"Die Zeit": Herr Scholz, in Winterhude hat ein 21-jähriger Ägypter angeblich ein 14-jähriges Mädchen vergewaltigt. Und in der Großen Freiheit soll ein 34-jähriger Marokkaner eine Frau auf einer Clubtoilette missbraucht haben. Beide Männer haben eine Gemeinsamkeit mit dem Attentäter von Berlin sie hätten längst abgeschoben werden sollen. Was läuft da schief?
Olaf Scholz: Das sind ganz schlimme Taten. Eines der größten Probleme, die wir bei der Abschiebung von abgelehnten Asylbewerbern haben, ist, dass eine große Zahl von ihnen keine Papiere hat. Das erschwert die Rückführung in ihre Heimatländer sehr. Ich beschäftige mich seit Jahren mit der Frage, wie wir diesen Zustand ändern können. Bund und Länder haben erleichterte Bedingungen zur Abschiebung geschaffen. Und wir haben auch einige Regelungen getroffen, damit wir besser erreichen, dass die Staaten, aus denen die abgelehnten Antragsteller kommen, ihre Bürger wieder aufnehmen.
"Die Zeit": Das scheint nicht sehr gut zu funktionieren.
Olaf Scholz: Der Bund hat eine Einrichtung in Potsdam geschaffen, auf meine Initiative hin, die sich bei den Botschaften darum kümmert, die fehlenden Papiere zu besorgen. Leider ist sie heute gerade mal zwei Dutzend Personen stark. Ich hatte mir eine mehrere Hundert Köpfe starke Behörde vorgestellt. Das muss jetzt endlich passieren. Und wir brauchen Rücknahmeabkommen mit den Herkunftsländern. Wenn es Deutschland und Europa mit ihrer Macht nicht gelingt, das zu erreichen, werden wir ein großes Problem bekommen. Dann entsteht ein Legitimationsproblem, das man gar nicht überschätzen kann.
"Die Zeit": Man muss sich nur richtig bemühen?
Olaf Scholz: Ja. Wenn wir einen schnelleren Vollzug hinkriegen, wenn es sich herumspricht, dass es nichts hilft, seine Papiere wegzuwerfen, wenn wir es schaffen, jemanden zurückzuführen in sein Herkunftsland oder in ein benachbartes Land, was aus meiner Sicht genauso vertretbar ist, dann würde das funktionieren. Es muss nur von Platz 82 der Prioritätenliste der Bundesregierung auf Platz 1.
"Die Zeit": Die Abschiebung in ein Nachbarland wäre auch in Ordnung?
Olaf Scholz: Ja.
"Die Zeit": Darf man jemanden in ein Land abschieben, aus dem er gar nicht kommt?
Olaf Scholz: Wenn er dort sicher ist, ja.
"Die Zeit": Sind Sie dafür, unkooperativen Staaten die Entwicklungshilfe zu kürzen?
Olaf Scholz: Bei Verhandlungen mit anderen Ländern sind alle Fragen auf dem Tisch. Natürlich auch diese.
"Die Zeit": Sie haben sich dafür ausgesprochen, gefährliche Islamisten in Abschiebehaft zu nehmen, wenn ihre Abschiebung an fehlenden Papieren scheitert. Drohen uns Guantanamo-ähnliche Verhältnisse, wenn jemand ohne Gerichtsentscheidung für Jahre hinter Gitter gesteckt wird?
Olaf Scholz: Nein. Schon heute kann die Abschiebehaft in besonderen Fällen bis zu 18 Monate lang andauern. Von dieser Möglichkeit muss einfacher und schneller Gebrauch gemacht werden können. In der Genfer Flüchtlingskonvention steht ausdrücklich, dass niemand Schutz beanspruchen kann, der die Sicherheit des Landes gefährdet, in dem er Schutz gefunden hat. Außerdem kann man sich in Deutschland immer an die Gerichte wenden, auch in einer Abschiebehaftanstalt. Deshalb ist der Guantanamo-Vergleich völlig falsch.
"Die Zeit": In Hamburg leben derzeit elf so genannte Gefährder. Sie werden nicht rund um die Uhr überwacht, angeblich fehlt es an Personal.
Olaf Scholz: Die Situation ist anders. Die Polizei und der Verfassungsschutz treffen die Entscheidungen und wissen von mir, dass sie die notwendige Ausstattung zur Verfügung gestellt bekommen. Es wird nicht sein, dass wir wegen fehlender Ressourcen notwendige Entscheidungen nicht treffen. Gefährder haben guten Grund, sich beobachtet zu fühlen.
"Die Zeit": Planen Sie auch mehr Videoüberwachung?
Olaf Scholz: Es wird sicherlich mehr Kameras geben, wo das sinnvoll ist.
"Die Zeit": Sprechen wir über einen Konflikt in Ihrer Regierung. Zwischen SPD und Grünen herrscht Uneinigkeit in der Frage, ob man Tunesien, Algerien und Marokko zu sicheren Herkunftsländern erklären kann.
Olaf Scholz: Lassen Sie mich daran erinnern, dass es unter anderem meine Initiative war, die Staaten des westlichen Balkans gesetzlich als sichere Herkunftsländer einzustufen. Auch bei den genannten nordafrikanischen Staaten halte ich das für sinnvoll. Kaum ein Asylbewerber aus diesen Ländern hat mit seinem Antrag Erfolg. Manche tun so, als könnte, wer aus einem sicheren Herkunftsland kommt, kein Asyl mehr beantragen. Das ist nicht wahr, man kann es sehr wohl. Es gibt nur eine schnellere Antragsprüfung. Wichtiger als die Frage der sicheren Herkunftsländer ist aber eine andere.
"Die Zeit": Welche?
Olaf Scholz: Dass abgelehnte Asylbewerber auch wirklich abgeschoben werden können, indem Deutschland endlich wirksame Rücknahmeabkommen mit den betroffenen Staaten schließt. Wie wichtig das ist, möchte ich an einem Beispiel erläutern: Als die große Zahl der Flüchtlinge über die Meerenge von Gibraltar nach Spanien und Portugal kam, haben diese Länder Europa um Hilfe gerufen und wurden alleine gelassen, übrigens auch von Deutschland. Aber die Länder haben es geschafft, Abkommen mit Marokko und Algerien zu schließen. Seither hat sich die Zahl der Flüchtlinge über die Meerenge von Gibraltar dramatisch reduziert. Wir werden also um solche Abkommen nicht herumkommen.
"Die Zeit": Einigen Sie sich noch mit Ihren grünen Koalitionspartnern?
Olaf Scholz: Die Hamburger Grünen sind konstruktiv, aber sie sind nicht die SPD. Es ist bekannt, dass wir bei der Frage sicherer Herkunftsländer unterschiedlicher Meinung sind. Das gilt übrigens nicht nur in Hamburg, sondern in ganz Deutschland. Auch die CDU in Hessen diskutiert die Frage mit ihrem grünen Koalitionspartner. Am Ende ist das ein Thema, das zwischen den Parteien auf Bundesebene gelöst werden muss.
"Die Zeit": In Hamburg hat ein Teil der Bürger vor 16 Jahren sehr verunsichert auf eine Debatte um die innere Sicherheit reagiert und sich der Schill-Partei zugewandt. Jetzt haben wir bundesweit eine ähnliche Lage, und die Volksparteien überbieten einander mit Vorschlägen zur Sicherheitspolitik. Ist das eine gute Idee?
Olaf Scholz: Es ist meine feste Überzeugung, dass die Bürger Anspruch darauf haben, dass der liberale Staat ihre Sicherheit gewährleistet. Das heißt auch, dass wir effizient sein und uns, wenn Dinge nicht funktionieren, überlegen müssen, wie sie besser funktionieren können.
"Die Zeit": Man kann nicht ständig über Lösungsvorschläge reden, ohne dabei insgeheim mitzuteilen, dass es ein ungelöstes Problem gebe.
Olaf Scholz: Es gibt ja ein Problem. Und Probleme zu verschweigen ist einer der größten Fehler, die man in der Demokratie machen kann. Natürlich haben wir eine erhöhte Notwendigkeit, dafür zu sorgen, dass die Sicherheit gewährleistet bleibt, und der entsprechen wir auch.
"Die Zeit": Die Kriminalstatistik ist ganz eindeutig: Deutschland ist ein sehr sicheres Land, und die Zuwanderung hat daran nichts geändert.
Olaf Scholz: Das BKA weist gerade darauf hin, dass die Kriminalität von Zuwanderern sogar zurückgegangen ist. Gerade wenn das so ist, kann man im gleichen Atemzug auch klar sagen, dass es eine etwas höhere Kriminalität von Zuwanderern gibt als von Deutschen. Ich glaube, das gesamte Bild schadet überhaupt niemandem. Ich bin auch immer dagegen, dass man etwas verschweigt. Man soll es sagen. Und dann muss man auch sagen, dass wir wissen, was man tun muss. Das wissen wir nämlich.
"Die Zeit": Sind die Bürger wirklich in Gefahr oder handelt es sich um eine gefühlte Unsicherheit?
Olaf Scholz: Diese öffentliche Rede von der gefühlten und der objektiven Sicherheitslage habe ich immer mit großem Verdruss betrachtet. Ich unterscheide das nicht. Sicherheit muss gewährleistet werden, dann entsteht auch ein Sicherheitsgefühl.
"Die Zeit": In Hamburg fühlen sich unter den Anhängern aller Parteien 85 Prozent der Menschen sicher...
Olaf Scholz: Hamburg ist eine sichere Stadt.
"Die Zeit": Und unter den AfD-Anhängern fühlen sich drei Viertel gefährdet. Da fallen wirkliche Sicherheit und Sicherheitsgefühl doch offensichtlich auseinander.
Olaf Scholz: Naja. Ich rate wie gesagt davon ab, diese Unterscheidung zu diskutieren. Wir müssen immer alles tun, was wir tun können, um die Sicherheit zu gewährleisten.
"Die Zeit": Vielleicht ist die AfD einfach die Partei der Ängstlichen? Viele AfD-Anhänger sagen, sie haben Angst, wenn ihre Kinder oder Enkel nachts durch Hamburg laufen. Andere haben solche Ängste nicht.
Olaf Scholz: Umso mehr ist es unsere Aufgabe, sicherzustellen, dass diejenigen Leute, die sich solche Sorgen machen, diese Sorgen wieder verlieren.
"Die Zeit": Im September ist Bundestagswahl. Sie bestehen darauf, Frau Merkel sei schlagbar, die Umfragen sprechen seit Jahren dagegen, woher nehmen Sie Ihren Optimismus?
Olaf Scholz: Die Umfragewerte für die CDU und die Kanzlerin waren schon besser, als sie heute sind. Das ist ein Zeichen dafür, dass in dieser Sache Bewegung möglich ist.
"Die Zeit": Waren die Umfragewerte für die SPD je so schlecht wie zuletzt, mit 20 Prozent?
Olaf Scholz: Leider sind die bundesweiten Umfragen nicht so gut wie in Hamburg, wo wir ja bei 48 Prozent liegen.
"Die Zeit": Wir haben nicht das Gefühl, dass Sie unsere Frage beantwortet haben.
Olaf Scholz: Ich schon.
"Die Zeit": Sie haben gesagt: Wenn die Bürger merken, dass wir die richtige Kanzlerpartei sind, werden wir schnell zulegen. Wie sollen wir uns eine Bundestagsmehrheit vorstellen, die einen sozialdemokratischen Kanzler wählt?
Olaf Scholz: Der nächste Bundestag wird wahrscheinlich mehr Parteien versammeln als bisher. Deshalb gibt es gute Gründe, dass weder die Unionsparteien noch die SPD jetzt Koalitionsaussagen machen. Und deshalb muss man klar in seinen Prinzipien sein. Ich finde ein klares Bekenntnis zur Europäischen Union und zur Nato wichtig. Wer an der Regierung dieses Landes beteiligt sein will, muss sich dazu bekennen.
"Die Zeit": Können Sie da nicht genauso gut sagen: Eine rot-rot-grüne Regierung schließe ich aus?
Olaf Scholz: Niemand sollte die große Leistung von Joschka Fischer und seinen Mitstreitern vergessen, die Position der Grünen so zu ändern, dass sie Teil einer deutschen Regierung werden konnten. Und vor dieser Anforderung kann sich keiner drücken.
"Die Zeit": Auch wenn die SPD das Thema Rot-Rot-Grün vermeidet, ihre politischen Gegner werden es nicht tun. Können Sie mit der Antwort, die Sie gerade gegeben haben, bis zum Herbst durchkommen?
Olaf Scholz: Ich bin überzeugt, dass sachliche Klarheit wichtig ist, und an der sachlichen Klarheit meiner Aussagen gibt es ja kaum etwas zu bezweifeln.
"Die Zeit": Über Herrn Gabriel und die Frage der Kanzlerkandidatur haben Sie gerade in einem NDR-Interview gesagt: Ich denke schon, dass er einer von denen ist, die es machen können.
Olaf Scholz: Ja.
"Die Zeit": Das klingt nicht gerade euphorisch.
Olaf Scholz: Doch. Aber über die Kanzlerkandidatur entscheidet die SPD erst Ende des Monats. Und ich habe schon viele sehr nette Äußerungen über Sigmar Gabriel gemacht und sie auch genau so gemeint. Sie können sich gerne aus meinen Interviews eine weitere heraussuchen.
Das Interview führten Frank Drieschner und Marc Widmann.