"Die Zeit": Herr Bürgermeister, eins muss man Ihnen lassen: Sie scheinen der einzige Politiker in Deutschland zu sein, dem es gelungen ist, ein Rezept zu finden gegen den Aufstieg der AfD.
Olaf Scholz: Das ist ein großes Lob. Ich glaube aber, dass es doch noch ein paar mehr Politiker sind.
"Die Zeit": Es gibt keine Großstadt außer Hamburg, in der die AfD im Moment nach Umfragen bei nur 3,9 Prozent steht.
Olaf Scholz: Die gegenwärtigen Umfragen zeigen jedenfalls, dass es möglich ist, einen weiteren Aufstieg der AfD zu bremsen. Ganz wichtig ist es, dass man nicht alle Wähler rechtspopulistischer Parteien als rechtsextrem diffamiert. Und man muss darauf bestehen, dass politisch zur Sache diskutiert wird. Es muss um Haushaltspolitik gehen, um die Zukunft der Schulen, den Umgang mit Flüchtlingen. Denn dann stellt sich schnell heraus, dass die schlechte Laune, die die AfD verbreitet, allein kein Konzept ist.
"Die Zeit": Was bedeutet das konkret zum Beispiel in der Flüchtlingspolitik?
Olaf Scholz: Unsere Politik muss vermittelbar sein und bleiben. Wir müssen sehr genau sagen, wie unser Land mit der neuen Tatsache umgehen kann, dass so viele Menschen Deutschland als Hoffnungsland sehen und hierher streben, weil es eine Demokratie und ein Rechtsstaat ist und man hier sicher leben kann.
"Die Zeit": Und weil es ein wohlhabendes Land ist mit einem guten Sozialsystem.
Olaf Scholz: Auch das, und deshalb plädiere ich für Realismus. Die weitaus meisten Migrantinnen und Migranten, die zu uns kommen, sind ja Bürger aus anderen EU-Staaten. Das wird in der Debatte gerne unterschätzt. Deshalb müssen wir aber auch überlegen, wie wir diese gewünschte EU-Migration so organisieren, dass kein Missbrauch sozialer Systeme stattfindet.
"Die Zeit": Was schlagen Sie vor?
Olaf Scholz: Ich halte die Freizügigkeit für eine der größten Errungenschaften in Europa. Gerade deshalb wäre es falsch, wenn man schon durch den Kauf einer Zugfahrkarte nach Deutschland den Zugang zu unseren sozialen Sicherungssystemen bekäme. Konkret heißt das: Erst wer ein Jahr lang aus seiner Arbeit ein Einkommen erzielt hat, das mindestens den gesetzlichen Mindestlohn bei Vollzeitbeschäftigung entspricht, sollte auch Zugang zu den sozialen Sicherungssystemen erhalten. Ein zweites Beispiel: Wir diskutieren gerade die Frage, ob sich das Kindergeld für Kinder, die nicht in Deutschland leben, an den Lebenshaltungskosten am Aufenthaltsort des Kindes bemessen soll, um keine falschen Anreize zu setzen. Für beides müssen wir uns auf EU-Ebene einsetzen. Wir wollen Freizügigkeit für Arbeit, nicht für Transferzahlungen.
"Die Zeit": In Ihrem Buch schlagen Sie Dinge vor, für die Sie vor eineinhalb Jahren noch in die Nähe der AfD gerückt worden wären.
Olaf Scholz: Bestimmt nicht. Die AfD ist ein Gegner der Freizügigkeit. Ich beschreibe, wie Freizügigkeit vernünftig organisiert werden kann.
"Die Zeit": Sie schreiben beispielsweise, Grenzen könnten sehr wohl aus Zäunen bestehen und auch streng bewacht werden.
Olaf Scholz: Das sage ich schon länger. Die Diskussion in Deutschland war immer ein bisschen verrutscht, weil sie sich viel zu sehr um die deutschen Grenzen drehte. Entscheidend sind die europäischen Außengrenzen. Diese Grenzen müssen wir schützen.
"Die Zeit": Wäre der Massenzustrom nach dem 4./5. September 2015 an der deutschen Grenze also nicht aufzuhalten gewesen?
Olaf Scholz: Es hätte von vornherein stärker versucht werden müssen, eine europäische Angelegenheit daraus zu machen. Das wäre der einzige Weg gewesen, das Problem strukturell zu lösen.
"Die Zeit": Hat Deutschland im September 2015 die Kontrolle verloren?
Olaf Scholz: Im Herbst 2015 und zu Anfang des Jahres 2016 hatten wir nicht mehr die volle Kontrolle, wer nach Deutschland kommt und wer wohin geht. Wir waren auf die enormen Zahlen schlicht nicht vorbereitet und mussten die notwendigen Strukturen erst schaffen. Für die Zukunft muss uns das eine Lehre sein.
"Die Zeit": Wie wollen Sie die Akzeptanz in der Bevölkerung für die Flüchtlingspolitik sichern? Geringer könnte sie im Moment kaum sein.
Olaf Scholz: Das wichtigste ist, dass wir uns in Deutschland und in Europa insgesamt auf die Flüchtlinge konzentrieren, die sich berechtigt auf ein Schutzbedürfnis berufen können, die also vor Krieg, politischer oder religiöser Verfolgung fliehen.
"Die Zeit": Das ist allerdings nur ein Teil derer, die kommen.
Olaf Scholz: Das ist aber ein großer Teil. Ihretwegen ist es wichtig, dass jene, die keine berechtigten Gründe haben, bei uns zu bleiben, auch wieder zurückgehen. Das ist zentral für die Legitimation unseres Asylrechts. Wir stehen vor der Frage: Wie können wir verhindern, dass ein Asylbewerber dauerhaft in Deutschland bleibt, weil er keinen Pass besitzt, wir nicht feststellen können, wo er herkommt oder ihn sein Herkunftsland nicht wieder aufnehmen will? Es klingt simpel, kostet aber viel Einsatz und viel Kraft. Einfach mit Gesetze-machen kommen wir hier nicht weiter. Die Betreffenden sind heute schon alle ausreisepflichtig. Stattdessen müssen wir mit vielen Ländern, insbesondere den Staaten Nordafrikas, eng zusammenarbeiten. Um Wege zu finden, dass deren Regierungen es akzeptieren, dass sie ihre Landsleute, wenn sie sich hier nicht auf Schutz berufen können, wieder aufnehmen.
"Die Zeit": Welchen Hebel hat Deutschland, hat Europa da in der Hand?
Olaf Scholz: Politischer Druck ist der Hebel. Die Bundesregierung und die EU müssen es zum Topthema in ihren Gesprächen mit diesen Staaten machen.
"Die Zeit": In Ihrem Buch haben Sie einen deutlicheren Vorschlag formuliert: Man müsse die Entwicklungshilfe an die Kooperation in der Rücknahmefrage koppeln.
Olaf Scholz: Ich halte es für richtig, das ganze Feld der Beziehungen aufzurufen. Für die Akzeptanz unseres Asylrechts und für die Bereitschaft, Flüchtlinge aufzunehmen, ist es von allergrößter Bedeutung, dass wir Missbrauch soweit wie möglich einschränken.
"Die Zeit": Welchen Reim soll sich die Bevölkerung darauf machen, dass rund 60 Prozent der Menschen, die ins Land kommen, keine Papiere haben?
Olaf Scholz: Natürlich macht das skeptisch. Es ist aber sehr plausibel, dass unter den Flüchtlingen viele sind, die in höchster Not geflohen sind und nicht rechtzeitig vorher einen Pass beantragen konnten.
"Die Zeit": Es wird mittlerweile mehr abgeschoben. Geschieht da aus Ihrer Sicht schon genug?
Olaf Scholz: Nein. Einer meiner Vorschläge ist, dass wir die Aufgaben, die die vielen hundert Ausländerbehörden bei uns allein nicht lösen können, durch eine zentrale Behörde unterstützen. Es bringt wenig, wenn etwa die Ausländerbehörde Itzehoe plötzlich allein mit der Arabischen Republik Ägypten über die Rücknahme eines Ägypters verhandeln soll, da braucht es die ganze Macht einer Bundesbehörde. In Potsdam haben wir eine solche Behörde auf den Weg gebracht, da sitzen bislang aber gerade mal zwei Dutzend Beschäftigte, aus meiner Sicht müssten das zehnmal so viele sein.
"Die Zeit": Auch in der Silvesternacht in Köln gab es einen Kontrollverlust. Verurteilungen der damaligen Täter allerdings hat es kaum gegeben. Was bedeutet das für Legitimation des Rechtsstaates?
Olaf Scholz: Die Sorgen, die im Hinblick auf die Silvesternacht entstanden sind, sind allesamt berechtigt. Wenn wir solche Situationen als liberaler Staat nicht im Griff haben, werden die Bürger aus guten Gründen skeptisch.
"Die Zeit": Soll in einer künftigen Bundesregierung die SPD den Innenminister stellen?
Olaf Scholz: Wir hatten da schon mal eine gute Besetzung.
"Die Zeit": Wäre das ein Job, der Sie reizen würde?
Olaf Scholz: Ich bin Hamburger Bürgermeister, und das bin ich richtig gern.
"Die Zeit": Diese Formel kennen wir, aber wenn das so ist, warum haben Sie sich dann im November vergangenen Jahres bereiterklärt, als Sigmar Gabriel gesagt hat, du musst es machen, dann mache ich es.
Olaf Scholz: Was?
"Die Zeit": Den Kanzlerkandidaten!
Olaf Scholz: Die SPD hat jetzt eine sehr gute Entscheidung getroffen mit beeindruckenden Erfolgen in den Umfragen...
"Die Zeit": ... das war nicht unsere Frage. Warum hätten Sie das Kreuz der Kandidatur auf sich genommen? ....
Olaf Scholz: ... deshalb sage ich ausdrücklich, dass es gut ist, dass wir als SPD einen sehr sorgfältigen Auswahlprozess organisiert haben.
"Die Zeit": Finden Sie die Lösung, die jetzt mit Martin Schulz gefunden wurde, gut?
Olaf Scholz: Ich finde die Lösung gut, und ich finde gut, dass sie das von uns gewünschte Ergebnis zeitigt.
"Die Zeit": Wenn Sie diese Lösung so gut finden, warum haben Sie mit der nordrhein-westfälischen Ministerpräsidentin Hannelore Kraft bis zuletzt versucht, Gabriel zum Durchhalten zu bewegen?
Olaf Scholz: Wir haben intern eine sehr sorgfältige Diskussion geführt, über die ich mich bisher nicht öffentlich geäußert habe und auch künftig nicht äußern werde, nicht mal in der ZEIT. Nochmal: Das Ergebnis spricht für sich.
"Die Zeit": Glauben Sie, dass erfolgreiche sozialdemokratische Politik links sein muss? Oder war die SPD nicht immer dann erfolgreich und regierungsfähig, wenn sie neben der sozialen Frage auch für Wirtschaftskompetenz stand?
Olaf Scholz: Die SPD ist eine progressive Partei. Sie ist immer dann erfolgreich, wenn eine Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger sich vorstellen kann, sie zu wählen. Und da geht es dann auch um die Sicherheitsarchitektur der Welt, um Fragen der Haushaltspolitik und der Wirtschaftspolitik, um Arbeitsplätze.
"Die Zeit": Im Moment steht der sozialdemokratische Vorwahlkampf ganz im Zeichen der Frage nach sozialer Gerechtigkeit. Finden Sie es richtig, wenn dabei der Eindruck entsteht, die SPD rücke von der Agenda 2010 ab?
Olaf Scholz: Deutschland wäre ohne die Reformpolitik des Kanzlers Schröder wirtschaftlich nicht so erfolgreich, wie es heute ist. Seinerzeit gab es düstere Prognosen zur Zukunft der Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung, heute erwirtschaften all diese Systeme Überschüsse. Dazu tragen die gute Konjunktur und die heute wieder stabile Finanzarchitektur unseres Sozialstaates bei. Wenn jetzt neu austariert wird, wie die Qualifizierung älterer Arbeitnehmer verbessert werden kann, widerspricht das nicht der Reformlogik des Förderns und Forderns.
"Die Zeit": Was muss Ihrer Meinung nach zum Thema Gerechtigkeit dazukommen, damit bis zum September der SPD-Höhenflug anhält?
Olaf Scholz: Gerechtigkeit ist wichtig. Gleichzeitig müssen sich alle Bürgerinnen und Bürger sicher sein, dass auch die schon erwähnten anderen harten Themen bei uns gut aufgehoben sind: Flüchtlinge, innere Sicherheit, Wirtschaft, Europa, die Nato.
"Die Zeit": Sie haben einmal gesagt, für die Bürger komme es bei der Wahl des Kanzlers letztlich darauf an, wem im Krisenfall zu trauen wäre.
Olaf Scholz: Das ist meine feste Überzeugung.
"Die Zeit": Da hilft kein Budenzauber?
Olaf Scholz: Nein.
"Die Zeit": Dann müsste man doch sagen, dass Frau Merkel die absolut krisenbewährte Kanzlerin ist.
Olaf Scholz: Wirklich?
"Die Zeit": Wenn das die Kriterien sind, ja.
Olaf Scholz: Da sind sich viele Bürgerinnen und Bürger aber offenbar nicht mehr so sicher.
"Die Zeit": Wenn man die Flüchtlingsfrage und das Bedürfnis nach innerer Sicherheit mal außen vor lässt, dann muss man feststellen, dass die Menschen in vielen Ländern froh wären, wenn sie die Probleme hätten, die die Deutschen haben.
Olaf Scholz: Dem stimme ich zu.
"Die Zeit": Warum ist trotzdem dieses Ungerechtigkeitsgefühl da?
Olaf Scholz: Das ist leicht zu beantworten: Wenn es uns allen gut geht, geht es noch nicht allen von uns gut.
"Die Zeit": Wo ist nach Ihrer Beobachtung das Gerechtigkeitsgefühl in den letzten Jahren beleidigt worden?
Olaf Scholz: Die mittleren und unteren Einkommen in den meisten Industrieländern stagnieren. Das Versprechen, dass es den eigenen Kindern besser gehen wird, gilt nicht mehr uneingeschränkt. Globalisierung und Digitalisierung bringen erhebliche Umwälzungen mit sich. Das darf man nicht klein reden, dafür brauchen wir zukunftsfähige Antworten. Nach wie vor werden im unteren Einkommensbereich teils Löhne gezahlt, die es kaum möglich machen, eine Familie zu ernähren. Mit dem Mindestlohn haben wir eine erste Antwort gegeben, aber aus meiner Sicht bleibt die moralische Dimension völlig unterschätzt. Denn auch Arbeitnehmer, die keine hochqualifizierten Berufe ausüben, sind leistungsorientiert und verletzt, wenn sie sich abrackern und trotzdem auf öffentliche Hilfe angewiesen bleiben.
"Die Zeit": Uns wundert, dass Sie nicht die millionenschweren Abfindungen und Rentenzusagen für Manager erwähnen, zum Beispiel für Horst Neumann aus dem VW-Vorstand, der mitten in Zeiten des Dieselskandals mit Rentenzusagen von gut 23 Millionen Euro ausscheidet, noch dazu mit Billigung eines sozialdemokratischen Ministerpräsidenten?
Olaf Scholz: Über diese Entwicklung machen sich alle Sorgen. Ich weiß von dem von Ihnen erwähnten sozialdemokratischen Ministerpräsidenten, dass er über die Begrenztheit seiner Möglichkeiten in dieser Frage sehr unglücklich ist.
"Die Zeit": Warum sagen Sie nicht, dass es ein Skandal ist?
Olaf Scholz: Da ist ein Problem. So geht das nicht.
"Die Zeit": Und was kann man dagegen tun?
Olaf Scholz: Die ganz hohen Gehälter sind nicht mehr mit Leistung erklärbar. Und deshalb sind viele Bürger sehr irritiert.
"Die Zeit": Das heißt, Sie plädieren für eine Deckelung von Managergehältern?
Olaf Scholz: Die Höhe der Gehälter bestimmen die Eigentümer der Unternehmen. Gerade bei Aktiengesellschaften sollte die Entscheidung aber transparenter getroffen werden. Wenn das Gehalt eine bestimmte Höhe übersteigt, muss es meiner Ansicht nach als Gewinnverwendung behandelt werden und nicht als Betriebsausgabe.
"Die Zeit": Ist es für das Gerechtigkeitsgefühl der Menschen nicht auch eine Beleidigung, wenn Reeder in Hamburg auf enormen Privatvermögen sitzen, während die Steuerzahler für die Verluste der Reedereien einstehen müssen?
Olaf Scholz: Ja.
Das Interview führten Giovanni di Lorenzo und Heinrich Wefing.