Olaf Scholz: Ich setze auf den Pragmatismus der Briten. Es ist im Interesse Großbritanniens und in unserem Interesse, dass das Land EU-Mitglied bleibt.
"Welt am Sonntag": Wieso treten Sie in Großbritannien nicht an der Seite Ihres Parteifreundes, Labour-Chef Jeremy Corbyn auf und werben für einen Verbleib in der EU?
Olaf Scholz: Ich hatte bereits im Februar sehr bewusst Premier Cameron und die Kanzlerin zum traditionsreichen Matthiae-Mahl nach Hamburg eingeladen um ein Signal zu setzen, wie wichtig uns die Briten sind. Ich wünsche mir eine vernunftgeleitete Debatte. Der Mord an der Labour-Abgeordneten Jo Cox ist furchtbar und hat uns alle tief erschüttert.
"Welt am Sonntag": War es ein Fehler, dass David Cameron diese Abstimmung durchgesetzt hat?
Olaf Scholz: Das ist letztlich egal. Wichtig ist, dass die Briten in der EU bleiben. In einer Welt von bald zehn Milliarden Menschen ist ein Europa der 500 Millionen nur stark, wenn es zusammensteht als Einzelstaaten verlieren wir an Bedeutung. Großbritannien ist mit seiner großen Tradition von Demokratie und Rechtsstaat ein wichtiger Teil Europas. Ich bin guten Mutes, dass sich das am 23. Juni zeigen wird.
"Welt am Sonntag": In ist in, out ist out, sagt Wolfgang Schäuble. Hat er Recht?
Olaf Scholz: Ja, die Kernfrage des Referendums lautet: Draußen oder drinnen. Jeder in Großbritannien weiß doch, dass er sich entscheiden muss zwischen heiß oder kalt lauwarm ist keine Alternative. Die EU vergibt keine halben Mitgliedschaften.
"Welt am Sonntag": Sie haben also die Vereinigten Staaten von Europa noch nicht aufgegeben?
Olaf Scholz: Der Begriff ist sehr weitgehend, auch wenn ihn die SPD schon 1925 proklamiert hat. Wir brauchen mehr Europa, aber nicht überall und sofort. Die Freizügigkeit von 500 Millionen EU-Bürgern etwa ist eine der großen Errungenschaften. Gleichzeitig haben wir 28 unterschiedliche sozialstaatliche Traditionen in der EU, mit sehr unterschiedlichen Leistungsniveaus. Deshalb müssen wir Regeln finden, damit die Freizügigkeit nicht dazu führt, dass alle EU-Bürgerinnen und Bürger dahin ziehen, wo sie die besten Sozialleistungen erhalten. Wer etwa von Spanien nach Schweden geht, dort aber arbeitslos bleibt, hat keine Ansprüche im schwedischen Sozialsystem, sondern nur im spanischen.
"Welt am Sonntag": Beginnt das große Feilschen mit Großbritannien nicht erst, sofern die Briten in der EU bleiben?
Olaf Scholz: Was stört Sie eigentlich daran, wenn man miteinander verhandelt? Solche mitunter ruppigen Verhandlungen gehören doch zur Demokratie. Danach rauft man sich zusammen. Nur in sehr poetisch verfassten Lehrbüchern wird Politik als eine elegante Veranstaltung beschrieben.
"Welt am Sonntag": Romantische Vorstellungen gibt es auch in Bezug auf den Bundespräsidenten, der nobel und überparteilich sein soll. Was spricht eigentlich gegen einen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier?
Olaf Scholz: Natürlich nichts. Frank-Walter Steinmeier ist ein großartiger Außenminister, der das Amt des Bundespräsidenten hervorragend ausüben könnte da wird mir wohl jeder in Deutschland Recht geben.
"Welt am Sonntag": Wieso hat Ihre Partei Steinmeier dann noch nicht vorgeschlagen?
Olaf Scholz: Bundespräsident Gauck ist noch fast ein dreiviertel Jahr im Amt, da gebietet es der Respekt, jetzt nicht schon über die Nachfolge zu spekulieren. Eine Kandidaten-Debatte wäre völlig verfrüht. Deshalb machen wir und auch ich jetzt hier in der "Welt am Sonntag" keinen Vorschlag.
"Welt am Sonntag": Eines spricht vermutlich aus SPD-Sicht gegen einen Bundespräsidenten Steinmeier: er kann dann nicht mehr Kanzlerkandidat werden.
Olaf Scholz: Das eine hat doch mit dem anderen nichts zu tun.
"Welt am Sonntag": Sie wollen behaupten, die Wahl des Staatsoberhauptes hat keinen Einfluss auf die Bundestagswahl ein halbes Jahr später?
Olaf Scholz: Ja, das will ich behaupten. Für das Amt des Bundespräsidenten sollten wir gemeinsam nach einer Integrationsfigur suchen. Natürlich muss eine solche Figur kein politisches Neutrum sein, sondern kann eine parteipolitische Vergangenheit haben. Es wäre schön, wenn sich die Regierungsparteien CDU/CSU und SPD auf jemanden verständigen könnten, am liebsten gemeinsam mit den Grünen. Vermeiden sollten wir eines: Die Wahl einer Person, bei der sich sofort die Frage anschließt, warum ausgerechnet sie jetzt Präsident geworden ist.
"Welt am Sonntag": Ist die Zeit reif für eine Frau im Schloss Bellevue?
Olaf Scholz: Wir suchen eine Persönlichkeit, bei der fast alle sagen: Das wäre eine gute Präsidentin, ein guter Präsident. Die Zeit für eine Frau in Schloss Bellevue ist schon lange reif.
"Welt am Sonntag": Frauen stellt die SPD nur auf, wenn sie keine Chance haben, gewählt zu werden, oder?
Olaf Scholz: Den Witz kenne ich ...
"Welt am Sonntag": ... Empirie, kein Witz ...
Olaf Scholz: ... Wir werden eine gute Kandidatin unterstützen oder einen guten Kandidaten. Aber weder in dieser Woche noch in diesem Monat.
"Welt am Sonntag": Herr Scholz, wir müssen Ihnen noch gratulieren. Sie sind kürzlich mit 97,4 Prozent zum SPD-Vorsitzenden in Hamburg wiedergewählt worden. Welche Tipps geben Sie Ihrem 74-Prozent-Vorsitzenden Sigmar Gabriel?
Olaf Scholz: Sigmar Gabriel hat als Parteivorsitzender auch schon sehr, sehr gute Ergebnisse bekommen und wird sie auch wieder bekommen.
"Welt am Sonntag": Hat Thomas Oppermann recht, wenn er sagt: Sigmar Gabriel ist der unbestrittene Vorsitzende der SPD?
Olaf Scholz: Ja.
"Welt am Sonntag": Ist die SPD nicht eine traditionell streitende Partei?
Olaf Scholz: Nein, trotz der wenig erfreulichen Umfragewerte ist die SPD doch so geschlossen wie lange nicht. Tief zerstritten sind hingegen CDU und CSU, über deren Beziehungskrisen können wir ja fast täglich lesen.
"Welt am Sonntag": In den beiden letzten Wahlkämpfen fehlte Ihrer Partei eine Machtperspektive. Wie sieht diese vor der Wahl 2017 aus?
Olaf Scholz: Es gibt in Deutschland zwei Volksparteien: SPD und CDU/CSU: Beide Parteien können das Kanzleramt erobern. Die SPD ist Kanzler-Partei. Wenn wir einen Kandidaten aufstellen, den die Bürgerinnen und Bürger als Kanzler wollen, wirkt sich das bei Wahlen aus, das gibt schnell zehn Prozentpunkte obendrauf. Für die SPD sind 30 Prozent plus x zu schaffen.
"Welt am Sonntag": Muss sich der Vorsitzende der SPD in der Lage sehen, das Land zu regieren?
Olaf Scholz: Natürlich. Deshalb ist ein SPD-Vorsitzender immer ein guter Kanzlerkandidat.
"Welt am Sonntag": Also muss Sigmar Gabriel antreten, und kann nicht zum zweiten Mal einen anderen Kandidaten ins Rennen schicken?
Olaf Scholz: Diese Frage wollen wir Anfang nächsten Jahres entscheiden und der Parteichef wird dazu einen Vorschlag machen.
"Welt am Sonntag": Ist Martin Schulz ein geeigneter Kanzlerkandidat?
Olaf Scholz: Die SPD hat eine ganze Reihe von Männern und Frauen, die dieses Amt wahrnehmen können. Das macht unsere Stärke aus.
"Welt am Sonntag": Frau Merkel regierte einst und jetzt mit der SPD, früher mit der FDP, eines Tages womöglich mit den Grünen. Wäre nicht eine Begrenzung der Amtszeit eine Möglichkeit, solche Dauer-Regentschaften zu verhindern?
Olaf Scholz: Ich halte eine solche Begrenzung für völlig unnötig, denn es gibt ein viel einfacheres Mittel: die nächste Bundestagswahl. Wenn die SPD stärkste Partei wird, sieht die politische Landschaft gleich ganz anders aus.
"Welt am Sonntag": Im Jahre 2015 hieß Frau Merkel die Flüchtlinge willkommen. Heute machen die Balkanstaaten die dreckige Arbeit für die Deutschen, indem sie die Grenzen geschlossen halten...
Olaf Scholz: Der Kanzlerin für alles die Schuld zu geben, überlasse ich gerne ihren Parteifreunden. Es war richtig, dass Deutschland im vergangenen Herbst Verantwortung für die Flüchtlinge übernommen hat, auch wenn schon damals eine gesamt-europäische Lösung nötig gewesen wäre und es klug gewesen wäre, gleich eine solche Lösung anzustreben.
"Welt am Sonntag": War die Schließung der Balkonroute richtig?
Olaf Scholz: Es war richtig, zu einer Vereinbarung mit der Türkei zu kommen, damit wir zurück zu einer geregelten Einreise in die Europäische Union gelangen. Die EU-Außengrenzen müssen gesichert sein und zugleich müssen sie passierbar bleiben, auch für Flüchtlinge, wenn sie glaubhafte Fluchtgründe nachweisen können.
"Welt am Sonntag": Der türkische Präsident Erdogan beschimpft türkischstämmige Bundestagsabgeordnete ...
Olaf Scholz: ... unter ihnen zwei direkt gewählte Hamburger SPD-Abgeordnete mit türkischen Wurzeln.
"Welt am Sonntag": Muss die Bundesregierung dagegen entschlossener auftreten?
Olaf Scholz: Die absurden Vorwürfe von Herrn Erdogan gegen deutsche Abgeordnete müssen wir entschieden zurückweisen. Ich denke, dass das auf diplomatischem Wege noch deutlich härter geschieht als öffentlich wahrgenommen. Ich würde das aber nicht vermengen mit unserer gegenseitigen Unterstützung in der Flüchtlingspolitik.
"Welt am Sonntag": Verlässt sich die EU zu stark auf Erdogan?
Olaf Scholz: In der Weltpolitik kann man sich nicht immer aussuchen, mit wem man zu tun hat.
"Welt am Sonntag": Die Türkei in der EU ist heute eine Chimäre, oder?
Olaf Scholz: Gegenwärtig fällt es schwer sich vorzustellen, dass die Türkei schon bald EU-Mitglied sein wird. Wichtig ist aber, dass wir dem Land eine Perspektive für einen Beitritt bieten, denn das kann Reformkräfte freisetzen. Klar ist aber: Es gibt keine Rabatte bei den Werten, die uns in der Europäischen Union wichtig sind. Nur wer unsere Prinzipien akzeptiert, kann Teil der EU sein.
"Welt am Sonntag": Lange hat sich die SPD primär um Rentner und das Prekariat gekümmert. Nun mahnen Sie Entlastungen für Arbeitnehmer an. Wo?
Olaf Scholz: Ihr Eindruck täuscht, die SPD ist eine Volkspartei. Wir machen Politik für alle, die tüchtig sind, hart arbeiten und sich an die Regeln halten, wie Bill Clinton mal gesagt hat. Und auch für alle, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Die Einkommen der Mittelschicht in allen Industrieländern stagnieren seit Jahrzehnten, im unteren Segment gehen sie teils sogar zurück, darum kümmern wir uns. Wer sich anstrengt im Leben, muss gut klarkommen können. Jetzt müssen wir gucken, ob bei Handwerkern und Verkäufern, Professorinnen und Ärzten, Soldaten und Polizistinnen dieses Versprechen eingelöst wird.
"Welt am Sonntag": Die Union fordert schon jetzt Steuersenkungen. Wird die SPD wieder mit dem Ruf nach diversen Steuererhöhungen antreten und vor die Wand rennen?
Olaf Scholz: Wenn die Union jetzt vollmundig Steuersenkungen fordert, sind das leere Versprechungen, denn wegen der Schuldenbremse gibt es dafür kaum Raum. Und alle Bürgerinnen und Bürger haben ein großes Interesse daran, dass die öffentliche Hand finanziell so ausgestattet ist, dass sie ihren Aufgaben gerecht werden kann.
Das Interview führten Daniel Friedrich Sturm und Stefan Aust.