Ein neuer Rahmen für den Arbeitsmarkt Mobilität im Sozialstaat
Rede von Olaf Scholz bei der Friedrich-Ebert-Stiftung zum Thema "Vom AFG zu Hartz - 40 Jahre Arbeitsmarktpolitik in Deutschland"
Meine Damen und Herren,
wir haben hier ein großes Thema beim Wickel Vom AFG zu Hartz wobei ich mir erlaube darauf hinzuweisen, dass es das SGB III und das SGB II gibt, die Grundsicherung für Arbeitsuchende. Hartz gibt es nicht.
Bei dem großen Thema, das wir also beim Wickel haben, geht es um die Fragen: Wie kümmern wir uns in Deutschland um die arbeitsuchenden Bürgerinnen und Bürger? Welches Engagement bringen wir auf, um an ihrer Situation, an ihrem Schicksal etwas zu ändern? Welche Kontinuitäten können wir im Reformprozess beobachten und auf welche geänderten Problemstellungen müssen wir reagieren?
Es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass das Arbeitsförderungsgesetz (AFG) ein Reformprojekt war, das von einer Großen Koalition auf den Weg gebracht wurde und das im Mai 1969 den Deutschen Bundestag passiert hat und zwar einstimmig. Das war ein kräftiges Aufbruchsignal. Ein großer Aufbruch, bei dem es darum ging, mit den Mitteln der Arbeitsmarktpolitik, mit den Handlungsmöglichkeiten der Bundesanstalt für Arbeit etwas zu ändern an der schwierigen Situation der Bürgerinnen und Bürger, die ohne Arbeit sind und die die Probleme, die sich daraus ergeben, lösen müssen.
Anke Fuchs hat schon darauf hingewiesen, dass es damals um 150.000 Arbeitslose ging. Als ihre Zahl auf 500.000 stieg, wurde das schon als schlimmes Problem empfunden. Später gab es dann den Satz eines berühmten Bundeskanzlers, der von der Weltwirtschaft viel versteht: Lieber fünf Prozent Inflation als fünf Prozent Arbeitslosigkeit.
Nun weiß jeder, dass er das mit den fünf Prozent Inflation unterdessen anders sieht, aber der Hinweis auf die fünf Prozent Arbeitslosigkeit ist ja doch einer, der uns ein wenig erschreckt, wenn wir die heutigen Zahlen sehen. Und vor allem, wenn wir die Zahlen der letzten Jahrzehnte Revue passieren lassen, mit denen wir konfrontiert waren. Niemand hätte sich vor vierzig Jahren vorstellen können, dass wir wieder Arbeitslosigkeit in einem solchen Ausmaß vor uns haben könnten, wie wir sie seit den achtziger Jahren und bis heute zu verzeichnen haben.
Deshalb finde ich, dass man bei der Diskussion über das Arbeitsförderungsgesetz und die Folgegesetze auch klar machen muss: Die Situation war damals vollkommen anders. Das Wichtigste ist ganz sicherlich der seit Anfang der achtziger Jahre zu verzeichnende Anstieg der Massenarbeitslosigkeit. Ein Phänomen, von dem man im Deutschland der siebziger Jahre gedacht hatte, man hätte es endgültig hinter sich gebracht und besäße die politischen Handlungsmöglichkeiten und alle nötigen Instrumente, um so eine Gefahr von der Gesellschaft künftig fernzuhalten.
Dieser optimistische Glaube der siebziger Jahre, der aus dem Wirtschaftswunder der Jahrzehnte davor gewachsen war, ist zusammengebrochen. Mit Konsequenzen, an die sich heutzutage, wo wir wieder in einer Zeit großer Reformprojekte stehen, nicht immer alle erinnern können oder wollen.
Mit dem Anstieg der Massenarbeitslosigkeit seit Anfang der achtziger Jahre tauchten z. B. Arbeitslose erstmals in größerem Umfang in den Gemeindeetats auf. Denn bis zu dieser Zeit kannte fast keine Gemeinde Arbeitslosigkeit als eine Belastung für den kommunalen Sozialetat. Erst dadurch, dass sich Arbeitslosigkeit und zunehmend gerade die Langzeitarbeitslosigkeit gesteigert und verfestigt haben, ist das Stück für Stück anders geworden. Mittlerweile gibt es eine große Zahl von Bürgerinnen und Bürgern, die über lange Zeit arbeitslos sind.
Und wir haben in diesen vierzig Jahren eine ganze Reihe von Herausforderungen und Krisen bewältigt: die Ölkrise, den sich verschärfenden Kalten Krieg, die Deutsche Einheit, intensivere Globalisierung und demografischen Wandel. Dennoch bleibt die wichtigste und die drängendste Herausforderung der Anstieg der Landzeitarbeitslosigkeit und der Massenarbeitslosigkeit.
Ich will das an einer Zahl festmachen, und zwar an einer gemessen an den Jahren davor guten Zahl. Im Oktober und November des letzten Jahres konnten wir vermelden, dass die Zahl der Arbeitslosen das erste Mal seit 16 Jahren unter drei Millionen gesunken ist. Das war ein beeindruckender Erfolg, wenn man bedenkt, dass wir und das will ich jetzt gleich der Vorsicht halber hinzufügen: bei gleicher Zählweise auch schon über fünf Millionen Arbeitslose hatten.
Das hat sich auch ganz deutlich am Rückgang der Beitragsbelastung durch die Arbeitslosenversicherung bemerkbar gemacht: Wir konnten den Beitrag von 6,5 Prozent auf jetzt 2,8 senken. Das war möglich wegen des guten Polsters an Rücklagen der Bundesagentur.
Diese Arbeitslosenzahl verdient es, genauer beschaut zu werden:
Von den etwa 3 Millionen Arbeitslosen im November des letzten Jahres waren knapp über 800.000 Empfänger von Arbeitslosengeld. Diese Zahl ist für die Betrachtung des Problems von entscheidender Bedeutung, denn das sind fast alles Bürgerinnen und Bürger, die gearbeitet und Versicherungsbeiträge gezahlt haben. Sie haben ihren Arbeitsplatz verloren und beziehen deshalb die Versicherungsleistung Arbeitslosengeld: 12 Monate, bei über 58-Jährigen auch 24 Monate, so die geltende rechtliche Lage.
Daneben gab es über zwei Millionen Bezieherinnen und Bezieher von Grundsicherung für Arbeitsuchende. Das sind nicht alle Langzeitarbeitslose. Denn einen Anspruch auf Grundsicherung haben auch diejenigen, die keine Versicherungsansprüche haben und früher Sozialhilfe hätten beantragen müssen, z. B. wenn es nach der Schule nicht gleich mit dem Berufseinstieg klappt und man seinen Lebensunterhalt finanzieren muss, oder nach dem Studium, nach einer gescheiterten Selbständigkeit oder einer längeren Familienphase und niemand sonst für den Unterhalt aufkommt.
Ein großer Teil der Bezieherinnen und Bezieher von Grundsicherung sind aber Langzeitarbeitslose und wir müssen uns auch in der jetzigen wirtschaftlichen Krise klar machen: Wir haben eigentlich zwei Problemkreise. Sie sind nicht völlig voneinander getrennt und es gibt Überschneidungen. Aber wir dürfen sie nicht zusammenwerfen. Wir würden einen Fehler machen, wenn wir beide Problemkreise für identisch hielten.
Ein Problem ist die Arbeitslosigkeit, die aus konjunkturellen Entwicklungen folgt. Es ist abzulesen an den 800.000 vom Oktober und November des letzten Jahres, jetzt sind es etwas über eine Million Bürgerinnen und Bürger, weil durch die Krise einige dazugekommen sind. Ich hoffe, wir können diese Zahl in Grenzen halten.
Gegen diese Form der Arbeitslosigkeit kämpfen wir jetzt mit der Kurzarbeit. Und zwar auf eine Weise, wie das noch nie zuvor geschehen ist: Denn wir haben die Entscheidung über die Ausweitung der Kurzarbeit bereits am Beginn der Krise getroffen und nicht erst, als die Krise schon lange im Gange war. Wir haben die maximale Dauer der Kurzarbeit von sechs auf achtzehn Monate verlängert. Und wir haben schon jetzt am Beginn der Krise beschlossen
auch das ohne historisches Beispiel , dass die Arbeitgeber nicht die gesamten Sozialversicherungsbeiträge, sondern nur die Hälfte tragen müssen. Schließlich haben wir schon jetzt zu Beginn der Krise beschlossen, dass wir die gesamten Kosten übernehmen, wenn die Kurzarbeit mit Qualifizierung verbunden wird. Eine durchaus weitreichende Entscheidung und ein gewaltiger Kraftakt, der möglich ist, weil wir die wirtschaftlichen und finanziellen Ressourcen haben, um gemeinsam mit den Unternehmen eine Krise, die vielleicht ein halbes Jahr, ein Jahr, oder auch anderthalb Jahre dauern kann, auf diese Weise abfedern zu können.
Aber das ist die konjunkturelle Arbeitslosigkeit, die uns immer wieder vor Herausforderungen stellt, aber bei der wir die Chance haben, dass es wieder besser wird und dass wir sie auch noch weiter unter die Marke von 800.000 drücken können.
Daneben haben wir den großen Problemkreis der Langzeitarbeitslosigkeit. Das ist ein Phänomen, bei dem man sehr genau beschreiben kann, worin ihre Ursachen und die Schwierigkeiten der betroffenen Bürgerinnen und Bürger begründet liegen und zwar ebenfalls mit wenigen Zahlen:
Die eine Zahl, ist die der Arbeitslosen ohne Schulabschluss. Darüber wird wenig berichtet. Etwa eine halbe Million Arbeitslose verfügen über keinen Schulabschluss und fast alle 500.000 zählen zur Gruppe der Langzeitarbeitslosen, so dass man dann andersherum sagen kann: Ein Viertel der Langzeitarbeitslosen hat keinen Schulabschluss.
Man kann in Bezug auf die Gruppe der Langzeitarbeitslosen statistisch auch eine weitere Aussage machen: Die Hälfte von ihnen hat keinen Berufsabschluss. Das ist leider keine eineindeutige, also auch umgekehrt eindeutig gültige Relation, wie die Logiker sagen würden. Es ist also leider nicht so, dass wer einen Berufsabschluss hat, sicher sein kann, dass ihm niemals das Problem der Arbeitslosigkeit begegnet. Und er kann auch nicht sicher sein, dass Arbeitslosigkeit nicht auch von längerer Dauer sein könnte.
Aber umgekehrt ist es auf alle Fälle eine fast eindeutige Beziehung: Wer keinen Schulabschluss hat und wer keine berufliche Qualifikation hat, wird auf Dauer Schwierigkeiten haben, auf dem Arbeitsmarkt zurecht zu kommen. Darüber dürfen wir nicht hinwegreden. Insofern ist es eine zentrale Aufgabe, wenn wir Perspektiven für den Arbeitsmarkt entwickeln, darüber nachzudenken, wie wir die Qualifikationsstruktur der Langzeitarbeitslosen und damit ihre Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt verbessern können. Wenn wir das nicht schaffen, werden wir selbst in der besten konjunkturellen Lage, selbst wenn die Zahl der Arbeitslosengeldempfänger vielleicht sogar auf 200.000 oder 150.000 sinken würde, für viele der langzeitarbeitslosen Bürgerinnen und Bürger keine Perspektive formulieren können.
Hier darf es nicht beim Reden bleiben, hier müssen wir zu ganz konkreten Änderungen kommen. Ich will das noch verstärken, indem ich eine Perspektive wage für den Arbeitsmarkt des nächsten Jahrzehnts: Angesichts der demografischen Veränderungen ist klar vorauszusehen, dass wir im Laufe des nächsten Jahrzehnts in die Situation geraten werden, dass wir in Deutschland nicht über genügend Fachkräfte verfügen, wenn wir jetzt nichts ändern. Es verlassen weniger junge Leute die Schule als Ältere in Rente gehen. Und das wird sich Jahr für Jahr zu einem immer größeren Mangel auswachsen.
Ich versuche im Augenblick, die deutsche Wirtschaft zu überzeugen, dass sie wie sie es in den achtziger Jahren geschafft hat 700.000 Ausbildungsverträge pro Jahr zur Verfügung stellen muss. Im laufenden Ausbildungsjahr sind wir bei knapp über 600.000 angekommen. Aber sie haben mir dann Prognosen geschickt, dass bald, selbst wenn alle Jungen und Mädchen, die eine Ausbildung haben wollen, auch einen Ausbildungsplatz bekommen, keine 700.000 Plätze gebraucht würden. Mit dem Rückgang der Zahl der Schulabgänger werden wir Anfang des nächsten Jahrzehnts in der Tat nicht mehr so viele brauchen, aber jetzt brauchen wir sie angesichts von 300.000 Altbewerbern, die wir immer noch nicht in Ausbildung und Qualifizierung gebracht haben.
Aufgrund der demografischen Veränderungen bietet der Arbeitsmarkt des nächsten Jahrzehnts erneut die Perspektive auf Vollbeschäftigung vorausgesetzt, wir verfügen über genügend Fachkräfte, über genügend Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die die Qualifikation, die Einstellung und die Motivation haben, die auf dem Arbeitsmarkt notwenig und erforderlich sind. Das ist eine gute, eine optimistische Zukunftsaussicht. Sie bietet uns die Chance, durch das, was wir als Politiker, als Gesetzgeber, als Regierung bewirken können, Einfluss darauf zu nehmen, dass es gut ausgeht und wir Aufschwung und Vollbeschäftigung erreichen. Wenn wir aber jetzt nicht entsprechend handeln, dann werden wir im nächsten Jahrzehnt erleben, dass wir zugleich über Fachkräftemangel klagen müssen und über Millionen arbeitsuchende Bürgerinnen und Bürger ohne Perspektive, auf einem der freien Arbeitsplätze beschäftigt zu werden.
Das sind die beiden Szenarien, die sich für das nächste Jahrzehnt klar abzeichnen. Wir haben es in diesem Jahrzehnt mit in der Hand, darüber zu entscheiden, welches der Szenarien Wirklichkeit wird. Politikerreden des Jahres 2015, was man alles im Jahre 2005 hätte tun müssen, werden dann wenig helfen. Sondern wir müssen jetzt etwas tun. Darum müssen die Ausbildung der jungen Leute und die Qualifizierung der Beschäftigten zentrale Bedeutung in der Arbeitsmarktpolitik der nächsten Jahre haben. Und deshalb werden sie das aus meiner Sicht auch haben. Denn nur so können wir schaffen, dass das erste der beiden Szenarien eintritt.
Das bedeutet dann natürlich, dass wir konkret umsteuern müssen. Wir haben z. B. bei der Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente des letzten Jahres darauf gedrängt, dass es viele Ermessensleistungen gibt, viel Flexibilität für die Arbeitsvermittler vor Ort, dass sie nicht jemandem irgendetwas von der Stange aufzwängen müssen, sondern für jeden einzelnen Arbeitsuchenden eine konkrete eigene Lösung entwickeln können für die erneute Integration in den Arbeitsmarkt. Jetzt müssen alle das mit Leben erfüllen. Aber eine konkrete Sache haben wir nicht ins Ermessen gestellt, sondern einen neuen Rechtsanspruch geschaffen, den Rechtsanspruch, seinen Schulabschluss nachholen zu können. Und das haben wir sehr bewusst gemacht, weil wir einen echten Durchbruch wollen: Wir wollen den 500.000 Arbeitsuchenden ohne Schulabschluss Zuversicht geben zu sagen: Wenn ich mich anstrenge, wenn ich mich noch einmal auf den Hosenboden setzen will egal ob mit 24, mit 33 oder mit 42 dann stehen mir keine unüberwindbaren Hürden entgegen und ich kann es noch einmal schaffen.
Ich wünsche mir ausdrücklich, dass wir im Zusammenspiel mit der Bundesagentur für Arbeit dies in der Wirklichkeit vor Ort zu einer Leistung ausbauen, die so gut funktioniert, dass sie tatsächlich jeden, der das machen will, erreicht. Wir müssen da mit aller Großzügigkeit agieren und nicht die Bedingungen so eng machen, dass viele nicht durchschlüpfen können, sondern dass wir ihnen eine reale Möglichkeit schaffen. Das ist ein Signal, ich mache mir nichts vor. Nicht alle 500.000 ohne Schulabschluss werden davon Gebrauch machen. Aber alle, die es wollen, sollten die Chance bekommen. Das sagt auch etwas aus über die Einstellung zur Arbeitskultur in unserer Gesellschaft. Denn es wäre zynisch, wenn wir ihnen sagen: Du sollst arbeiten, und ihnen dann aber die Wege versperren, auf denen sie in den Arbeitsmarkt integriert werden können.
Viele Erfahrungen, die man im Arbeitsleben macht oder weil man dort nicht hineinkommt, können entmutigend sein, auch wenn sie im persönlichen Umfeld oder in der Familie gemacht werden. Entmutigende Erfahrungen entstehen aber auch, wenn der Staat und die Gemeinschaft so organisiert sind, dass wer sich aufrafft, unermesslich Großes leisten muss, um mit seinem Aufraffen auch etwas zu erreichen. Und deshalb haben wir die Verantwortung das zu ändern. Es geht also um reale Veränderung, reale Hilfe. Aber es geht auch um ein Signal des Aufbruchs und der Zuversicht, dass wer sich Mühe gibt, sein Leben dadurch verbessern kann. Ermutigung statt Entmutigung, das ist von entscheidender Bedeutung gerade in der Arbeitsmarktpolitik.
Und daran muss sich anschließen, dass wir keinen durchs Rost fallen lassen. Das gilt ganz besonders angesichts der Ausbildungssituation. Wir wissen da eigentlich bei Weitem nicht genug Bescheid. Wir zählen die Ausbildungsgeeigneten, wir vermitteln sie und behalten sie auch im Auge. Aber bei denjenigen, bei denen wir Schwierigkeiten identifiziert haben, wissen wir ganz bald nichts mehr. Sie rutschen durch. Aber eigentlich müsste es doch so sein, dass eine Gesellschaft ohne dass sie damit gleich übertrieben paternalistisch wäre über die 16- bis 25-Jährigen personengenau Bescheid weiß, dass jeder Verantwortliche vor Ort im Blick hat, ob und was er für Hänschen oder Lieschen Müller tun muss, oder ob sie so schon gut zurechtkommen. Aber weil das bei uns nicht so ist, weil wir es zulassen, dass gerade die Jugendlichen mit Schwierigkeiten aus dem Blick geraten, erleben wir dann Katastrophen, die uns viele Jahrzehnte begleiten.
Ich finde, das sollte die Perspektive sein, die wir für den Arbeitsmarkt der Zukunft und damit auch als Anforderung an die Arbeitsmarktpolitik der nächsten Jahrzehnte entwickeln: Wir wollen, dass, wer Anfang 20 ist, entweder Abitur hat oder eine Berufsausbildung. Niemand muss mit weniger versuchen, die vielen Jahrzehnte der Arbeit hinter sich zu bringen und zu bestehen, die vor ihm stehen werden.
Wir brauchen dazu mehr betriebliche Ausbildungsplätze, aber auch von unseren anderen Instrumenten müssen wir Gebrauch machen. Wir sollten nicht nur den klaren Willen formulieren, sondern wir sollten ihn auch in operationalisierbare, konkrete Forderungen und Punkte herunter brechen, damit es nicht so klingt, wie das so sonst immer klingt, wenn wir Politiker reden: Wir gönnen jedem das beste und dann tun wir nichts.
Wir müssen Kriterien und Methoden entwickeln, anhand derer man testen kann, welchen Erfolg wir operationalisierbar durchsetzen, dass keiner durchs Rost fällt. Ich traue einer so großen, reichen Gesellschaft wie der Bundesrepublik Deutschland zu, dass wir das hinkriegen. Der Ausblick auf den Arbeitsmarkt der nächsten Jahrzehnte zeigt: Es ist möglich, wir haben eine echte Chance und kämpfen nicht vergeblich gegen Windmühlen. Es ist keine Sisyphus-Aufgabe, sondern wir haben die Perspektive auf Vollbeschäftigung, wenn wir unsere Möglichkeiten nutzen, und die bestehen eben in der Qualifikation. Das gilt auch für den weiteren Lebenslauf. Deshalb werden wir im Zusammenspiel zwischen betrieblicher Arbeitsorganisation und der Arbeitsvermittlung der Arbeitsagentur auch neue Formen und Angebote der beruflichen Qualifizierung entwickeln müssen.
Ich habe am Montag einen Kongress für eine Neue Kultur der Arbeit eröffnet. Das knüpft an ein Aufbruchsignal der sechziger Jahre ähnlich wie es auch das Arbeitsförderungsgesetz war an, nämlich an das Programm von Willy Brandt zur Humanisierung der Arbeitswelt.
Es geht aber über die Gestaltung des Arbeitsplatzes weit hinaus. Das halbe Leben, das man mit der Arbeit verbringt denn wer mit 16 die Schule verlässt, hat fast fünf Jahrzehnte Arbeit vor sich, das darf man bei der Diskussion nicht vergessen diese lange Zeit läuft eben nicht einfach so durch: Schule, Ausbildung, Arbeit, Rente. Es geht für die meisten Bürgerinnen und Bürger heute wechselhafter zu und darauf müssen wir uns einstellen. Darum müssen wir sicherstellen, dass Weiterbildung und Qualifizierung immer wieder ihren Platz bekommen. Das ist übrigens nicht für jeden immer mit Aufstieg verbunden, sondern oft auch nötig zur Sicherung von Beschäftigung und Qualifikation. Da müssen wir helfen und beraten.
Anke Fuchs hat das Thema Arbeitsversicherung angesprochen. Das wird viel und bisweilen heiß diskutiert. Aber wenn ich das Prinzip nehme, dass sich jeder darüber informieren kann, was für Qualifikationsbedarfe er in den nächsten Jahren und Jahrzehnten haben wird, damit er sich zurechtfinden kann: Warum soll das nicht eine Beratungsleistung der Bundesagentur sein, nach einer bestimmten Zeit möglicherweise auch mit Zuschüssen und Unterstützung bei Qualifizierungsmaßnahmen? Das wäre für mich die richtige Perspektive einer Arbeitsversicherung.
Natürlich machen wir etwas falsch, wenn wir mit einem 58-Jährigen erörtern, welche berufliche Neuorientierung er mit 48 am besten auf den Weg gebracht hätte, damit er mit 61 noch arbeiten kann. Das heißt aber doch: Wir sollten das Thema einer neuen Kultur der Arbeit jetzt nicht in wissenschaftliche Aufsätze verpacken, sondern organisieren, dass das Thema im realen Leben der 48-Jährigen eine Rolle spielt. Wenn sie z. B. eine Arbeit haben, bei der abzusehen ist, dass sie sie mit 61 nicht mehr schaffen können, dann sollten wir sie jetzt beraten, unterstützen und auch möglicherweise qualifizieren, damit sie einer Arbeit nachgehen können, die das Niveau, den Anspruch und die Würde hat, die die Arbeit auch vorher hatte. Ich kann schon verstehen, dass jemand, wenn er stolz auf dem Dach gestanden hat, sagt: Ich will jetzt nicht im Supermarkt Regale schieben. Das mag volkswirtschaftlich anders gesehen werden. Aber menschlich kann ich gut nachvollziehen, warum jemand so denkt. Deshalb geht es darum, dass wir dem 48-Jährigen eine berufliche Perspektive mit ähnlichen Einkommenserwartungen eröffnen: Da musst du dich ein bisschen reinhängen, dann kriegst du das hin, und wir helfen dir dabei. Denn klar ist auch: Wenn wir so viele Jahrzehnte arbeiten, wird es nicht für jeden gehen, dass er immer das gleiche macht. Aber dass man gut zurecht kommen kann, das sollte unsere Perspektive sein.
Wir müssen schon bei der Ausbildung dafür sorgen, dass auch die eine Perspektive bekommen, die nicht so gut sind, vielleicht derzeit auch noch nicht ausbildungsgeeignet. Alle Erfahrung, die wir mit ausbildungsungeeigneten Jugendlichen machen, sind, dass fast alle durchkommen, die eine Chance in betrieblichen Projekten bekommen. Sie bestehen hinterher die betriebliche Ausbildung und haben dann gute Chancen im Arbeitsleben. Diese Chance müssen wir allen geben. Das ist eine Frage der Bürgerrechte, aber weil wir immer weniger Bürgerinnen und Bürger im Erwerbsalter haben werden, ist es auch volkswirtschaftlich und betriebswirtschaftlich ein kluger Gedanke, alle Potenziale zu nutzen.
Aber wir müssen natürlich auch die Perspektiven zu einem Aufstieg und zur Durchlässigkeit weiter ausbauen. Da sind auch die Arbeitgeber gefordert, das zu ermöglichen, z. B. durch Freistellung für Weiterbildung und Qualifizierung. Wir haben mit Langzeit-Arbeitszeitkonten den Rahmen dafür geschaffen, jetzt muss die Möglichkeit, mehr geleistete Arbeitszeit anzusparen, in der betrieblichen Wirklichkeit genutzt werden, sei es für Familienphasen oder zur Weiterbildung, auch mal als Auszeit oder um im Alter dann etwas kürzer treten zu können.
Das geht, wir haben die gesetzlichen Grundlagen dafür geschaffen. Nun muss diese Möglichkeit bekannt und zur Lebenswirklichkeit gemacht werden. Wir müssen es Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern plausibel machen, dass sie über ihren Lebensverlauf hin Arbeitszeit ansparen und dann auch wieder abheben können, wenn sie wollen. Auch was Renate Schmidt angeregt hat, ist jetzt möglich: Theoretisch ist es möglich, schon am Anfang der Berufslaufbahn das Konto zu überziehen und später nachzuarbeiten. Die rechtliche Grundlage ist da und die Phase der Familiengründung liegt ja oft in dieser Zeit.
Aber Durchlässigkeit und Aufstieg hängen nicht nur an Arbeitszeitregelungen, oft sind andere Barrieren im Weg. Warum soll nicht jemand, der eine Berufsausbildung gemacht hat, der Meister, der Techniker ist, der ein paar Jahre Berufspraxis hatte, auch direkt zur Universität gehen können, ohne dass er erst noch das Abitur erwerben muss. Das ist eine ausgesprochen deutsche Besonderheit, dass das bisher so ist. Ich habe mir angesehen, wie das in der Schweiz und in Österreich organisiert ist: Da gibt es die Berufsmatura und das macht das System viel durchlässiger: Fünf Prozent der Absolventen der Schweizer Berufsschulen gehen an die Universität und studieren dann meistens die Ingenieursfächer, bei denen wir hier einen Ingenieurmangel beklagen. Warum machen wir diesen Aufstieg nicht möglich? Warum können wir nicht die gleichen Wege beschreiten, die andere erfolgreich gegangen sind, um mehr Durchlässigkeit und damit ein größeres Potenzial von qualifizierten Arbeitskräften zu schaffen?
Meine Damen und Herren,
ein Thema, das aus meiner Sicht von zentraler Bedeutung für die Zukunft ist, auch für die Chancen der Arbeitsvermittlung, ist die Bildungspolitik. Da haben wir das entscheidende Problem, dass es uns an politischer, demokratischer Öffentlichkeit fehlt. Wenn über Probleme nicht geredet wird, sind sie nicht da. Das Problem bei der Bildungspolitik ist, dass die demokratische Öffentlichkeit sich an diejenigen richtet, die für die Bildung gar nicht zuständig sind. Ich glaube nicht, dass der Föderalismus per se ein Problem ist. Ich glaube aber, dass es ein Problem ist, dass es eben nicht in die Tagesschau kommt, wenn ein Ministerpräsident etwas nicht zustande bekommt. Aufmerksamkeit bekommt nur die nationale Ebene. Es ist nicht im Fokus, wer dafür sorgen müsste, dass alle Schulen gestrichen sind, dass es keinen Lehrermangel gibt und dass man nicht durchgehen lässt, dass die Leute nicht zur Schule kommen oder ohne Schulabschluss die Schule verlassen. Selbst wenn auf Länderebene alles falsch gemacht würde, käme es nie raus. Das ist ein Problem für die Demokratie, finde ich.
Und das gleiche gilt für das Thema Arbeitsvermittlung. Darüber kann man viel erzählen, große Theorien entwickeln, sich aufbauen und mit weihrauchsvoller Stimme sprechen, das ist sogar sehr verbreitet. Aber es bringt uns der Lösung der Probleme nicht näher, denn die Aufgabe, die gelöst werden muss, ist, dass die Arbeitsvermittlung ordentlich aufgestellt ist, genügend Mittel hat und genügend Personal.
Dazu kann ich eine Geschichte erzählen: Mit der Reform der Arbeitsvermittlung haben wir politisch vereinbart, mehrfach festgezurrt, im Bundestag beschlossen und verkündet, dass das Verhältnis der Arbeitsvermittler zu den Arbeitsuchenden bei den Grundsicherungsstellen den Arbeitsagenturen und den Optionskommunen 1 zu 150 sein soll. Und bei den jungen Leuten unter 25 1 zu 75. Einen so guten Schlüssel hatten wir vorher noch nie. Mit den Nachschlägen, die seit dem Sommer des letzten Jahres immer bei passender Gelegenheit, wenn es um Beitragssätze ging, wenn es um sonstige Kompromisse in der Koalition ging, gelungen sind, haben wir so viele Tausende zusätzliche Stellen gekriegt, dass wir Ende 2010, wenn die Arbeitslosigkeit der Langzeitarbeitslosen bis dahin nicht zunimmt was ja auch im Augenblick eine kühne Hoffnung ist diesen Schlüssel erreichen. Vorausgesetzt wir rationalisieren noch deutlich bei der Leistungssachbearbeitung und schaffen es, noch 5000 Stellen zu verlagern.
Aber haben Sie je davon gehört? Ist es ein politisches Thema, wie viele Leute da eigentlich zur Verfügung stehen? Haben Sie nicht jedes Mal zustimmend gebrummt, genickt oder zumindest gedacht, wenn einmal im Monat ein bekannter Haushaltspolitiker erklärt ich kann mich gerade nicht an den Namen erinnern beim Scholz muss gespart werden? Der meint nicht meinen Dienstwagen oder meinen Weihnachtsurlaub. Der meint immer diese Stellen.
Und wie die Lage in Deutschland war, kann man sowohl bei der Arbeitsagentur ich glaube, das darf man sagen, weil die deutlichen Fortschritte es leichter machen, über die Vergangenheit zu reden als auch bei den Arbeitsgemeinschaften noch sehen. Bei der Arbeitsagentur haben wir mittlerweile viel mehr Vermittler als früher, aber sie sind zu etwa 40 Prozent befristet. Vieles sind Langzeitbefristungen, so dass es nicht ganz so dramatisch ist, wie es auf den ersten Blick aussieht. Dass wir das trotzdem jetzt ändern, ist wichtig, weil die Leute ja dort ihre Berufsperspektive finden sollen.
Noch deutlicher machen uns die 40 Prozent aber, weil Befristungen ja meistens bei denen gemacht werden, die man neu einstellt, dass es vorher kaum Arbeitsvermittlung gab. Gerade wenn wir über die lange Geschichte des AFG diskutieren, darf man nicht verschweigen: Arbeitsvermittlung hat bei der Verwaltung, die dort aufgebaut worden ist, nie eine entscheidende Rolle gespielt. Die Arbeitsvermittlung ist nicht die zentrale Aufgabe der Bundesanstalt für Arbeit gewesen. Vielleicht ist das polemisch überspitzt so gekommen, weil man immer die gleiche Anzahl von Vermittlern hatte, wie damals als es 115.000 Arbeitslose gab. Und als die Arbeitslosigkeit stieg, hat man sich bemüht, die Leistungssachbearbeitung in Griff zu kriegen schwer genug und auch wirklich viel Arbeit , weil alles einzelfallgerecht zu bescheiden war. Darum diese kleine Spitze sei mir noch erlaubt kann ich nicht mehr hören, dass die Grundsicherung für Arbeitsuchende zu kompliziert sei. Das ist überhaupt nicht kompliziert. Und die Kompliziertheit, die wir haben, die ist bestellt. Wir wollen eine Bedarfsdeckung. Und wer sagt, das muss einfacher werden, der will die Leistung kürzen. Man kann natürlich sagen, mit den Kosten der Unterkunft wollen wir uns nicht mehr mit beschäftigen, jeder kriegt 250 Euro, ob seine Miete 200 oder 400 Euro kostet, interessiert uns nicht. Dann gibt es keine Prozesse mehr, wir haben ganz klare einfache Bescheide für die Verwaltung wird das Leben damit einfacher, die Betroffenen haben ein Problem. Die Politiker, die jetzt so unschuldig tun und sagen, das müsste man alles glattstreichen und sich hinterher wundern, dass dabei eine Leistungskürzung herauskommt, die werde ich bei Gelegenheit an ihre schönen Worte erinnern. Und am Ende werden ganz andere Beifall klatschen als diejenigen, die sie jetzt meinen.
Wenn wir Bedarfsdeckung wollen, müssen wir akzeptieren, dass Bürgerinnen und Bürger klagen, weil sie meinen, dass ihr Bedarf nicht richtig bemessen sei. Übrigens ergehen jährlich etwa 17 Millionen Bescheide. Die Zahl der dagegen gerichteten Verfahren ist im Verhältnis nicht höher, als sie es früher bei Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe war. Die Klageflut ist eine Schimähre, die auf Unkenntnis beruht. Die Wahrheit ist: Vereinfachen könnten wir die Grundsicherung nur, wenn wir entscheiden würden, es gibt für alle das Gleiche, egal ob es zum Bedarf passt oder nicht. Prokrustes wäre dann das Vorbild. Das geht natürlich auch, aber ich empfehle das nicht. Und wer nach der Methode des Prokrustes verfährt und Antragstellern gewissermaßen die Füße abhackt um im Bild zu bleiben der sollte nicht sagen, er sei es nicht gewesen. Auf der anderen Seite braucht die Umsetzung jeder neuen Regelung Personal, das will ich als zweite Fußnote hinzufügen: Wer meint, Ökokühlschränke für Grundsicherungs-Empfänger seien jetzt dringend notwendig, der muss wissen, das kostet 3000 Sachbearbeiterstellen. Das sollte man gleich mit einkalkulieren und nicht hinterher sagen, wir sollen das Problem lösen.
Insgesamt ich bin fest davon überzeugt, dass die deutliche Stärkung der Arbeitsvermittlung der wichtigste, der eigentliche Reformimpuls der Neufassung von SGB III und SGB II gewesen ist. Wir müssen eine politische öffentliche Debatte darüber führen, dass dafür auch wirklich genug Leute zur Verfügung stehen. Ich wünsche mir, dass wir irgendwann mit wissenschaftlicher Forschung im Rücken sagen können: Das richtige Verhältnis wäre 1 zu 120 was Vermittler zu Arbeitsuchenden betrifft. Oder 1 zu 80. In Großbritannien ist es bei etwas anderer Zählung 1 zu 75 für alle. Wenn jeder Arbeitsvermittler sich um jeden Arbeitsuchenden, für den er zuständig ist, eine Stunde in der Woche kümmern soll, bräuchten wir bei einer 40-Stunden-Woche ein Verhältnis von 1 zu 40. Wer das im Blick hat, weiß, von welch zentraler Bedeutung die Frage ist, was wir da entscheiden und tun.
Ich werbe dafür, dass wir einen Aufbruch wagen und sagen: Wir wollen eine erstklassige Arbeitsvermittlung haben. Wir wollen, dass unsere Arbeitsvermittlung die leistungsfähigste Verwaltung dieses Landes ist, dass wir jede Benchmark mit jeder internationalen Arbeitsvermittlungsinstitution gewinnen dass wir bei der Arbeitsvermittlung schlicht hervorragend sind.
Diese Diskussion wird bisher kaum geführt. Meine Sicht der Dinge ist getragen von dem Optimismus, dass Arbeitsvermittlung hilft. Das ist wissenschaftlich belegt. Natürlich hilft sie nicht gegen alles. Ich habe ja ein strukturelles Problem geschildert, das man nicht allein mit Arbeitsvermittlung beseitigen kann. Aber man kann Arbeitslosigkeit gewaltig reduzieren, selbst wenn man nur die Zeiträume verkürzt, in denen jemand arbeitslos ist.
Für diejenigen, die zweifeln, ein Beispiel aus meiner Arbeit als Anwalt: Einer der letzten Sozialpläne, den ich verhandelt habe, war in einem guten Betrieb im Hamburger Hafen, der Kekse hergestellt hat. Dort haben wir die Einrichtung einer Transfergesellschaft vereinbart, die Arbeitsvermittlung machen sollte. Ich hab mich hinterher oft mit der Frage beschäftigt: Was ist mit den Leuten, die da sind? Und da ist mir eines klar geworden: Jemand, der mit 16 die Schule verlässt, eine Lehre macht und dann in einem Betrieb arbeitet alles zusammen 20 Jahre, jemand der 20 Jahre Arbeitnehmer ist, erstklassiger Facharbeiter im Mittelstand, guter Familienvater, der kann viel und macht gute Sachen. Nur vom einem hat er keine Ahnung: Wie man sich einen Arbeitsplatz sucht. Denn das hat er einmal mit Erfolg gemacht, nämlich als er mit 16 zur Lehre in diesen Betrieb gekommen ist.
Woher nehmen wir eigentlich die Vermutung, dass jemand alles im Tornister hat, was er wissen muss, um eine neue Stelle zu finden, nur weil es von großer Bedeutung für ihn ist? Dass er oder sie weiß, was man verdienen kann. Welche Stellen infrage kommen und welche nicht, wo und wie man sie am besten findet. Ich habe gute Facharbeiter kennengelernt, die das Hamburger Abendblatt aufgeschlagen haben, sich eine einzige passende Stelle ausgesucht haben, dort hingeschrieben haben mit ihren Bewerbungsunterlagen und dann abgewartet haben, wann die Antwort kommt. Es gibt auch weniger extreme Beispiele, aber sie alle konfrontieren uns doch mit der Tatsache, dass wir Absurdes unterstellen: Dass jedem klar wäre, was in einem solchen Fall zu tun ist, dass man sich auskennt. Woher eigentlich? Warum eigentlich? Das ist doch eine Aufgabe, die wir als Gesellschaft zu gewährleisten haben. Das ist die Aufgabe der Arbeitsvermittlung und darum macht sie Sinn. Gerade auch für die, bei denen man denkt, für sie sei es am leichtesten. Und deshalb ist es aus meiner Sicht ein Aufbruchsignal, sich darum zu kümmern.
Der zweite Kern der Reform war, dass wir zwei Zuständigkeiten haben für die Frage der Arbeitslosigkeit. Bei all dem, was jetzt an Diskussionen über die Reform der Arbeitsvermittlung, die Grundsicherungsstellen, die Arbeitsagenturen usw. stattfindet, sollten wir das nicht über Bord werfen. Denn trotz aller Einzelkomplikationen, über die man sich lang verbreiten kann: dass wir eine spezielle Institution haben für die Langzeitarbeitslosen ist fast genial gelöst.
In der inneren Ökonomie einer Institution wie der alten Bundesanstalt für Arbeit war es völlig selbstverständlich, dass es wirtschaftlicher war, sich um die schnell vermittelbaren, gerade arbeitslos Gewordenen zu kümmern und die Langzeitarbeitslosigkeit nicht als Hauptaufgabe zu betrachten. Jeder kennt Ausnahmen, tolle engagierte Leute ich kenne sie auch aber das System war so. Und es gab, wie gesagt, auch gar nicht das Personal, um es anders zu machen, weil wir es ja gar nicht als politisches Thema begriffen haben.
Jetzt gibt es die Arbeitsagentur für die Versicherungskunden und die Arbeitsgemeinschaften insbesondere für die Langzeitarbeitslosen. Auch darunter das ist seither deutlich geworden sind viele, die man schnell vermitteln kann, wenn man sich Mühe gibt. Und viele kann man mit leichtem Aufwand vermittelbar machen. Aber es setzt ja voraus, dass man sich jeden Tag darum kümmert, hinterher ist und guckt, was man tun kann. Es gibt auch Arbeitsuchende, bei denen klappt eine Vermittlung bestenfalls in zehn Jahren, wenn alles Mögliche vorweg gemacht wurde. Gerade da sind viele der Kompetenzen der Gemeinden gefragt, etwa in der Sozialberatung. Und deshalb ist die Zusammenarbeit dort auch hilfreich.
Darum bin ich ernsthaft verärgert darüber, dass ganz anders als im Mai 1969, als das AFG einstimmig beschlossen wurde aus Daffke, denn anders kann man es nicht nennen, eine Koalitionsfraktion einen Kompromiss, der einvernehmlich zustande gekommen ist zwischen sechzehn Ministerpräsidenten und dem Bundesminister für Arbeit, einfach vom Tisch gewischt hat. Das ist ein ungehörter und noch nie dagewesener Vorgang, es ist unverantwortlich und sagt nichts Gutes aus über die, die da agiert haben.
Wir werden trotzdem damit klarkommen. Wir werden alles tun, was in unseren Möglichkeiten steht. Wir haben die auslaufenden ARGE-Verträge alle verlängert, so dass es jetzt Planungssicherheit gibt für dieses und das nächste Jahr, in denen wir mit der Krise zu kämpfen haben. Aber wir werden nach der Bundestagswahl wieder darauf zurückkommen müssen, es sei denn, es gibt doch noch mal einen Anlauf es wie vereinbart zu machen. Dem würde ich mich natürlich nicht entziehen, sondern begeistert mitmachen. Ansonsten werden wir niemanden, weder Beschäftigte noch Arbeitsuchende, im Regen stehen lassen und pragmatisch versuchen weiterzukommen.
Nur eines darf über dem allen nicht verloren gehen: Dass wir versuchen, mit allen Möglichkeiten und Mitteln gegen die Langzeitarbeitslosigkeit vorzugehen und uns Mühe geben, die Vermittler und die Mittel dafür bereitzustellen, die notwendig sind, damit man Bürgerinnen und Bürger mit diesem Schicksal nicht alleine lässt.
Arbeit ist für unsere Gesellschaft von grundlegender Bedeutung. Der volkswirtschaftliche Schwindsuchtsanfall der achtziger Jahre, dass uns die Arbeit ausgehe und wir uns alle Gedanken darüber machen sollten, was wir ohne sie tun, der ist glücklicherweise vorbei. Arbeit wird auch in Zukunft für alle wichtig und notwendig sein. Und auch in künftigen Jahrzehnten werden wir von Arbeit leben. Uns wird die Arbeit nicht ausgehen. Sogar Vollbeschäftigung ist
ich habe es versucht darzustellen möglich. Aber ob alle daran Anteil haben können, dazu haben wir mit der Politik, die wir machen, einen großen Beitrag zu leisten. Wenn wir gemeinsam erfolgreich sind im Sinne des Aufbruchs, den das AFG bedeutet hat, und mit dem Aufbruch, den wir mit der Arbeitsvermittlungsreform neu gewagt haben, dann wäre das eine gute Sache.
Vielen Dank!