"Die Zeit": Herr Scholz, welches Argument gegen die große Koalition gibt Ihnen wirklich zu denken?
Olaf Scholz: Dass der demokratische Wettbewerb leiden könnte. Eine große Koalition ist ja eine besondere Regierungsvariante. Sie ist nur dann gerechtfertigt, wenn es anders nicht geht. Nach dem Scheitern der Jamaika-Gespräche ist das jetzt der Fall. Nur so kann eine mehrheitsfähige Regierung gebildet werden.
"Die Zeit": Wie wollen Sie verhindern, dass die Demokratie leidet, weil eine große Koalition die Unterschiede zwischen Mitte-Links und Mitte-Rechts weiter einebnet?
Olaf Scholz: Ich glaube gar nicht, dass eine große Koalition die Unterschiede zwischen uns und der Union einebnet. Viele reden so, als gäbe es diese Unterschiede nicht mehr und darin liegt eine große Gefahr. Ich halte solche Behauptungen für antidemokratisch, sie wiederholen die Argumente der Populisten. Tatsächlich ist es so: Wir haben nächtelang mit CDU und CSU verhandelt, und ich bin jeden Abend mit der Gewissheit nach Hause gegangen, genau zu wissen, warum ich mit 17 Jahren in die SPD eingetreten bin. Für mich ist nach allem aber völlig klar, dass wir auch bei konstruktiver Zusammenarbeit in einer Koalitionsregierung mit CDU und CSU die Unterschiede zwischen den Parteien stärker werden betonen müssen.
"Die Zeit": In einer zu Wochenbeginn veröffentlichten Umfrage liegt die SPD bundesweit erstmals hinter der AfD, erreicht nur noch 15 Prozent der Wähler. Das wirkt, als hätten die Bürger ihr Urteil bereits gesprochen.
Olaf Scholz: Unser Ehrgeiz muss es sein, dass mehr Bürgerinnen und Bürger in vier Jahren die SPD wählen, damit wir gewinnen.
"Die Zeit": Herr Scholz, wir wollen mit Ihnen vor allem drei Fragen diskutieren: Warum sollte es ausgerechnet jetzt gelingen, den Niedergang der SPD zu stoppen, der seit 2005 anhält? Warum sollte die Trendwende ausgerechnet durch eine Politik der Mitte gelingen, die die SPD dahin geführt hat, wo sie jetzt steht? Und warum sollte ausgerechnet Ihnen diese Trendwende gelingen, da die Partei Sie ausweislich Ihres Wahlergebnisses vom letzten Parteitag eher skeptisch sieht?
Olaf Scholz: Dann legen Sie mal los.
"Die Zeit": Warum sollte der Niedergang der SPD ausgerechnet jetzt enden?
Olaf Scholz: Unter anderem weil Partei und Fraktion hoffentlich künftig von einer Person geführt werden, die nicht der Regierung angehört, nämlich von Andrea Nahles. Damit bildet die SPD ein eigenständiges Kraftzentrum im Gefüge der künftigen Regierungskonstellation. Dieses Kraftzentrum aus Partei und Fraktion kann unbefangener politische Perspektiven entwickeln, die über das hinausweisen, was in der Koalition vereinbart ist. Willy Brandt hat gezeigt, dass das möglich ist: Die Ostpolitik, die er als Kanzler umgesetzt hat, hat die SPD in der großen Koalition von 1966 bis 1969 vorbereitet.
"Die Zeit": Im Umkehrschluss heißt das: Die SPD hat die vergangenen Jahre inhaltlich verschlafen.
Olaf Scholz: Naja. Wir hatten zumindest keinen Überschuss an Zukunftsvorstellungen für die weitere Entwicklung unseres Landes und Europas. Reine Bilanzwahlkämpfe, in denen man erzählt, was man alles geleistet und wie viele Versprechen man umgesetzt hat, sind selten erfolgreich. Die Krise der europäischen sozialdemokratischen Parteien, die Wahl Trumps, der Brexit zeigen doch: Überall in den klassischen Industrieländern blicken allmählich immer mehr Bürgerinnen und Bürger verunsichert und manchmal auch ängstlich in die Zukunft. Wenn es uns gelingt, plausible Antworten zu geben auf die Veränderungen, die mit dem Second Machine Age einhergehen, die mit der Globalisierung und der Digitalisierung verbunden sind, gewinnen wir wieder mehr Rückhalt.
"Die Zeit": Nach der Wahlniederlage sagte Martin Schulz, die SPD habe das Thema Europa unterspielt. Sigmar Gabriel sagte, die SPD habe das nationale Schutzbedürfnis der Leute unterschätzt. Was sagen Sie?
Olaf Scholz: Sozialdemokratische Parteien verlieren immer dann an Zustimmung, wenn sie nicht mehr daran glauben, dass mit demokratischer Politik das Leben der Bürgerinnen und Bürger besser gemacht werden kann. Wer denkt, dass früher alles besser war, wählt keine fortschrittlichen Parteien. Das steht fest: Die Folgen von Globalisierung und Digitalisierung können wir nur im Rahmen der Europäischen Union bewältigen. In einer Welt mit bald zehn Milliarden Einwohnern liegt unsere Zukunft sicherlich in einem weiterentwickelten Europa und nicht in nationaler Abschottung. Mir ist aber als Antwort auf die erste Ihrer drei Fragen noch etwas anderes wichtig.
"Die Zeit": Und zwar?
Olaf Scholz: Die SPD muss geradlinig sein. Mal in die eine Richtung blinken, mal in die andere woher sollen die Menschen wissen, wofür wir stehen? Erfolgreich sind wir, wenn jemand, der unser Wahlprogramm nicht kennt, trotzdem weiß, woran er mit uns ist. Und deshalb darf es keinen Zickzack-Kurs geben.
"Die Zeit": Wie unter Gabriel und Schulz?
Olaf Scholz: Das ist mir jetzt zu billig. Es geht doch darum, eine gemeinsame Mission zu entwickeln. Da hilft kein Spruch, keine schnelle Überschrift. Und noch etwas ist mir wichtig: In der Welt, in der wir leben, wird es trotz des großen Bildungsfortschritts nicht so sein, dass alle Bürger Akademiker werden. Wenn auf Parteitagsreden gesagt wird, wir müssten uns endlich mal wieder um Krankenpfleger, Polizistinnen oder Bandarbeiter kümmern, dann klingt das für mich sehr von oben herab. Dann sprechen wir über die. Wir müssen aber als Genossen sprechen. Wenn Bürgerinnen und Bürger das Gefühl haben, nicht ernst genommen zu werden, wählen sie irgendwann irgendeinen Trump. Das ist etwas, woran auch Clinton gescheitert ist.
"Die Zeit": Warum sollte die Erneuerung der Sozialdemokraten ausgerechnet durch eine Politik der Mitte gelingen, die die SPD dahin geführt hat, wo sie jetzt steht?
Olaf Scholz: Die SPD ist die linke Partei der Mitte, das steht doch außer Frage. Im Koalitionsvertrag haben wir vereinbart, einen Teil der Kosten für die Krankenkassenbeiträge wieder zu den Unternehmen zu schieben, wo sie auch hingehören. Das ist sogar klassisch links. Als Erster Bürgermeister von Hamburg habe ich den Aufwand für Bildung und Betreuung erheblich erhöht. Das könnte man auch klassisch links nennen. Es wird auch ordentliche Verbesserungen bei den Löhnen geben, zum Beispiel in der Pflege. Ich halte das für absolut nötig: Wir müssen der von vielen und da passt der Begriff dann auch Neoliberalen formulierten Idee entgegentreten, wonach ständige Lohnsenkungen die einzig mögliche Antwort auf die Globalisierung sind. Die sozialdemokratische die linke, wenn Sie so wollen Antwort lautet, dass gute Löhne und gute Lebensbedingungen sehr wohl möglich sind, wenn wir es schaffen, dass die wirtschaftliche Dynamik auch künftig genügend und ordentliche Arbeitsplätze ermöglicht.
"Die Zeit": Warum sagt Juso-Chef Kevin Kühnert dann: Ich halte Opposition auch deshalb jetzt für besser, weil der Koalitionsvertrag die Fortsetzung eines Politikstils ist, der im September von den Wählern abgestraft wurde?
Olaf Scholz: Ich teile seine Meinung nicht. Eines darf sich aber in der Tat nicht fortsetzen, nämlich der Eindruck, dass wir uns taktisch verhalten. Oft wird zu viel darüber diskutiert, was eine Entscheidung der Partei bringt. Als Bürger muss man da den Eindruck bekommen, es gehe der SPD nicht um die Sache, sondern nur um sich. Das muss sich ändern.
"Die Zeit": Bislang hieß es vor allem: Wir müssen die GroKo machen, weil eine Minderheitsregierung oder Neuwahlen keine Alternative wären. Worin liegt denn der Mehrwert einer Groko für das Land, außer dass sie alternativlos ist?
Olaf Scholz: Es gibt erstens ein großes nationales Anliegen Deutschlands, und das ist die Weiterentwicklung der Europäischen Union. Ob die einen guten Verlauf nimmt, entscheidet sich in den nächsten ein bis zwei Jahren. Und es wäre schon gut, wenn die SPD beeinflusst, was geschieht. Und zweitens ist in Zeiten, die schwieriger werden und in der sich die Lebensverhältnisse schnell ändern, die Verbesserung des sozialen Zusammenhalts wichtig. Und das ermöglichen die Errungenschaften des Koalitionsvertrages, die die SPD durchgesetzt hat.
"Die Zeit": Aber warum sollte ausgerechnet Ihnen die Erneuerung der SPD gelingen, wo die Partei Sie doch so skeptisch sieht?
Olaf Scholz: Ich bin Teil der Führung der SPD, ich habe auf Parteitagen mal bessere und mal schlechtere Wahlergebnisse erzielt und schon lange aufgehört, nachzuforschen, woran es jeweils gelegen hat. Die Erneuerung der SPD wird nur als Gemeinschaftsleistung gelingen, und dazu will ich gern meinen Teil beitragen.
"Die Zeit": Was ist Ihr Anteil an der derzeitigen Lage der SPD?
Olaf Scholz: Es gibt niemanden in der SPD-Führung, der sagen kann, er hätte damit nichts zu tun. Die Fragen, die wir gerade in unserem Gespräch verhandeln, treiben mich allerdings schon lange um.
"Die Zeit": Haben Sie intern geschwiegen oder Ihre Kritik offen vorgebracht?
Olaf Scholz: Meine Vorstellungen sind den Führungsgremien bekannt. Ich habe mir sogar die Mühe gemacht, im vergangenen Frühjahr ein ganzes Buch darüber zu veröffentlichen.
"Die Zeit": Erklären Sie unseren Lesern doch mal, warum so viele in der SPD so schlecht auf Sigmar Gabriel zu sprechen sind.
Olaf Scholz: Sigmar Gabriel hat sich Verdienste als Parteivorsitzender erworben und ist ein beliebter Außenminister. Auch die anderen Minister und Ministerinnen der SPD haben übrigens gute Arbeit geleistet. Wir führen gar nicht die Personaldebatte, von der ich immer wieder lese, dass wir sie führen würden.
"Die Zeit": Aber Gabriel führt diese Debatte, er macht Werbung in eigener Sache.
Olaf Scholz: Ich kann Ihnen nur den Eindruck aus den Mitgliederveranstaltungen wiedergeben. Da geht es um Sachthemen, nicht um Personen. Wenn überhaupt, dann wird gesagt, dass die Performance der Parteispitze nicht vorbildlich war. Da kann man ja schlecht widersprechen.
"Die Zeit": An welchem Punkt im Wahlkampf ist Ihnen klar geworden, dass die Performance nicht vorbildlich ist?
Olaf Scholz: Ich möchte jetzt nicht zurückschauen. Wir haben alle engagiert gekämpft.
"Die Zeit": Haben Sie in der letzten Ausgabe der "Zeit" den Artikel über den Streit zwischen Martin Schulz und Sigmar Gabriel gelesen?
Olaf Scholz: Ja.
"Die Zeit": In diesem Artikel lassen beide, Schulz wie Gabriel, durchblicken, dass sie über einen Dritten gestolpert seien über Sie. War das so?
Olaf Scholz: Das habe ich nicht darin gelesen und es trifft auch nicht zu.
"Die Zeit": Aber wie erklären Sie sich dann diese Wahrnehmung durch die beiden?
Olaf Scholz: Noch einmal: Ich habe das in diesem Artikel nicht gelesen. Und schon deswegen werde ich auch nicht nach Erklärungen suchen.
"Die Zeit": Es war ja im Wahlkampf offenkundig, dass es nicht lief. Das ist Ihnen nicht verborgen geblieben. Was haben Sie in jenem Moment gemacht?
Olaf Scholz: Wir haben miteinander geredet und gemeinsam versucht, die Wahl noch zu drehen.
"Die Zeit": Muss man eigentlich ein Mann sein, um in der Außenpolitik mit Männern wie Erdogan und Putin auf Augenhöhe umgehen zu können?
Olaf Scholz: Netter Versuch. Wir entscheiden über die Frage, wer uns im Kabinett vertritt, wenn die SPD-Mitglieder uns einen Auftrag dazu gegeben haben. Ansonsten lautet die Antwort natürlich nein.
"Die Zeit": In einer Fernsehsendung wurde kürzlich ein altes Foto von Ihnen gezeigt, mit einer hippiemäßigen Lockenpracht. Haben Sie Ihre Locken eigentlich aus Gram über die SPD verloren?
Olaf Scholz: Nein. Wenn ich die Haare auf meinem Kopf, dort wo sie noch sind, wachsen ließe, wären sie lockig. Die Frisur wäre aber etwas eigenwillig, das erspare ich Ihnen und mir.
Das Interview führten Marc Brost und Peter Dausend.