"Die SPD ist der konstruktive Teil der Regierung" Interview mit dem Handelsblatt
Handelsblatt: Herr Bürgermeister, Bundeskanzlerin Angela Merkel setzt bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise stark auf die Hilfe der Türkei. Wird Europa dadurch erpressbar?
Olaf Scholz: Nein, es ist richtig, sich mit der Türkei zu verständigen. Ich halte es für wichtig, sich mit allen Syrien-Anrainerstaaten auf eine Verantwortungsteilung zu verständigen.
Handelsblatt: Kommt diese Erkenntnis nicht zu spät?
Olaf Scholz: Gut ist, dass Europa dies nun erkannt hat.
Handelsblatt: Und die Abhängigkeit von der Türkei beunruhigt Sie gar nicht?
Olaf Scholz: Nee, die wichtigste Lehre, die wir aus der gegenwärtigen Krise ziehen können, ist die, dass wir alle voneinander abhängig sind. Viele in Europa sind in den vergangenen Monaten der Illusion beraubt worden, wir hätten mit den Dingen, die um uns herum passieren, nichts zu tun.
Handelsblatt: In der Türkei werden Zeitungsredaktionen geschlossen und Kurden verfolgt. Ist es klug, diesem Land eine EU-Beitrittsperspektive aufzuzeigen?
Olaf Scholz: Natürlich müssen wir unser Verhältnis zur Türkei immer wieder prüfen. Das machen wir im Moment auch. Dazu gehört, Missstände klar zu benennen. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass die Türkei zu den Ländern zählt, denen wir schon vor Jahrzehnten eine europäische Perspektive versprochen haben, was die Europäische Union und mehrere deutsche Kanzler immer wieder bestätigt haben. Und obendrein ist die Türkei seit langem Nato-Partner.
Handelsblatt: Ist die Türkei beitrittsreif?
Olaf Scholz: Das ist ein Prozess, der nicht innerhalb kurzer Zeit abgeschlossen sein wird. Zu den unverzichtbaren Voraussetzungen gehört, dass die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie verankert sind und praktiziert werden.
Handelsblatt: Ist es richtig, die Visumspflicht für türkische Staatsbürger aufzuheben?
Olaf Scholz: Wenn die Bedingungen stimmen, halte ich das für richtig. Wir müssen in jedem Fall sehr genau wissen, wer zu uns kommt. Und wenn jemand unterwegs vergisst, wer er ist, müssen wir das jederzeit rausfinden können. Andere Staaten haben bessere Grenzregime und können das.
Handelsblatt: Hat die SPD in der Flüchtlingsfrage etwas falsch gemacht?
Olaf Scholz: Nein.
Handelsblatt: Das sehen die Wähler offenbar anders. Die SPD ist am 13. März abgestraft worden.
Olaf Scholz: Naja, dass wir nach den Ergebnissen nicht voller Euphorie sein können, ist klar. In Rheinland-Pfalz haben wir aber einen großartigen Wahlerfolg erzielt. Die beiden schlechten Ergebnisse in Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt haben unterschiedliche Ursachen.
Handelsblatt: Aber muss die SPD nicht mal mehr klare Kante zeigen? Man merkt doch gar keinen Unterschied mehr zur Merkel-Partei.
Olaf Scholz: Die SPD ist der konstruktive Teil der Regierung. Wir benehmen uns ordentlich und halten ein, was wir miteinander vereinbart haben. Außerdem haben wir schon in der Regierung viele sozialdemokratische Projekte durchgesetzt und werden noch weitere verwirklichen.
Handelsblatt: Macht Sigmar Gabriel einen guten Job als Parteivorsitzender?
Olaf Scholz: Klar. Er hat den Parteivorsitz in einer sehr schwierigen Zeit übernommen. Seither haben wir in der Führung viel Stabilität.
Handelsblatt: Und wird er der Kanzlerkandidat 2017?
Olaf Scholz: Wir haben im Bund, trotz eines nicht erfreulichen Wahlergebnisses 2013, Regierungsverantwortung übernommen und wichtige Projekte wie den Mindestlohn durchgesetzt. Wir stellen die meisten Ministerpräsidenten und sind in fast allen Landesregierungen vertreten. Das ist keine schlechte Bilanz. Da darf der Parteivorsitzende selbstverständlich seinen Teil des Erfolges für sich anmelden.
Handelsblatt: Die Integration der Flüchtlinge wird viel Geld kosten. Überfordert das die Länder?
Olaf Scholz: Selbst wenn wir sehr, sehr erfolgreich sind in der Vermittlung, wird ein großer Teil der anerkannten Flüchtlinge zunächst Arbeitslosengeld II beziehen. Die Haushalte der Länder und vor allem der Kommunen werden also mit schnell steigenden Kosten etwa für die Unterkünfte der anerkannten Flüchtlinge belastet sein. Da ist auch der Bund stärker gefordert. Darüber wird es Gespräche geben müssen.
Handelsblatt: Insgesamt müsste sich die Lage doch jetzt entspannen, weil kaum noch Flüchtlinge kommen. Merken Sie das schon?
Olaf Scholz: Die Lage ist alles andere als entspannt. Wir merken zwar, dass weniger Flüchtlinge kommen als in der zweiten Jahreshälfte 2015. Wenn wir den Januar und Februar dieses Jahres mit dem gleichen Zeitraum im Vorjahr vergleichen, kommen jedoch deutlich mehr Flüchtlinge an. Wenn man auf dieser Basis eine Hochrechnung machen würde, kämen höhere Flüchtlingszahlen heraus als 2015.
Handelsblatt: In Hamburg müssen Sie schon für 2017 planen. Von welchen Zahlen gehen Sie aus?
Olaf Scholz: Wir haben in den letzten drei Jahren fast 40.000 Plätze geschaffen für die Erstaufnahme und Folgeunterbringung. Als Stadtstaat trifft einen der deutsche Verteilschlüssel besonders hart, weil er sich aus Steuereinnahmen und Bevölkerungszahl berechnet. Folge ist, dass wir in Hamburg zum Beispiel mehr Flüchtlinge unterbringen müssen als ganz Mecklenburg-Vorpommern. Wir stellen uns darauf ein, dass in diesem Jahr zusätzlich zu den bestehenden Unterkünften noch einmal die gleiche Anzahl an Plätzen geschaffen werden muss.
Handelsblatt: Was bedeutet das konkret?
Olaf Scholz: Wir haben bereits rund 140 Unterkünfte errichtet: 39 Erstaufnahmeeinrichtungen mit fast 20.000 Plätzen und über 100 Folgeeinrichtungen. Jetzt müssen wir noch einmal so viele Plätze schaffen. Um das hinzukriegen, suchen wir überall in der Stadt nach geeigneten Flächen und nutzen die neuen Möglichkeiten des Baurechts. Hamburg ist eine wirtschaftlich erfolgreiche Stadt. Viel Leerstand gibt es bei uns nicht. Und die Anzahl nutzbarer Flächen ist begrenzt.
Handelsblatt: Was kostet Sie die Flüchtlingskrise?
Olaf Scholz: In Hamburg haben wir letztes Jahr etwa 600 Millionen Euro ausgegeben. Wenn man alles zusammenrechnet, sind das etwa fünf Prozent unseres Haushalts. Es ist gut, dass wir die Finanzen in Ordnung gebracht haben und sich die wirtschaftliche Lage der Stadt so positiv entwickelt. Trotz aller Belastungen haben wir sogar Schulden abgebaut.
Das Interview führten Heike Anger, Klaus Stratmann und Thomas Sigmund.