Schließlich wird das Leben der Bürgerinnen und Bürger meiner Stadt unmittelbar von den Auswirkungen der Rechtsprechung des Gerichtes berührt. Und als Vertreter eines Stadtstaates bin ich als Regierungschef zugleich Teil des deutschen Gesetzgebungsprozesses, der auf Ihre Entscheidungen reagieren muss.
Ich möchte über die Freizügigkeit in Europa sprechen, die ja auch immer wieder Gegenstand der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes ist.
Die Freizügigkeit von mehr als 500 Millionen EU-Bürgern ist eine der großen Errungenschaften des europäischen Einigungsprozesses. Von ihr profitieren nicht nur Studierende, Familien, Unternehmer und Unternehmen, sondern auch mehr als 200 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Das Recht der Arbeitskräfte, sich ihren Arbeitsort und damit verbunden ihren Wohnort selbst wählen zu können, erfreut sich großer Beliebtheit.
Der Wegfall der Grenzkontrollen und die Freizügigkeit haben, wie die gemeinsame Währung, die Entfaltungsmöglichkeiten unzähliger Europäerinnen und Europäer sowie fast aller europäischer Unternehmen verbessert. Daran sei auch in der aktuellen Debatte einmal nüchtern erinnert: Offene Binnengrenzen sind eine Errungenschaft.
Die Freizügigkeit sehe ich als eine unverzichtbare Voraussetzung für den Euro, der mittlerweile in der Mehrheit der Mitgliedsstaaten gilt. Wer den Euro will, braucht mobile Arbeitskräfte. Mit der Einführung des Euro und der Schaffung der Europäischen Zentralbank, die die Kompetenzen der nationalen Zentralbanken übernahm, ist in Europa ein gemeinsamer Währungsraum entstanden. Fast alle Ökonomen sind sich einig, dass eine gemeinsame Währung die Freizügigkeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer voraussetzt. Nach Mundells Theorie optimaler Währungsräume kann eine Währungsunion sogar nur gelingen, wenn sich Volkswirtschaften zusammenschließen, deren Arbeitskräfte hochmobil sind.
Die Freizügigkeit der Arbeitskräfte ist in Europa mittlerweile gelebte Realität, wie die Zuwanderung von Fachkräften aus Spanien, Italien und Griechenland im Zuge der dortigen Wirtschafts- und Finanzkrise in jüngster Zeit belegt.
Bisher funktioniert die Freizügigkeit ohne allzu große Verwerfungen. Zur Wahrheit gehört aber auch: einzelne Regionen und Städte in der EU, auch in der Bundesrepublik, leiden unter dem Missbrauch der Möglichkeiten der Freizügigkeit. Kein Wunder also, dass sich nun auch der Europäische Gerichtshof und das Bundessozialgericht dieses Themas annehmen.
Die Probleme rühren her aus einer europäischen Besonderheit. Zwar herrscht auch in den Vereinigten Staaten von Amerika für die mehr als 300 Millionen Einwohner die komplette Freizügigkeit; und auch dort gibt es natürlich eine einheitliche Währung. Sogar die Unterschiede in den Lebensverhältnissen sind zwischen Massachusetts und Mississippi nicht viel geringer als in Europa, z.B. zwischen Schweden und Rumänien. Gleichwohl funktioniert die Arbeitsmigration, das müssen wir zugeben, innerhalb der USA viel reibungsloser als in Europa. Wer in Illinois keine Zukunft mehr für sich sieht, geht eben nach Kalifornien.
Der entscheidende Unterschied? In den USA gibt es einheitliche Regeln für die Sozialhilfe. Trotz Unterschieden zwischen den Einzelstaaten werden die wesentlichen Entscheidungen zentral und bundesweit in Washington getroffen.
In Europa ist das anders. Die sozialstaatlichen Traditionen der europäischen Länder sind sehr unterschiedlich. Und ihre Vereinheitlichung ist auf absehbare Zeit ausgeschlossen, weil die wohlhabenden Länder dafür ihr sozialstaatliches Niveau massiv absenken müssten auf den EU-Durchschnitt, was niemand akzeptieren würde.
Nur zur Veranschaulichung: der deutsche Mindestlohn liegt bei 1.473 Euro im Monat. In anderen Ländern der Europäischen Union liegt er weit darunter; bei 430 Euro (Estland), bei 370 Euro (Lettland), bei 350 Euro (Litauen), bei 431 Euro (Polen), bei 366 Euro (Tschechien), bei 405 Euro (Slowakei), bei 233 Euro (Rumänien), bei 214 Euro (Bulgarien), bei 353 Euro (Ungarn), bei 408 Euro (Kroatien), bei 683 Euro (Griechenland), bei 618 Euro (Portugal). Der (Brutto-) Mindestlohn bei Vollzeitarbeit liegt in allen diesen Ländern unter dem Betrag, den wir in Deutschland für Lebensunterhalt und Unterkunft an einen alleinstehenden Arbeitslosen netto überweisen, nämlich ungefähr 750 Euro zuzüglich Krankenversicherung. Die Mindestlöhne in Spanien (764 Euro) und Malta (728 Euro) liegen mal gerade auf diesem Niveau.
Deshalb muss die Europäische Union ein Dilemma lösen, das sich aus den im Vergleich zu den USA sehr unterschiedlichen Sozialstaats-Niveaus innerhalb der EU ergibt und direkt mit der Freizügigkeit zusammenhängt.
Freizügigkeit bedeutet, seinen Arbeitsort frei wählen zu können, aber beinhaltet keineswegs das Recht, sich den Ort aussuchen zu können, an dem man Sozialleistungen bezieht.
Der Sozialstaat, der in den USA nach wie vor relativ schwach ausgeprägt ist, entstand dort nahezu ausschließlich auf Initiative der Zentralregierung in Washington, nicht in den einzelnen Bundesstaaten. In Europa sind die sozialstaatlichen Traditionen älter und tiefer verwurzelt. Die Herausbildung sozialstaatlicher Strukturen ist an die unterschiedlichen Nationalstaaten gebunden. Am anschaulichsten wird das bei dem schwedischen Konzept des Volksheims, das die dortigen Sozialdemokraten aufgegriffen und zu einem allseits anerkannten Staatsziel entwickelt haben. Verallgemeinert heißt das: Wer innerhalb der Grenzen lebt, kann mit der Solidarität der Einheimischen rechnen. Und eben auch: Wer außerhalb dieser Grenzen lebt, nicht; jedenfalls nicht im gleichen Maße.
Nun sind die Grenzen innerhalb Europas, zumindest innerhalb der Europäischen Union, nahezu verschwunden und wir wollen alle hoffen, dass das so bleibt. Mehr als 500 Millionen EU-Bürgerinnen und Bürger genießen die Freizügigkeit, was eine enorme Entwicklung darstellt, aber auch eine massive Veränderung. Eine Veränderung, die von manchen juristisch wie intellektuell noch nicht ausreichend verstanden ist, wie mir scheint.
Ziemlich unproblematisch funktioniert die Freizügigkeit für Selbstständige und Arbeitnehmer, die eine Stelle haben. Nachwirkend haben auch ehemalige Selbständige und Arbeitnehmer eine sichere Perspektive in ihrer neuen Heimat. Es gibt praktikable Lösungen für das Zusammenleben der Familien. Auszubildende und Studenten begegnen ebenfalls wenigen Hürden. Und auch wer über ausreichende finanzielle Mittel verfügt, kann eigentlich überall in Europa wohnen.
Anders verhält es sich aber mit jenen Unionsbürgern, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt oder ergab. Hier stellt sich die Frage, ob diese Unionsbürger, wenn sie keinen Erfolg mit der Arbeitssuche haben, trotzdem in den Genuss von Leistungen des neuen Aufenthaltslandes kommen können. Hierzu gibt es zwei gegensätzliche rechtliche Bewertungen: Der EuGH hat in mehreren Entscheidungen erklärt, dass ein Leistungsausschluss für diese Personen unionsrechtlich zulässig ist.
Das Bundessozialgericht hingegen verweigert sich dieser Sichtweise und zwar entgegen des sehr eindeutigen Willens des deutschen Gesetzgebers. Ich beziehe mich auf die Grundsatzentscheidung des 4. Senates des Bundessozialgerichtes vom 3.12.2015 (B 4 AS 44/15 R) und weitere Entscheidungen, die in die gleiche Richtung gehen.
Dazu nimmt das Gericht unter anderem an, dass eine Verfestigung des Aufenthaltes bereits nach sechs Monaten eintritt. Eine Annahme, für die es keinerlei Grundlage gibt. Das Unionsrecht erkennt ein solches, ansonsten voraussetzungsloses Daueraufenthaltsrecht erst nach fünf Jahren Aufenthalt an.
Und das Gericht interpretiert eine im Einzelfall mögliche Leistungsgewährung in diesem Fall zu einer Leistungspflicht um. Nicht nur für mich ist das eine schwer nachzuvollziehende Auslegung.
Aber um die Wege der richterlichen Rechtsfortbildung und ihre juristische Berechtigung soll es hier nicht gehen.
Ich spreche ja als Bürger Europas und als deutscher Politiker zu Ihnen. Und als solcher bin ich mit den Konsequenzen der Entscheidungen des Gerichts nicht einverstanden. Denn sie sind mit einem funktionierenden Regime der Freizügigkeit in Europa schlichtweg nicht zu vereinbaren.
Die intellektuelle Grundlage der jüngsten Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes ist ein Zaun. Und zwar ein Zaun rund um Deutschland herum, wie ihn nicht einmal Horst Seehofer will, und der für Arbeitssuchende schwer überwindbar ist. Denn nur ein solcher Zaun würde gewährleisten, dass niemand nach Deutschland kommt, der später hier auf Sozialleistungen angewiesen ist.
Nein, das stimmt nicht ganz. Nichts ist alternativlos: Das Gericht schlägt deshalb vor, hierzulande einen effizienten Überwachungsmechanismus für die Bürgerinnen und Bürger anderer EU-Länder zu etablieren. Bereits drei Monate nach ihrer Einreise jedes EU-Inländers sollen die deutschen Behörden prüfen, ob die Voraussetzungen für die Freizügigkeit bestehen. Einmal abgesehen davon, dass so ein Mechanismus heute nicht existiert und dafür ein riesiger Überwachungsapparat aufgebaut werden müsste, ist es damit aber nicht genug. Da nicht jeder EU-Bürger die Angewohnheit hat, sich freiwillig bei den Behörden zu melden, müsste der Staat Straßenkontrollen durchführen, um diese Personen aufzuspüren. Ob das alles dem unionsrechtlichen Freizügigkeitsgedanken entspricht, der eine Freizügigkeitserlaubnis mit Verbotsvorbehalt unterstellt, darf stark bezweifelt werden.
Ich finde es zynisch, einerseits dauerhafte Sozialleistungsansprüche zu gewähren, die weit über die vom EU-Recht und vom deutschen Gesetzgeber gewollten Zeiträume hinausgehen. Und andererseits den Ausländerbehörden nahezulegen, Unionsbürger ausgerechnet wegen dieses Sozialleistungsbezuges abzuschieben. Das ist weder im europäischen Sinne noch wirklich eine humane Idee.
Das europäische Recht, die nationalen Gesetze und die Rechtsprechung der obersten Gerichte müssen davon ausgehen, dass EU-Bürger, die der Arbeit wegen in einen anderen EU-Staat einwandern, in ihrem Herkunftsland über ausreichende soziale Sicherheit verfügen. Anders lässt sich die Interoperabilität der heterogenen Sozialsysteme in einem Europa der Freizügigkeit nicht gewährleisten. Anders als in den hoffentlich hinter uns liegenden Zeiten nationaler Grenzen kann im heutigen Europa nicht bereits mit dem legalen Überschreiten der nationalen Grenze das dauerhafte Solidaritätsversprechen des neuen europäischen Aufenthaltslandes gelten.
Deshalb wird der deutsche Gesetzgeber seine Haltung zu dieser Frage durch eine präzisierte Gesetzgebung klarstellen. Unionsbürger, deren Aufenthaltsrecht sich alleine aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt oder ergab, müssen von hiesigen Leistungen ausgeschlossen bleiben. Das gleiche gilt für Unionsbürger ohne Aufenthaltsrecht. Daneben sollte meiner Meinung nach neu ein Anspruch auf eine Ausreisehilfe etabliert werden, den Unionsbürger beanspruchen können. Er könnte zeitlich befristete Mittel z.B. längstens für einen Monat für (ggfs. reduzierte) Unterhaltssicherung und für Unterkunft sowie finanzielle Unterstützungen für die Rückfahrt enthalten.
Eine solche Gesetzgebung dürfte auch mit der Rechtsprechung des BVerfG vom 18. Juli 2012 (1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11, BVerfGE 132, 134 179) vereinbar sein. Denn aus dieser höchstrichterlichen Rechtsprechung ergibt sich in keiner Weise, dass ein Unionsbürger nicht auf das Solidaritätssystem seines europäischen Heimatlandes verwiesen werden darf. Anders als bei Asylbewerbern, die ja gerade Schutz vor den Lebensumständen ihres Heimatlandes suchen, ist es in solchen Fällen möglich. Mehrere Sozialgerichte und Landessozialgerichte haben das so gesehen. Der Gesetzgeber befindet sich mit seiner Sichtweise also in guter Gesellschaft.
Die Freizügigkeit stellt alte Gewissheiten in Frage. Nicht nur der Gesetzgeber muss sich auf die veränderten Zeiten einstellen. Auch die Rechtsprechung. Die europäische Freizügigkeit ist eine so herausragende Errungenschaft und konkrete Verbesserung unseres Lebens, dass wir unsere Rechtsprobleme in ihrem Verständnis neu durchdenken sollten.