"Die Europäische Union ist unser Garant für Frieden und Sicherheit" Gastbeitrag für die Fachzeitschrift "Sicherheit und Frieden"
Was gegenwärtig in Syrien und Irak passiert, erinnert stark an den Dreißigjährigen Krieg: Hunderttausende Tote, Millionen von Menschen auf der Flucht vor Krieg, Gewalt und Vertreibung. Die Konferenz der Konfliktparteien in Wien mag ein kleiner Lichtblick sein, doch eine schnelle Befriedung der Situation ist erstmal nicht zu erwarten.
Die Folgen spüren alle: Millionen von Flüchtlinge haben sich auf den Weg gemacht, um Schutz und Sicherheit zu finden. Sie fliehen vor politischer oder religiöser Verfolgung, sie fliehen vor Krieg und sie klopfen an unsere Tür. Mögen darunter auch manche sein, die vor allem auf der Suche nach einem besseren Leben kommen und wieder gehen müssen, so ist doch abzusehen, dass das Gros der Flüchtlinge auf absehbare Zeit bei uns bleiben können wird.
Die aktuellen Flüchtlingsströme belegen, dass man an keinem Ort des Planeten die Augen verschließen kann vor den Problemen der Welt. Und dass kein Staat mehr allein in der Lage ist, diese Probleme zu lösen. Auf unserem Kontinent haben wir die Antwort auf diese Herausforderung längst gefunden: das europäische Einigungsprojekt.
Das moderne Europa findet sich in den Verträgen von Rom, von Maastricht und von Lissabon. Ein Europa, das nach Jahrhunderten von Feindschaft und Krieg zu Stabilität, Frieden und Wohlstand gefunden hat. Ein Europa, das ein jahrhundertelanges Ringen um Dominanz und Balance der Mächte durchleiden musste. Ein Europa, das sich schließlich in der Europäischen Union zusammenfand, die als Friedensprojekt funktioniert, obwohl sie Gegenstand unermüdlicher Kritik und Streitereien ist. Ich könnte so vieles nennen, was mich an Europa verbittert, sagt beispielsweise Navid Kermani. Dennoch wüsste ich kein Land und keinen Kontinent, der mir heute besser vorkäme als Europa: gerechter, toleranter, sicherer.
Gerade Deutschland profitiert von der europäischen Einigung, weil sie nicht nur die deutsche Einheit ermöglichte, sondern den Nachbarn die ewige Sorge vor diesem wirtschaftlich starken und bevölkerungsreichen Land im Herzen Europas nehmen konnte. Deshalb trägt die Bundesrepublik eine besondere Verantwortung für Europa und kann sich kein instrumentelles Verhältnis zur EU leisten, sondern muss sich mit vollem Einsatz um die Union bemühen. Dazu gehört vor allem, Kompromisse zu ermöglichen.
Das dürfen wir nicht aus den Augen verlieren, wenn Deutschland jetzt zurecht auf einer gemeinsamen Verantwortung aller EU-Mitglieder beharrt bei der Bewältigung der Flüchtlingsfrage. Verteilt auf 500 Millionen EU-Bürger wären die aktuellen Flüchtlingszahlen ohne große Schwierigkeiten zu bewältigen. Doch bislang tragen vor allem Österreich, Schweden und Deutschland die Hauptlast. Die Bundesrepublik hat in den vergangenen drei Jahren wohl mehr als 1,5 Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Wenn sich die aktuelle Entwicklung fortsetzt, könnten es in diesem Jahr noch einmal so viele werden. Es wird sehr schwierig werden, das ohne heftige Friktionen und politische Erschütterungen in unserem Land zu schaffen. Wir brauchen die Solidarität Europas.
Die EU-Flüchtlingspolitik basiert bislang auf geografischen Zufällen. Auch Deutschland hat sich lange nicht für die Thematik interessiert, sondern es als Problem der Schengen-Grenzstaaten Italien, Spanien und Griechenland angesehen. Ebenso, wie jetzt viele EU-Staaten die Flüchtlinge als deutsches Problem betrachten. Immerhin ist in der EU gelungen, sich über die Verteilung von 160 000 Asylsuchenden zu verständigen. Das ist ein erster Schritt, wenn er auch viel zu kurz greift und seine Umsetzung weiterhin aussteht.
Ein zweiter Schritt wäre es, die längst vereinbarten Hotspots in Griechenland und Italien endlich einzurichten und gemeinsam zu finanzieren. Diese Hotspots entlassen die anderen EU-Staaten nicht aus ihrer Verantwortung. Sie sind Grenz-Durchgangsstationen für Flüchtlinge; dort muss entschieden werden, wohin es für sie in Europa geht oder ob sie zurückgeschickt werden. Sollte dies nicht gelingen und alle EU-Staaten anfangen, ihre Grenzen zu schließen und Flüchtlinge abzuweisen, drohen unkalkulierbare Gefahren für unseren Kontinent. Denn diese Menschen würden auf dem Balkan stranden und die fragilen Demokratien dort, die Europa in den 90er Jahren mit viel Aufwand erst stabilisiert hat, massiv belasten mit nicht absehbaren Auswirkungen.
Wenn Europa die Flüchtlingskrise wirklich meistern will, muss es als drittes auch seine Außengrenzen sichern. Dies ist nicht allein Angelegenheiten der Grenzstaaten, sondern steht in der Verantwortung aller 28 EU-Mitgliedsstaaten. Wir müssen aus den Erfahrungen der Schulden- und Finanzkrise lernen und verhindern, dass die mangelnde politische Handlungsfähigkeit der EU abermals zur Achillesferse wird. Die Antwort muss deshalb eine weitere Vertiefung des Gemeinschaftsprozesses sein. Das heißt: Für die europäische Außengrenze sind wir künftig alle gemeinsam verantwortlich.
Grenzen bestehen aus Zäunen. Grenzen werden bewacht. Grenzen haben Übergänge. Flüchtlinge um die es hier geht müssen hinter ihnen Zuflucht finden können. Aber der Grenzübertritt ist für alle an Regeln gebunden, auch für Flüchtlinge. Leider haben wir es versäumt, bislang für die EU-Außengrenzen ein solch wirksames Grenzregime aufzubauen. Neue nationale Grenzen in Europa sind nicht die beste Antwort auf dieses Versäumnis. Vernünftig wäre es jetzt, die Schengen-Außengrenzen zu stabilisieren und die Länder zu unterstützen, die über Außengrenzen verfügen.
Zudem müssen wir, viertens, die Flüchtlinge fairer verteilen mit Quoten, freiwillig oder verbindlich. Vielleicht wächst die Bereitschaft in manchen EU-Staaten, Flüchtlinge aufzunehmen, wenn wir mehr Großzügigkeit walten lassen und die Regeln der Freizügigkeit leicht anpassen. Anerkannte Flüchtlinge könnten statt der bisherigen fünfjährigen Wartezeit sofort in den Genuss der EU-Freizügigkeitsregeln gelangen, wenn sie sich in der EU nach Arbeit umsehen wollen. Um eine Migration in bestimmte, attraktive Sozialsysteme zu verhindern, kann man den Anspruch auf Sozialleistungen an Mindestfristen knüpfen für die Beschäftigung. Erst wer ein Jahr Vollzeit in seinem Gastland gearbeitet hat, erhält vollen Zugang zum Sozialsystem; solange bleibt das Land verantwortlich, in dem er als Flüchtling anerkannt wurde. Eine solche Regelung könnte die Basis für ein Dublin-IV-Abkommen werden.
Klar muss fünftens auch sein, dass die Menschen, die nach Europa streben, aber keinen Anspruch auf Schutz haben, rasch wieder in ihre Heimat zurückgeschickt werden. In Deutschland haben wir eine Reihe von Gesetzen beschlossen, damit dies besser gelingt. Andernfalls würde die Akzeptanz für die humanitäre Verpflichtung gegenüber Flüchtlingen bei den EU-Bürgern erodieren.
Und natürlich beschränkt sich die Verantwortung der EU nicht allein auf den europäischen Kontinent. Die finanzielle wie organisatorische Unterstützung für die Türkei, für Jordanien und für den Libanon muss deutlich besser werden, schließlich nehmen diese Länder das Gros der Flüchtlinge aus Syrien auf.
Dieses ganze Bündel von Maßnahmen ist nötig, um die Zahl der Flüchtlinge zu verringern, die seit Monaten in die Europäische Union streben. Natürlich ist dies nicht einfach, weil es das Engagement und die Kooperationsbereitschaft vieler Beteiligter braucht. Klar ist allerdings, dass es keine nationale Lösung für die Flüchtlingskrise geben kann. Nur die Europäische Union mit all ihren Mitgliedern ist unser Garant für Frieden und Sicherheit und muss es bleiben.
Gastbeitrag für die Ausgabe 1/2016 der Fachzeitschrift "Sicherheit und Frieden"