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20.03.2009

Die Arbeitsbeziehungen stehen vor neuen Herausforderungen

Rede von Olaf Scholz beim 7. Hans-Böckler-Forums zum Arbeits- und Sozialrecht in Berlin

 

Liebe Heide Pfarr,
sehr geehrte Damen und Herren,

heute jährt sich der Geburtstag von Henrik Ibsen, der sich auf seine Weise intensiv mit den gesellschaftlichen Veränderungen seiner Zeit - gerade auch mit den Veränderungen der Arbeitswelt beschäftigt hat. Sein Drama "Die Stützen der Gesellschaft", mit dem er im Deutschland des 19. Jahrhunderts seinen Durchbruch schaffte, beginnt mit der Zurechtweisung des Schiffsbaumeisters Aune durch den Prokuristen Krap: Ihm wird vorgeworfen, er spreche als Obmann des Arbeitervereins zu viel über den Schaden, der durch Maschinen und eine neue Arbeitspraxis auf der Werft entsteht. Er verteidigt sich: "Das tue ich, um die Gesellschaft zu stützen." Der Prokurist aber entgegnet: "Merkwürdig! Der Konsul sagt, es wirke auflösend auf die Gesellschaft."

Wir wissen heute: Der Konsul hatte Unrecht. Das Arbeitsrecht ist unverzichtbar geworden für den Zusammenhalt der modernen Gesellschaft. Es schafft den Ausgleich zwischen wirtschaftlichen und sozialen Interessen, ohne den Fortschritt in keinem Lebensbereich möglich wäre. Es verteilt Verhandlungsmacht so, dass die Organisation gesellschaftlicher Solidarität möglich wird.

Die Gesellschaft und mit ihr die Arbeitsbeziehungen sind in ständiger Bewegung. Mit diesen Veränderungen muss auch das Arbeitsrecht Schritt halten, wenn es das soziale Gleichgewicht zwischen Unternehmen und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern erhalten soll.

Auch heute stehen die Arbeitsbeziehungen wieder vor grundlegend neuen Herausforderungen. Umbrüche in der Gesellschaft führen zu Umbrüchen in der Arbeitswelt. Im Kern führt das dazu, dass vermeintliche Gewissheiten weg brechen. Orientierungsmarken, die die Bürgerinnen und Bürger bisher durch das Arbeitsleben geleitet haben, fehlen plötzlich. Das führt zu gefühlten und tatsächlichen Unsicherheiten, auf die auch das Arbeitsrecht reagieren muss.

Und dabei geht es nicht nur um die derzeitige weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise. Sie ist zwar zum Teil Symptom dieser Entwicklungen. Ihr Auslöser war allerdings die maßlose Gier einiger Hasardeure an den Börsen und in den Banken. Das einzige, was wir derzeit über die Krise sicher sagen können, ist, dass wir sie - hoffentlich möglichst bald - überwinden werden. Und wir haben alles dafür getan, dass das möglichst schnell passiert.

Die Zahlen der Bundesagentur für Arbeit der letzten beiden Monate haben leider dennoch unsere Befürchtungen bestätigt: Die Krise hat unser Land mit Wucht erreicht und schlägt sich spätestens seit Beginn des Jahres auch auf die Beschäftigung durch.
Deswegen ist es nicht mit der Stützung der Finanzwirtschaft getan. Es gilt, so viele wie möglich in Beschäftigung zu halten - auch damit die Unternehmen gleich wieder durchstarten können, wenn es wieder aufwärts geht.

Mit zwei Konjunkturpaketen - mit insgesamt 80 Milliarden Euro - stemmen wir uns dem Abschwung entgegen. Zum einen stärken wir private Nachfrage und investieren in Bildung und Infrastruktur.
Und wir helfen mit allen verfügbaren Mitteln, Entlassungen zu vermeiden. Dafür haben wir rechtzeitig - schon deutlich bevor die Krise den Arbeitsmarkt erreicht hatte - die Möglichkeit des Bezugs von Kurzarbeitergeld verlängert.

Wir haben Kurzarbeit für die Betriebe finanziell attraktiver gemacht: Die Bundesagentur für Arbeit übernimmt die Hälfte der Sozialversicherungsbeiträge und im Falle gleichzeitiger Qualifizierung sogar die vollen Beiträge. Und wir haben die Beantragung von Kurzarbeit wesentlich vereinfacht. Gleichzeitig haben wir die Förderung von Qualifizierungen - auch während der Kurzarbeit - massiv ausgebaut. Das ist eine Chance für die Unternehmen, gestärkt, mit noch besser qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus der Flaute hervorzugehen. Wir haben so eine Brücke über die Krise gebaut. Wir fordern alle auf: Entlasst Eure Leute nicht! Geht gemeinsam mit Euren bewährten, eingearbeiteten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern über diese Brücke! Wir tun im Gegenzug alles dafür, dass das für Euch auch wirtschaftlich darstellbar ist.
Die Unternehmen nehmen dieses Angebot in großem Maße an. Sicher auch, weil Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter von Beginn an in die Gespräche über die Konzeption der Regelungen eingebunden waren und wir gemeinsam ausgelotet haben, was in der jetzigen Situation nötig ist.

Sehr geehrte Damen und Herren,

die neuen Unsicherheiten in der Arbeitswelt weisen jedoch weit über die aktuelle Krise hinaus. Es geht um langfristige Entwicklungen, die ihre Gültigkeit behaupten werden, wenn die Weltwirtschaft schon längst wieder Tritt gefasst hat. Auch ganz unabhängig von der Krise ist es Aufgabe der Politik, mit klugen Regelungen neues Vertrauen zu schaffen, wo sich Unsicherheiten Bahn brechen. Was sind also die Herausforderungen, denen sich die Arbeitsbeziehungen zu stellen haben?

Es gibt drei grundlegende Entwicklungen, die sich gegenseitig beeinflussen und verstärken und auf die die Arbeitspolitik reagieren muss:
Das sind:

    * Eine sich langsam aber stetig verändernde Altersstruktur,
    * Veränderungen der Beziehungen und Strukturen in unserer Gesellschaft
    * und eine weiter voranschreitende internationale Vernetzung allen wirtschaftlichen Handelns.

Es geht also erstens darum, dass wir immer länger leben und auch länger leistungsfähig bleiben. Gleichzeitig verlassen immer weniger junge Bürgerinnen und Bürger die Schulen und Universitäten.
Das heißt, wenn alles beim Alten bliebe, werden in Zukunft weniger Bürgerinnen und Bürger auf dem Arbeitsmarkt sein. Ohne ausreichend gut ausgebildete Fachkräfte ist aber in unserem Land kein wirtschaftlicher Erfolg zu erreichen: Die Arbeitswelt wird immer spezialisierter.

Die hochqualifizierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind in dieser Welt unser größter Standortvorteil. Wir können schon jetzt auf keinen verzichten: Nicht auf das Wissen und Können der Älteren und nicht auf die Potenziale der Jüngeren. Auf die Initiative der Frauen, die immer noch längst nicht überall gleiche Chancen haben, genauso wenig wie auf die Leistungsfähigkeit der Migrantinnen und Migranten in unserem Land.

Wenn wir über Arbeitsmarktpolitik reden, gehört es deshalb dazu, dass wir uns auch Gedanken über eine kluge Bildungspolitik machen. Es geht um gute Bildung von Anfang an. Das geht los mit dem Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz, setzt sich fort in den Schulen, die wir in Schuss halten müssen und geht bis zur beruflichen Ausbildung oder zum Studium. Wir können es uns als Gesellschaft nicht leisten, auf diesem Weg auch nur ein Talent ungefördert zu lassen. Wir dürfen nicht weiter zulassen, dass 80.000 Schülerinnen und Schüler im Jahr die Schule ohne Abschluss verlassen. Letztlich muss es unser Ziel sein, dass ohne Ausnahme jeder und jede entweder eine abgeschlossene Ausbildung oder ein Abitur als Eintrittskarte in das Berufsleben hat. Wir sind noch viel zu weit vom Ziel entfernt, aber wir sind auf dem richtigen Weg.

Wir müssen vor allem auch Möglichkeiten für junge Leute finden, die nicht auf Anhieb einen Ausbildungsplatz finden. Es gibt hier schon gute Projekte, die Startschwierigkeiten überwinden helfen und gezielt auf die Ausbildung vorbereiten. Wir müssen uns in Zukunft dringend um eine bessere Durchlässigkeit der Bildungswege kümmern. Es ist z. B. nicht einzusehen, warum man als Meister oder mit entsprechender Berufserfahrung nicht auch ein Studium aufnehmen kann.

Anschließend,
sehr geehrte Damen und Herren,

müssen wir die Arbeit in unserer Gesellschaft so organisieren, dass die Potenziale der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vom Anfang bis zum Ende des Berufsleben erhalten und genutzt werden. Dazu gehört, dass die Beschäftigten sich ein Leben lang um ihre Kompetenzen und ihr Wissen kümmern. Und dass sich die Unternehmen entsprechend für Fort- und Weiterbildung engagieren. Wir unterstützen solche Bemühungen massiv - nicht nur in der Krise: mit dem Programm WeGebAU für An- und Ungelernte sowie ältere Beschäftigte, sowie mit einem speziellen Fokus auf Angebote für über 25-Jährige ohne Berufsabschluss. Wir brauchen eine deutlich verbesserte Förderung der Weiterbildung. Jeder Arbeitnehmer muss das Recht haben, seine hart erarbeiteten Qualifikationen zu bewahren oder auszuweiten. Politik kann und muss dafür den Rahmen setzen.

Sehr geehrte Damen und Herren,

Wir brauchen insgesamt eine "Neue Kultur der Arbeit", die den Bedürfnissen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, aber auch von Unternehmen in der heutigen Arbeitswelt gerecht wird. Was steckt dahinter? Die Forderung nach altersgerechten Arbeitsbedingungen gehört schon fast zum Allgemeingut. Noch wichtiger sind aber alternsgerechte Arbeitsbedingungen. Die Arbeitsbedingungen müssen so ausgestaltet werden, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auch wirklich bis zur Rente arbeiten können und wollen.

Wir wissen heute, dass die Unternehmen am erfolgreichsten sind,

    * die in ihre Beschäftigten und deren Fähigkeiten investieren
    * und die sich um Gesundheit und Wohlbefinden ihrer Beschäftigten kümmern.

Ich habe deshalb eine Projektgruppe "Für eine neue Kultur der Arbeit" ins Leben gerufen. Gemeinsam mit der Wirtschaft und den Gewerkschaften werden wir ein Aktionsprogramm "Zukunft durch Arbeit" erarbeiten, um die größtenteils schon bekannten Lösungsansätze in eine größere Öffentlichkeit zu tragen und in den Unternehmen zu etablieren

Sehr geehrte Damen und Herren,

ein weiterer wichtiger Schritt hin zu einer partnerschaftlichen Unternehmensführung war auch, dass wir den Weg für eine bessere Mitarbeiterkapitalbeteiligung frei gemacht haben. Wenn die Beschäftigten einen fairen Anteil am Erfolg des Unternehmens erhalten, wird sich das Unternehmen auf der anderen Seite auch der Loyalität seiner Beschäftigten noch sicherer sein können: Entsprechend motivierte Mitarbeiter werden leichter im Unternehmen zu halten sein - auch in turbulenten Zeiten.

Zweitens muss die Arbeitswelt auf gesellschaftliche Veränderungen reagieren:
Die Art, wie wir unser Zusammenleben organisieren, aber auch unser Selbstverständnis als Individuen, wirken sich auf die Arbeitsbeziehungen aus. Die Zeit eines einheitlichen Familienmodells, das auf klar getrennten Rollen und einem Alleinverdiener basierte, ist lange passé. Gut so! Gleichzeitig haben wir uns von einem Lebenslauf verabschiedet, in dem sich Ausbildung, Erwerbsleben und Rente in immer gleicher Folge aneinander reihen. Unser Arbeitsleben wird zunehmend durch Familienzeiten - zur Kindererziehung oder zur Pflege von Angehörigen - unterbrochen. Es ist eine gute Entwicklung, dass sich endlich auch immer stärker beide Geschlechter daran beteiligen.

Längere Zeiten von Weiterbildung werden notwendig in einer Arbeitswelt, die sich technologisch rasant entwickelt. Immer mehr Bürgerinnen und Bürger wechseln im Laufe ihres Berufslebens von abhängiger Beschäftigung in die Selbstständigkeit, von der Privatwirtschaft in den öffentlichen Dienst oder möchten sich eine Auszeit in Form eines Sabbaticals nehmen, um neue Erfahrungen zu sammeln und um Energie für die Herausforderungen eines anspruchsvollen Berufs zu tanken. Vieles von dem soll und wird in Zukunft noch zunehmen.

Das Bedürfnis nach Flexibilität ist zum einen die sachliche Beschreibung einer Eigenschaft vieler Arbeitsplätze. Es ist aber auch ein Bedürfnis der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer selbst, die ihr Leben am Arbeitsplatz und im Privaten möglichst gut vereinbaren wollen. Voraussetzung dafür ist zunächst, dass ein souveräner Umgang mit Arbeitszeit überhaupt möglich ist.

Es existieren auch heute bereits eine Reihe von Möglichkeiten für berufliche Auszeiten: Die Elternzeit, landesrechtlich abgesicherte Bildungsurlaube oder der gesetzliche Anspruch auf Teilzeitarbeit.

Wir sind letztes Jahr noch einen deutlich größeren Schritt gegangen, indem wir Lebensarbeitszeitkonten gesetzlich abgesichert haben. Erst damit wird eine individuelle Planung möglich - und zwar über das gesamte Berufsleben hinweg und unabhängig vom möglicherweise wechselnden Arbeitgeber: Man kann zum einen Guthaben ansparen und es dann später für mehr Zeit in der Familie einsetzen oder um sich durch Fortbildungen und neue Qualifikationen beruflich weiterzuentwickeln. Genauso ist es aber auch möglich, sein Konto quasi zu "überziehen", wenn zum Beispiel der Nachwuchs kommt - und dann anschließend das Saldo wieder auszugleichen.

Eine solche Regelung ist im Übrigen auch dringend geboten, damit es überhaupt möglich wird, in einer älter werdenden Gesellschaft in Zukunft auch länger zu arbeiten. Es ist ein weiterer wichtiger Baustein, um Arbeit so zu organisieren, dass sie sich mit dem sonstigen Leben gut vereinbaren lässt. Dieses Projekt kann zu einer der großen arbeitspolitischen Errungenschaften dieser Regierung werden. Wir setzen damit die Keimzelle einer vollkommen neuen Arbeitskultur: Ein Langzeitkonto, auf das sich die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verlassen können, wird mittelfristig zu einer Selbstverständlichkeit wie der Sozialversicherungsausweis werden.

Sehr geehrte Damen und Herren,

zur Frage der gesellschaftlichen Veränderungen gehört auch, dass leider manches noch nicht so weit ist, wie wir uns das wünschen: Heute ist nicht nur der Geburtstag eines schreibenden Vorkämpfers weiblicher Emanzipation, der schon Ende des 19. Jahrhunderts mit seinen Stücken Aufruhr hervorrief: Indem er - die Rede ist natürlich nach wie vor von Henrik Ibsen - in seinen Stücken Frauen porträtierte, die sich aus den tradierten Zwängen ihrer gesellschaftlichen Rolle befreiten.

Es gibt auch einen ganz aktuellen Anlass, sich Gedanken zur Überwindung der immer noch bestehenden Lohnlücke zwischen Frauen und Männern zu machen: Heute ist auch der zweite Equal Pay Day in Deutschland.

Zurzeit verdienen Frauen in Deutschland 23% weniger als Männer. Schaut man sich nur das Einkommen von vollzeitbeschäftigten Frauen und Männer im gleichen Alter, mit gleicher Ausbildung und im gleichen Betrieb und Beruf an, dann beträgt die Lohnlücke immer noch 12%. Sie ist viel zu groß. Wir müssen diese Lücke beseitigen. Ich will hier ganz klar sein: Öffentliche Appelle bei hübschen Presseterminen und anschließende freiwillige Lösungen alleine reichen dazu nicht aus. Wir brauchen daher einen verbindlichen, rechtlichen Rahmen, der es Frauen und Betriebsräten ermöglicht, gegen Lohndiskriminierung vorzugehen. Ich sehe zwei große Handlungsfelder.

Erstens: Noch immer arbeiten viel mehr Frauen als Männer im Niedriglohnbereich. 30 Prozent der Frauen und 13 Prozent der Männer - um es präzise zu machen. Ein guter Teil der Lohnlücke kommt daher. Mit Mindestlöhnen - wie bei den Gebäudereinigern - können wir hier eine Menge machen. Am besten wäre natürlich ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn. Die britische Low Pay Commission hat ausgerechnet, dass sich die Lohnlücke im Großbritannien zwischen Frauen und Männer durch die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns von 16,1 % innerhalb von neun Jahren auf 10,8 % (2006) reduziert hat. Wenn wir uns in den letzten Jahren so für Mindestlöhne eingesetzt haben, dann ist das auch ein Beitrag zur geschlechtergerechten Entlohnung. Da mir das Thema Mindestlohn auch in anderem Zusammenhang wichtig ist, werde ich gleich noch einmal kurz darauf zurückkommen.

Sehr geehrte Damen und Herren,

das zweite große Feld ist die Lohndiskriminierung bei vergleichbaren Arbeits- und Karriereverhältnissen, wenn also in einem Betrieb ein Mann und eine Frau nebeneinander her die gleiche Arbeit erledigen, dafür aber unterschiedlich entlohnt werden. Es ist natürlich gut, wenn es Methoden und auch konkret programmierte Angebote gibt, mit denen man messen kann, ob das der Fall ist. Aber wir brauchen hier Verbindlichkeit. Wir brauchen rechtliche Rahmenbedingungen, mit denen eine gerechte Bezahlung eingeklagt werden kann.

Dass Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz bietet dazu erste Möglichkeiten. Darauf können wir aufbauen.
Ich schlage vor, dass wir eine "Entgeltgleichheitsstelle" einrichten, also eine Art Kompetenzzentrum bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes für Fragen geschlechtergerechter Entlohnung. Diese Stelle soll Lohnmessungen bei Unternehmen veranlassen können, um erste Indizien zu sammeln, ob im konkreten Einzelfall ungerecht bezahlt wird. Gleichzeitig sollen Betriebsräte das Recht erhalten, vom Arbeitgeber eine statistische Diagnose darüber zu verlangen, ob die Löhne im Unternehmen gerecht sind. Einen Rahmen dafür bieten die Überwachungspflichten und -rechte, die der Betriebsrat nach dem Betriebsverfassungsgesetz hat. Zusätzlich muss im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz die Möglichkeit der Zusammenarbeit des Betriebsrats mit dem Kompetenzzentrum der Antidiskriminierungsstelle verankert werden. Damit können wir die bereits heute bestehenden individuellen Rechte der betroffenen Frauen bei einem Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot effektiv erweitern.

Ein weiteres Instrument, mit dem wir für gerechte Löhne für Frauen und Männer sorgen können, ist das Vergaberecht. Mit dem Gesetz zur Modernisierung des Vergaberechts wird es möglich sein, soziale Kriterien für die Ausführung eines öffentlichen Auftrages zu formulieren. In diesem Zusammenhang können wir auch die Entgeltgleichheit von Frauen und Männern bei der Auftragsausführung verbindlich vorschreiben. Es sollte selbstverständlich sein, dass die öffentliche Hand davon umfassend Gebraucht macht. Mit diesen Instrumenten können wir verbindlich daran arbeiten die Lohnlücke zu schließen.

Wenn wir weiter nur auf den guten Willen der Beteiligten warten, dann werden wir nicht vorankommen. Wir sind in Deutschland gut damit gefahren, unserer Sozialen Marktwirtschaft klare rechtliche Regeln zum sozialen Ausgleich zugrunde zu legen. Nicht weniger haben auch die Frauen verdient, denen im Arbeitsleben immer noch Ungerechtigkeit wiederfährt.

Sehr geehrte Damen und Herren,

Auch die Diskussion um die Verbesserung des Arbeitnehmerdatenschutzes ist letztlich Folge sozialer Veränderungen:
Wir haben uns daran gewöhnt, dass wir mit alltäglichen Handlungen ständig Datenspuren hinterlassen - beim Telefonieren, beim bargeldlosen Einkauf, beim Schreiben von E-Mails, im Internet oder wenn wir uns in überwachten Räumen bewegen. Wir möchten die Vorteile, die die rasante Entwicklung der Informations- und Datentechnik gebracht hat, nicht mehr missen. Die öffentlich gewordenen Exzesse haben uns aber vor Augen geführt, dass die feine Linie zwischen legitimen Informationsinteressen und dem Schutz von Privatheit schnell überschritten ist. Noch dazu in einem so sensiblen Bereich wie dem Arbeitsrecht: Wer seinen Job nicht aufs Spiel setzen will, hat dort keine Möglichkeit, dem Datenmissbrauch zu entgehen. Es geht dabei also auch um akzeptable Arbeitsbedingungen. Wenn Toiletten von Mitarbeitern überwacht werden oder zur Korruptionsbekämpfung umfassende Profile eines Eisenbahnschaffners erstellt werden, geht das zu weit.

Ein Raum geschützter Privatheit ist das natürliche Recht jedes Menschen. Eine lückenlose Überwachung darf es deshalb in keinem Lebensbereich geben. Vieles von dem, was in letzter Zeit an Grenzüberschreitungen bekannt geworden ist, war auch nach geltender Rechtslage nicht in Ordnung.

Die ist aber sehr unübersichtlich. So unübersichtlich, dass ein Betroffener kaum herausfinden kann, ob eine konkrete Maßnahme rechtmäßig ist oder nicht. Eine kluge Balance zwischen dem Selbstbestimmungsrecht der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und dem berechtigten Informationsinteresse von Arbeitgebern braucht klarere Grenzziehungen.

Ich setze mich deshalb dafür ein, dass wir ein einheitliches Arbeitnehmerdatenschutzgesetz auf den Weg bringen. Wir müssen mehr Transparenz schaffen, indem wir die vorhandenen Regeln zusammenfassen, Konturen schärfen und Lücken schließen. Damit klar wird, woran man sich zu halten hat.
Das geht nicht von heute auf morgen. Aber ich werde darauf drängen, dass wir noch vor der Bundestagswahl einen Gesetzentwurf vorliegen haben, der dann nach der Wahl zügig umgesetzt werden kann.

Sehr geehrte Damen und Herren,

Drittens muss sich die Arbeitswelt auf eine immer stärker voranschreitende weltweite Vernetzung der Wirtschaftsbeziehungen einstellen. Deutschland ist bekanntlich eines der Länder, die bislang am stärksten von der Globalisierung profitiert haben. Der leichtere Zugang zu den Märkten der Welt hat unseren Unternehmen große Gewinne beschert. Der Einfluss internationaler Wirtschaftsstrukturen birgt aber an mancher Stelle auch die Gefahr, über viele Jahrzehnte gewachsene soziale Strukturen zu beschädigen.

So ist es auch eine Folge des globalen Wettbewerbs, dass wir es in Deutschland mit einer zunehmend differenzierten - andere würden sagen: zersplitterten - Tariflandschaft zu tun haben.

Mit den derzeitigen Strukturen sind die Tarifparteien nicht mehr in allen Bereichen in der Lage, vernünftige Arbeitsbedingungen und -vergütungen auszuhandeln. Hier gilt es, die Tarifautonomie wieder zu stärken. Wir müssen den Arbeitnehmervertretern wieder ausreichend Spielräume verschaffen, um überall würdige Arbeitsbedingungen vereinbaren zu können.

Dazu gehört auch die Schaffung von Mindestlöhnen. In manchen Bereichen unserer Wirtschaft machen sie einen fairen Wettbewerb über Qualität und Produktivität erst wieder möglich. Gleichzeitig werden unsere Unternehmen ab 2011 weitere Mitbewerber aus den neuen EU-Ländern bekommen.  Wettbewerbskommissar Spidla und Industriekommissar Verheugen haben uns bereits gemahnt, mit Mindestlöhnen die notwendigen Vorbereitungen zu treffen. Durch die Aufnahme sechs weiterer Branchen ins Arbeitnehmerentsendegesetz und durch die Verabschiedung des neuen Mindestarbeitsbedingungengesetzes sind wir in dieser Legislatur schon ein gutes Stück vorangekommen.

Zusätzlich haben wir im Rahmen des zweiten Konjunkturpakets in der Koalition verabredet, für Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer eine Lohnuntergrenze im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz festzuschreiben, die die Tarifautonomie wahrt. Ich hoffe, dass wir da auch noch eine Lösung hinbekommen. Ich werde dem Koalitionspartner bald den - inzwischen sechsten - Vorschlag vorlegen, wie man das regeln könnte. Was jedenfalls nicht geht, ist den niedrigsten Tariflohn einer kleinen Gewerkschaft festzuschreiben, die nur einen kleinen Bruchteil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Bereich vertritt. Das hieße das Pferd vom Schwanz aufzuzäumen. Denn es soll ja gerade dem Wettbewerb um den niedrigsten Lohn Einhalt geboten werden. Letztlich muss es unser Ziel bleiben, einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn zu etablieren. Der ist bedeutend weniger kompliziert und schützt nicht nur einige. Die Einsicht wächst - und solange gehen wir Schritt für Schritt voran.

Sehr geehrte Damen und Herren,

die europäische Einigung hat uns ein nie dagewesenes Maß an Freiheit auf unserem Kontinent gebracht. Sie hat gleichzeitig die Voraussetzungen für steigenden Wohlstand geschaffen. Die Europäische Union ist eine große Chance, Globalisierung für die Bürgerinnen und Bürger positiv zu gestalten. Wir haben erlebt, wie sich Unternehmen durch Abwanderung oder Annahme ausländischer Rechtsformen vor unliebsamen Mitspracherechten der Beschäftigten drücken konnten. Das können wir in Europa in Zukunft verhindern. Ein soziales Europa wird auch die Mitbestimmung in unseren Betrieben wieder stärken. Die langsame Erosion eines schützenden Walls durch Wind und Wetter nimmt man kaum wahr. Man hat sich lange an ihn gewöhnt und nimmt ihn für selbstverständlich. Wo man ihn - auch gegen Widerstände - neu aufschütten muss, da wird einem erst bewusst, wie wichtig er ist. Dass wir Arbeitnehmerrechte auf europäischer Ebene zum Teil neu erstreiten müssen, führt uns ihren Wert neu vor Augen. Das kann auch die Diskussion bei uns in Deutschland wieder auf die richtige Spur bringen. Ich bin froh, dass wir klare Regeln über die Mitbestimmung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Europäischen Gesellschaft und der Europäischen Genossenschaft und anderswo verankert haben.

Jetzt gilt es, auch beim Statut der Europäischen Privatgesellschaft, einer Art europäischen GmbH, keinen Rückschritt zu machen. Und es fehlt immer noch eine Sitzverlegungsrichtlinie, um den Schutz der Mitbestimmung zu komplettieren.

Sehr geehrte Damen und Herren,

die Europäische Union wurde historisch auf dem Fundament der wirtschaftlichen Grundfreiheiten aufgebaut. Inzwischen haben wir erkannt, dass wirtschaftlicher und sozialer Fortschritt Hand in Hand gehen müssen, wenn wir einen friedlichen und stabilen Raum der Freiheit garantieren wollen. Deswegen haben alle ein Interesse daran, dass der Vertrag von Lissabon bald ein Erfolg wird: Damit soziale und wirtschaftliche Rechte auch formal gleichberechtigt im grundlegenden Text der EU verankert sind. Wir brauchen ein grundrechtliches Gegengewicht der Arbeitnehmerrechte gegenüber den wirtschaftlichen Grundfreiheiten.

Das wird es auch dem EuGH leichter machen, im Einzelfall einen klugen Ausgleich zwischen freiem Markt und Arbeitnehmerrechten zu finden. Wir haben ihn - das zeigen einige jüngere Urteile - bei der Suche nach Grundrechten zu lang allein gelassen. Es ist dringend an der Zeit, dass wir den Bürgerinnen und Bürgern in Europa neben den wirtschaftlichen Grundfreiheiten gleichberechtigte soziale Grundrechte im Vertrag über die Europäische Union an die Hand geben. An ihnen können sich auch die Richter orientieren, wenn sie Fragen des Streikrechts oder der Tariftreue abwägen müssen.

Sehr geehrte Damen und Herren,

zum Schluss noch ein kurzes Wort zu einer Idee, die uns Arbeitsrechtler schon lange beschäftigt: Warum schaffen wir nicht endlich ein einheitliches Arbeitsvertragsgesetzbuch, das die verstreuten Normen und die Grundsätze der Rechtsprechung an einer Stelle übersichtlich zusammenfasst? Ich hege viel Sympathie für ein solches Vorhaben. Wie ich schon zum Arbeitnehmerdatenschutz gesagt habe, bin ich der Überzeugung, dass eine übersichtliche Rechtsetzung nicht nur anwender- und bürgerfreundlich ist, sondern dem Recht selbst auch zu mehr Wirkungskraft verhilft.

Das Projekt ist jedoch komplex und hoch sensibel. Es wird nur gelingen, wenn sich alle relevanten Kräfte einig sind und keiner versucht, es als Hintertür zur Durchsetzung lang gehegter Forderungen zu missbrauchen - und zwar egal, ob es um Lockerungen des Kündigungsschutzes oder um Verbesserungen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geht. Bevor sich die Sozialpartner nicht einig sind, hilft ausnahmsweise auch der Handlungswille der Politik nicht weiter.

Ich habe letzten Oktober bei einer Rede in Frankfurt gesagt, ich würde mir wünschen, in nicht allzu ferner Zukunft zur Schlussredaktion eines solchen Gesetzbuches nach Hattenheim einzuladen. Dort wurde 1950 von den Sozialpartnern auf einer gemeinsamen Klausur das Kündigungsschutzgesetz geschrieben. Diesen Wunsch habe ich noch lange nicht aufgegeben!

Sehr geehrte Damen und Herren,

wenn man manchen Reden in den letzten Jahren zuhörte, bekam man den Eindruck, dass sich in einigen Köpfen nicht viel geändert hat, seitdem Ibsen im 19. Jahrhundert das Verhältnis zwischen dem Schiffsbaumeister Aune und seinem Arbeitgeber, dem Konsul Bernick beschrieb. Jetzt zeigt sich in dramatischer Weise: Der wirtschaftsliberale Ruf nach dem freien Unternehmertum, das möglichst autark über seine Regeln entscheidet, führt in die Irre. Das haben inzwischen sogar die Marktradikalen begriffen, die zum Teil am lautesten nach einem staatlichen Ordnungsrahmen rufen. Der ist ohne Frage wichtig. Und zwar vor allem, um etwas noch wichtigeres zu ermöglichen: Nämlich, dass sich Aune und der Konsul zusammensetzen und dass sie gemeinsam auf Augenhöhe nach Lösungen in einer sich ändernden Arbeitswelt suchen.

Die Krise ist eine Chance zur Stärkung und Reaktivierung der Sozialpartnerschaft in Deutschland.

Wir müssen sie unbedingt ergreifen - dann bekommen wir noch sehr viel mehr hin für eine gute Zukunft als ein Arbeitsvertragsgesetzbuch!

 

 

Auf der Internetseite des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales können Sie sich diesen Text auch anhören.