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24.07.2020

Interview mit der ZEIT

 

DIE ZEIT: Herr Scholz, wann haben Sie das erste Mal von Wirecard gehört?

Olaf Scholz: Als Zeitungsleser hatte ich das Unternehmen schon vor meinem Amtsantritt als Finanzminister wahrgenommen. Den Aufstieg des Konzerns in den Dax im September 2018 hat wahrscheinlich jeder mitbekommen, der sich für das Wirtschaftsgeschehen in Deutschland interessiert.

 

ZEIT: War Ihnen damals klar, womit Wirecard Geld verdient?

Scholz: Mir war klar, dass es um technische Zahlungsdienstleistungen ging.

 

ZEIT: Aus einer Aufstellung Ihres Ministeriums geht hervor, dass Sie im Februar 2019 von Ihren Beamten über das Unternehmen informiert wurden. Was hat man Ihnen damals genau gesagt?

Scholz: Ich wurde mit einer Vorlage über den Sachstand unterrichtet, der bereits weitgehend öffentlich bekannt war. Da ging es etwa um das Leerverkaufsverbot, über das die Finanzaufsicht BaFin kurz zuvor bereits die Öffentlichkeit informiert hatte und zu dem auch die EU-Aufsicht ihr Okay gegeben hatte. Und es ging darum, dass die BaFin von der Deutschen Prüfstelle für Rechnungslegung eine Prüfung des Halbjahresabschlusses von Wirecard verlangt hat, um die öffentlichen Vorwürfe gegen das Unternehmen aufzuklären.

 

ZEIT: Was meinen Sie damit?

Scholz: Wirecard war seit fast zehn Jahren von ¬einem der vier großen Wirtschaftsprüfungsunternehmen ...

 

ZEIT: ... der Firma EY mit Sitz in Stuttgart ...

Scholz: ... geprüft worden, ohne dass dabei Erkenntnisse über die Unregelmäßigkeiten zutage gefördert worden wären, die schließlich zum Zusammenbruch geführt haben. Weil es aber Berichte über Missstände gab, wurde, wie vom Gesetz vorgesehen, folgerichtig von der BaFin ebenjene Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR) eingeschaltet.

 

ZEIT: Die führt aber keine forensischen Prüfungen durch, die auch dem Verdacht auf kriminelle Handlungen nachgehen. Was bringt das dann?

Scholz: Im Oktober des vergangenen Jahres ist mit KPMG eine weitere Prüfungsgesellschaft mit einer solchen forensischen Prüfung beauftragt worden. Damit untersuchten Ende des Jahres insgesamt drei Prüfungsinstitutionen die Geschäfte von Wirecard. Das hat dazu beigetragen, dass die wie man heute weiß Machenschaften bei dem Unternehmen Ende April dieses Jahres ans Licht gekommen sind.

 

ZEIT: KPMG wurde vom Wirecard-Aufsichtsrat eingeschaltet. Warum nicht von der Aufsicht und dafür früher?

Scholz: Das führt zu einem der Punkte, die wir dringend ändern müssen. Das geltende System der Bilanzkontrolle sieht vor, dass zunächst die DPR tätig wird. Deshalb konnte und kann eine forensische Prüfung nicht ohne Weiteres von der Finanzaufsicht durchgesetzt werden. Hier hat der allgemeine Druck zur Beauftragung gereicht. Aber bei Verdacht auf Bilanzbetrug muss so etwas künftig direkt auch gegen den Willen des betroffenen Unternehmens angeordnet werden können.

 

ZEIT: Wir berichten seit Jahren über Wirecard und hatten nicht das Gefühl, dass es bei der BaFin großes Interesse an Missständen gegeben hätte. Die Behörde hat sogar Strafanzeigen gegen Journalisten erstattet. Fehlt ihr der Biss?

Scholz: Ich möchte eine schlagkräftige Behörde. Daher ist mir wichtig, dass die BaFin gut ausgestattet wird. Und wir werden hier weiter draufsatteln.

 

ZEIT: Mehr Personal bringt aber nur etwas, wenn man auch etwas erreichen will.

Scholz: Unbedingt! Das ist ja der Grund dafür, dass ich Reformen will. Wir müssen den Moment nutzen. Denn wenn alles wieder vergessen ist, dann wird es sehr zäh, und dann werden die politischen Widerstände fast unüberwindbar.

 

ZEIT: Welche Widerstände?

Scholz: Die Lobbyisten bringen sich schon in Stellung. Wir brauchen vor allem Wirtschaftsprüfer, die wirklich prüfen. Das gefällt nicht jedem. Mein Ziel ist außerdem, dass die BaFin mehr in Richtung der amerikanischen Finanzaufsicht SEC geht, die umfassendere Befugnisse hat und gegenüber den Finanzunternehmen mit einem großen Selbstbewusstsein auftritt.

 

ZEIT: Die BaFin hätte den Gesamtkonzern beaufsichtigen können, wenn sie diesen als Finanzunternehmen eingestuft hätte. Das war aber nicht der Fall. So wurde nur ein Tochterunternehmen die Wirecard Bank beaufsichtigt. Das wirkt so, als habe sich die Aufsicht selbst Fesseln angelegt.

Scholz: Überprüfungen der Rechtslage durch die BaFin, die Bundesbank und die Europäische Zentralbank haben dazu geführt, dass der Gesamtkonzern nicht als Finanzunternehmen einzustufen war. Ich denke aber, wir werden hier das Recht vermutlich das der EU nachschärfen müssen. Es ist nicht mehr zeitgemäß, wenn ein Technologieunternehmen Zahlungsdienstleistungen anbietet, aber nicht wie ein Zahlungsdienstleister beziehungsweise wie eine Bank kontrolliert wird.

 

ZEIT: Warum hat sich das Kanzleramt noch im September 2019 für einen Markteintritt von Wirecard in China eingesetzt?

Scholz: Die Bundesregierung unterstützt generell deutsche Unternehmen im Ausland. Damals gab es verschiedene, ja auch öffentlich bekannte Vorwürfe, aber nicht die Erkenntnisse, die wir heute haben.

 

ZEIT: Aus dem von Investoren angefertigten sogenannten Zatarra-Bericht ging schon 2016 hervor, dass bei Wirecard etwas nicht stimmt. Wer etwas hätte wissen wollen, der hätte es wissen können.

Scholz: Deshalb hat die BaFin entsprechende Vorwürfe an die DPR weitergegeben. Zum Gesamtbild gehört aber: Der Zatarra-Bericht wurde auch von Marktteilnehmern durchaus skeptisch gesehen. Es gab viele Händler an der Börse, die bis zuletzt an das Unternehmen geglaubt haben, weshalb der Kurs der Aktie lange Zeit gestiegen ist.

 

ZEIT: Ihr Staatssekretär Jörg Kukies sprach im November 2019 mit Wirecard-Chef Braun. Worüber?

Scholz: Jörg Kukies hat den Manipulationsverdacht angesprochen und die KPMG-Sonderprüfung.

 

ZEIT: Sie erwähnten bereits die Rolle der Wirtschaftsprüfer. Was muss sich da ändern?

Scholz: Es stellt sich schon die Frage, wie es sein kann, dass hoch qualifizierte, exzellent ausgebildete und teuer bezahlte Wirtschaftsprüfer einer Gesellschaft, die schon seit fast zehn Jahren die Abschlüsse von Wirecard geprüft hat, von all den jetzt augenscheinlichen Betrügereien nichts mitbekommen haben. Diesen Prüfern waren die Berichte, die Sie ansprechen, ja doch auch bekannt.

 

ZEIT: Aber?

Scholz: Wir müssen dafür Sorge tragen, dass die kontrollierten Unternehmen nicht Druck machen können auf denjenigen, der sie kontrolliert. Das ist ja im heutigen System der Wirtschaftsprüfung ¬quasi so angelegt. Bislang können Unternehmen ihre Abschlussprüfer länger als zehn Jahre behalten. Ich bin für schnellere Rotation. Was auf europäischer ¬Ebene noch gelingen muss: Prüfung und Beratung müssen voneinander getrennt werden. Heute ist es so, dass Wirtschaftsprüfer oft die Jahresergebnisse eines Unternehmens abnehmen und dieses in Steuer- oder Strategiefragen beraten. Das führt zu Interessenkonflikten.

 

ZEIT: So hat jeder eine Erklärung für das, was passiert ist: Die BaFin sagt, die Gesetze seien nicht scharf genug, Sie sagen, die Wirtschaftsprüfer seien schuld. Das Ergebnis: Alle ducken sich weg.

Scholz: Das mögen andere tun, ich nicht. Ich habe von Anfang an klargemacht, dass wir uns alles anschauen und Versäumnisse aufklären, auch und gerade bei der Aufsicht. Deshalb habe ich veranlasst, dass alle Details des Falls aufbereitet und der Öffentlichkeit und dem Parlament zur Verfügung gestellt werden. Und deshalb werde ich die nötigen Reformen vorantreiben; auch gegen Widerstände.

 

ZEIT: Die Opposition sagt: Sie hätten den Fall Wirecard früher zur Chefsache machen müssen.

Scholz: Die Argumente ändern sich ständig. Erst hat man gesagt, es sei nichts passiert. Dann hat sich gezeigt, dass scharfe Kontrollmechanismen aktiviert wurden. Jetzt heißt es, wir hätten Gesetze ändern müssen. Auch wenn das heutige zweistufige Prüfungsverfahren, bei dem erst die DPR einzuschalten ist, schon mal von Union, SPD, Grünen und FDP für richtig befunden wurde. Na gut, das gehört zum politischen Geschäft.

 

ZEIT: Es wird auch die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses diskutiert. Wie stehen Sie dazu?

Scholz: Es gehört zu den Rechten der Opposition, die Regierung kritisch zu begleiten. Darüber beschwere ich mich nicht.

 

ZEIT: Hat die BaFin mit Felix Hufeld die richtige Führung für die von Ihnen geplanten Reformen?

Scholz: Der Chef der BaFin hat zugesagt, dass er zu denjenigen gehören will, die sich nicht wegducken, und dass er alle Informationen beisteuern will. Er will seinen Beitrag leisten, dass wir klarsehen. Genau darum geht es jetzt.

 

ZEIT: Herr Scholz, fast 90 Stunden musste beim letzten EU-Gipfel verhandelt werden. Ist Europa am Ende seiner Kräfte?

Scholz: Mein Eindruck ist: Manchmal sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht. Wir sind so sehr auf den Streit fixiert, dass der historische Moment nicht erkannt wird. Alle 27 Mitgliedsländer haben sich auf etwas Neues eingelassen. Es wird ein Wiederaufbauprogramm geben, das Europa gemeinsam entwickelt. Das ist ein großer Durchbruch.

 

ZEIT: Inwiefern?

Scholz: Mit dieser Entscheidung übernimmt Europa¬ für sein Schicksal gemeinsam Verantwortung. Der Wiederaufbau wird gemeinsam finanziert. Um die Schulden zurückzuzahlen, wird die EU perspektivisch mit eigenen Einnahmen ausgestattet. Das verändert die politische Statik auf eine dramatische Weise. Ich habe in diesem Zusammenhang auf das Beispiel von Alexander Hamilton verwiesen.

 

ZEIT: Der hat als amerikanischer Finanzminister im 18. Jahrhundert die Schulden der einzelnen Bundesstaaten übernommen.

Scholz: Die Lehre für uns ist: Wer zusammen Kre¬dite aufnimmt und sie zusammen zurückzahlt, der erreicht eine neue Dimension der Gemeinsamkeit. Und die werden wir brauchen. Wir werden in der künftigen Welt nur gemeinsam bestehen können. Wenn einmal zehn Milliarden Menschen auf der Erde leben, dann können wir in Europa nur dann unser Leben selbst bestimmen, wenn wir zusammenstehen. Diesem Ziel sind wir mit der Entscheidung einen Schritt näher gekommen, auch wenn lange um die genauen Summen gerungen wurde.

 

ZEIT: Dafür ging es aber ziemlich zur Sache. Am Ende wurde der Hilfsfonds kräftig geschrumpft.

Scholz: Das ist in solchen Situationen nicht unüblich. Das kennen wir auch aus Finanzverhandlungen im deutschen Föderalismus. Dennoch gab es eine Einigung, und am Ende zählt genau das. Der Punkt ist doch: Anders als in der Staatsschuldenkrise vor zehn Jahren agiert Europa jetzt gemeinsam. Das führt unter anderem dazu, dass bislang kein Mitgliedsland ein Problem mit der Finanzierung der gewaltigen Ausgaben für die Stabilisierung der Wirtschaft hat.

 

ZEIT: Wie können Sie als sozialdemokratischer Finanzminister Ihren Wählern vermitteln, dass die Deutschen für die Italiener zahlen müssen, obwohl das italienische Haushaltsvermögen manchen Studien zufolge höher ist als das deutsche?

Scholz: Ich warne davor, unseren Wohlstand kleinzurechnen. Die Bundesrepublik Deutschland ist das wirtschaftlich erfolgreichste Land in Europa, daran ändern auch statistische Spielereien nichts.

 

ZEIT: Trotzdem: Warum bezahlen wir für Italien?

Scholz: Unter dem Strich profitieren wir. Deutschland ist eine global vernetzte Volkswirtschaft. Unsere Unternehmen profitieren davon, dass sie nicht nur den deutschen Markt, sondern die ganze Welt und vor allem Europa beliefern können. Deshalb wäre eine langjährige Stagnation in unseren Nachbarländern das Schlimmste, was uns passieren kann. Die Sicherheit unserer Jobs hängt davon ab, dass es in Europa möglichst schnell wieder aufwärtsgeht.

 

ZEIT: Wenn das Geld sinnvoll ausgegeben wird.

Scholz: Dafür werden wir sorgen. Die Mittel müssen für die Belebung der Konjunktur und die Modernisierung unserer Volkswirtschaften eingesetzt werden. Wenn wir zusammenwachsen, dann müssen alle ihren Beitrag zum Gelingen leisten.

 

ZEIT: Ärgert es Sie, wenn ein Land wie die Niederlande beim Geld knausert, aber mit seinen niedrigen Steuern anderen Ländern Firmen abwirbt?

Scholz: Wir arbeiten gerade im Rahmen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) an der Einführung einer weltweiten Mindestbesteuerung für Unternehmen, um Steuerdumping zu bekämpfen. Die geplante Mindeststeuer würde dann auch in Europa gelten. Es kann nicht sein, dass man anderen Ländern sagt, sie sollten die Steuern erhöhen, um ihre Staatshaushalte zu sanieren, aber dann selbst mit niedrigen Steuern die Firmen aus diesen Ländern anlockt.

 

ZEIT: Halten Sie eine Einigung für realistisch?

Scholz: Wir sind in dieser Frage international sehr weit. Ich bin zuversichtlich, dass wir im Oktober auf der Ebene der Finanzminister zu einer Antwort kommen. Es wird allerdings noch über die Besteuerung von Digitalunternehmen verhandelt.

 

ZEIT: Dagegen wehren sich die Vereinigten Staaten, wo die großen Digitalkonzerne sitzen.

Scholz: Auch in den USA wächst die Einsicht, dass ohne Zugeständnisse die in vielen Ländern bereits beschlossenen, aber vielfach noch nicht umgesetzten Digitalsteuern in Kraft treten. Dann schlittern wir in einer weltweit wirtschaftlich höchst labilen Lage in einen globalen Steuerkonflikt. Das kann niemand wollen. Ich bin verhalten optimistisch, dass wir deshalb eine Verständigung hinbekommen. Entscheidend ist doch: Internationale Unternehmen und große Digitalkonzerne müssen endlich ihren fairen Anteil zahlen. Das ist eine Frage der Gerechtigkeit.

 

Das Gespräch führten Ingo Malcher und Mark Schieritz