immer glaubt Putin, dass er einen Diktatfrieden herbeibomben kann. Doch er irrt sich, so wie er sich schon mit Blick auf die Entschlossenheit der Ukrainerinnen und Ukrainer und die Geschlossenheit unserer Bündnisse und Allianzen geirrt hat. Einen Diktatfrieden wird es nicht geben: weil die Ukrainerinnen und Ukrainer ihn nicht akzeptieren und wir auch nicht.
Erst wenn Putin das begreift, erst wenn er versteht, dass er die Verteidigung der Ukraine nicht brechen kann, wird er bereit sein, ernsthaft über Frieden zu verhandeln. Deshalb stärken wir der Ukraine den Rücken, auch militärisch. Wir tun das überlegt, abgewogen und international eng abgestimmt. Und es bleibt bei dem, was ich den Bürgerinnen und Bürgern am 8. Mai gesagt habe: Es wird keine deutschen Alleingänge geben. Alles, was wir tun, muss Russland mehr schaden als uns selbst und unseren Partnern. Wir unternehmen nichts, was die NATO zur Kriegspartei werden lässt. Und: Wir werden unsere eigene Verteidigungsfähigkeit sichern und stärken.
Dafür braucht die Bundeswehr das Sondervermögen von 100 Milliarden Euro. Wir sind dazu in guten Gesprächen, auch mit Ihrer Partei, lieber Herr Merz, um das Sondervermögen fest im Grundgesetz zu verankern. Dafür bin ich dankbar. Denn so bringen wir gemeinsam zum Ausdruck - Regierung und Opposition -: Wir stellen uns unserer staatspolitischen Verantwortung. Das Sondervermögen garantiert die Freiheit und Sicherheit unseres Landes in dieser schwierigen Zeit. Mehr noch: Mit dem Sondervermögen senden wir eine klare Botschaft an Freunde und Verbündete: Ja, wir meinen es ernst, wenn wir von Beistandspflicht und kollektiver Verteidigung reden.
Ja, als bevölkerungsreichste und wirtschaftsstärkste Nation Europas leistet Deutschland dazu seinen angemessenen Beitrag. Das erwarten unsere Freunde und Alliierten von uns im Rahmen der NATO-Ziele, und dazu sind wir bereit, liebe Kolleginnen und Kollegen. Denn wir wissen: Es ist diese Bereitschaft, dieses Bekenntnis, „Einer für alle und alle für einen“, das unser Transatlantisches Bündnis trägt.
Welch großen Wert diese Gewissheit hat, das zeigt der Wunsch Schwedens und Finnlands, sich der NATO anzuschließen. Und ich sage ohne jedes Zögern: Liebe Freundinnen und Freunde in Schweden und Finnland, ihr seid uns herzlich willkommen. Mit euch an unserer Seite wird die NATO, wird Europa stärker und sicherer.
Russlands Angriff auf die Ukraine hat auch viele andere Länder Europas dazu gebracht, neu über ihre Sicherheit nachzudenken. Viele investieren seither deutlich mehr in ihre Verteidigung. Oft standen dabei unsere Entscheidungen Pate. Umso wichtiger ist es, dass wir diese nun mit dem Sondervermögen umsetzen. Auf eines werden wir dabei achten: Unsere Verteidigungssysteme und unsere Investitionen müssen auch europäisch enger koordiniert und besser aufeinander abgestimmt werden.
Wir alle wissen seit Jahren um die teure und ineffiziente Vielzahl unterschiedlichster Waffensysteme in Europa. So kann es nicht weitergehen. Deshalb wollen wir unsere technologischen Möglichkeiten stärker gemeinsam nutzen und die europäische Verteidigungsindustrie enger verzahnen. Über die notwendigen Schritte werden wir beim Sondergipfel Ende des Monats beraten. Es geht um mehr Effizienz und mehr Komplementarität. Nicht zuletzt geht es angesichts der russischen Bedrohung auch darum, jetzt einen großen Schritt Richtung Zukunft zu gehen zu einer gemeinsamen europäischen Verteidigung, die eine starke Säule innerhalb der NATO bleibt.
Den Blick vorauszuwerfen, heißt auch, sich in Sachen Ukraine weiter zu unterhalten. Hoffentlich früher als später wird der Krieg enden. Schon jetzt ist klar: Der Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur, die Wiederbelebung der ukrainischen Wirtschaft, all das wird Milliarden Kosten. Daher müssen wir als Europäische Union jetzt die Vorarbeiten für einen Solidaritätsfonds beginnen, der sich aus Beiträgen der EU und unserer internationalen Partner speist. Damit werden wir den Ukrainerinnen und Ukrainern helfen, die Zerstörung zu beseitigen, die der Krieg hinterlässt, solidarisch als europäische Freunde und Nachbarn. Bereits beim Treffen der Staats- und Regierungschefs in Versailles haben wir klar gesagt: Die Ukraine ist Teil unserer europäischen Familie. Das gilt. Mit dem Solidaritätsfonds werden wir sie auf ihrem europäischen Weg unterstützen und dabei Rechtsstaatlichkeit, gute Regierungsführung und die Demokratie stärken.
Die Ukraine hat beantragt, Mitglied der Europäischen Union zu werden. Die Kommission wird vor dem Europäischen Rat voraussichtlich Ende Juni ihre Einschätzung zu dem Antrag abgeben. Und zugleich wissen wir alle: Emmanuel Macron hat recht, wenn er darauf hinweist, dass der Beitrittsprozess keine Sache von ein paar Monaten oder einigen Jahren ist. Deshalb wollen wir uns jetzt darauf konzentrieren, die Ukraine schnell und pragmatisch zu unterstützen. Über den besten Weg dafür werde ich mit meinen Kolleginnen und Kollegen beraten.
Dass es auf dem Weg in die EU keine Abkürzung gibt, ist auch ein Gebot der Fairness gegenüber den sechs Ländern des westlichen Balkans. Seit Jahren unternehmen sie intensive Reformen und bereiten sich auf den Beitritt vor. Dass wir unsere Zusagen ihnen gegenüber einhalten, ist nicht nur eine Frage unserer Glaubwürdigkeit. Heute mehr denn je liegt ihre Integration auch in unserem strategischen Interesse. Es geht nicht allein um die Sicherheit dieser Region, in der externe Kräfte um Einfluss ringen, nicht zuletzt Russland. Es geht um unsere eigene Sicherheit, die ohne einen stabilen europäischen Westbalkan nicht zu haben ist.
Daher muss auch die EU jetzt liefern gegenüber dem westlichen Balkan. Und dafür setze ich mich ein: indem ich Gespräche führe, um Fortschritte bei den Verhandlungen zu erreichen und auch innerhalb der EU die letzten Hindernisse aus dem Weg zu räumen, indem wir den sogenannten Berliner Prozess wiederbeleben, der die regionale Zusammenarbeit unter den sechs Westbalkanstaaten stärkt, und indem ich noch vor dem Europäischen Rat im Juni in die Region reise, mit der klaren Botschaft im Gepäck: Der westliche Balkan gehört in die Europäische Union.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein weiteres Thema wird uns bei unserem Gipfel in zehn Tagen intensiv beschäftigen, und auch viele Bürgerinnen und Bürger treibt es um. Es geht um die Sicherheit und Unabhängigkeit unserer Energieversorgung. Es geht um bezahlbare Energie. Beides müssen wir gewährleisten, national und europäisch. Und sowohl national wie auch europäisch behalten wir eines immer im Blick: dass der von Russland verschuldete Preisanstieg niemanden überfordert. Wir lassen niemanden allein!
Das gilt ganz besonders für die Bürgerinnen und Bürger mit kleinem und mittlerem Einkommen. Sie spüren tagtäglich, dass durch den Krieg nicht nur der Sprit an der Zapfsäule teurer geworden ist, sondern auch Lebensmittel, vom Brot bis zum Speiseöl. Und auch Betriebe, die unter den Energiepreisen leiden und denen ihr Russland-Geschäft weggebrochen ist, können sich auf unsere Unterstützung verlassen.
Dafür stehen die beiden Entlastungspakete, die wir schon beschlossen haben und die in den nächsten Wochen wirken: die Abschaffung der EEG-Umlage; die Energiepauschale von 300 Euro; die Zuschüsse für Familien, Wohngeldempfänger, Studierende und Sozialleistungsempfänger; die Entlastungen beim Tanken; das 9-Euro-Ticket als Anreiz, stärker den öffentlichen Nahverkehr zu nutzen - all das kommt den Bürgerinnen und Bürger zugute: direkt, schnell und zielgerichtet.
Und für die Unterstützung dieser Maßnahmen durch den Bundestag sage ich herzlichen Dank.
Auf europäischer Ebene geht es vor allem darum, sicherzustellen, dass es keine Engpässe bei der Energieversorgung in einzelnen Mitgliedstaaten gibt. Das ist ein Gebot europäischer Solidarität. Teil einer europäischen Lösung ist daher auch der Ausbau der transeuropäischen Energienetze. Mittel- und langfristig bleibt der einzig vernünftige Weg, die einzig vernünftige Antwort auf die derzeitigen Probleme am Energiemarkt, dass wir uns unabhängig machen von fossiler Energie.
Dass wir dabei gemeinsam vorankommen in Europa, hat mein gestriges Treffen mit meinen Kolleginnen und Kollegen aus Dänemark, den Niederlanden, Belgien und Kommissionspräsidentin von der Leyen im dänischen Esbjerg gezeigt. Wirtschaftsminister Robert Habeck und ich haben mit unseren Kolleginnen und Kollegen vereinbart, die Gewinnung und Nutzung von Windenergie in der Nordsee gemeinsam noch stärker voranzutreiben. Die Kommissionspräsidentin hat dabei ihre Vorschläge erläutert, um Europa unabhängiger von fossilen Energieimporten aus Russland zu machen und den Übergang zu Klimaneutralität voranzubringen. Das ist eine wichtige Initiative der Kommission.
Wir werden uns die Vorschläge jetzt rasch ansehen und darüber beim Außerordentlichen Europäischen Rat beraten. Wir wollen, dass davon Impulse ausgehen zur Beschleunigung des Ausbaus der erneuerbaren Energien, für mehr Energieeffizienz und für die industrielle Transformation.
Auch das „Fit for 55“-Paket der EU spielt hier eine entscheidende Rolle. Es muss vollständig verabschiedet werden, so schnell wie möglich. Unser Ziel ist klar: Wir wollen und wir werden die Souveränität Europas auch in Energiefragen erhöhen und Europas Klimaziele erreichen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht nur an dieser Stelle zeigt sich, wie tiefgreifend die Folgen des russischen Krieges sind, weit über die Sicherheitspolitik hinaus: bei der Energieversorgung, bei den Rohstoffpreisen, bei der weltweiten Versorgung mit Nahrungsmitteln - viele Länder in der Welt müssen sich Sorgen machen, wie das weitergeht angesichts des Kriegs in der Ukraine - und in vielen anderen Bereichen unseres Lebens.
Ich habe daher schon zu Beginn des russischen Angriffs gesagt: Die Folgen dieses Krieges treffen auch uns. Und zugleich bin ich fest davon überzeugt: Wir werden die Folgen bewältigen, hier bei uns in Europa und auch weltweit, weil wir ein starkes Land sind mit starken Partnern und Allianzen, vor allem aber, weil wir wissen, was wir verteidigen: Frieden, Freiheit und Recht.
Schönen Dank.