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17.03.2022

Rede anlässlich anlässlich der Veranstaltung zum 100. Geburtstag von Egon Bahr des Willy-Brandt-Kreises und der Friedrich-Ebert-Stiftung

Berlin, den 17. März 2022

Liebe Adelheid Bahr,

sehr geehrter Herr Bundespräsident Fischer,

sehr geehrter Herr Bundespräsident Köhler,

liebe Heidemarie Wieczorek-Zeul,

liebe Barbara Hendricks,

meine sehr geehrten Damen und Herren,

der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die Friedensordnung in Europa ins Wanken gebracht.

Ganz bewusst habe ich im Bundestag von einer „Zeitenwende“ gesprochen.

Egon Bahr hat solche Zeitenwenden gleich mehrfach erlebt:

  • den Faschismus und die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs,
  • die Teilung Deutschlands und Europas,
  • und schließlich den Fall des Eisernen Vorhangs.

Ich habe mich daher in den letzten Wochen öfter gefragt: Was würde er heute sagen, in dieser Zeitenwende?

Egon Bahr war der Meinung, Veränderungen beginnen im Kopf.

Statt sich am Status quo abzuarbeiten, sprach er schon 1965 – gerade einmal vier Jahre nach dem Mauerbau – über Bedingungen für die Wiedervereinigung.

Immer mit dem Ziel vor Augen, das auch ihn zeitlebens antrieb: Den Frieden und die Freiheit in Europa zu sichern.

Denn darum geht es – vor allem anderen, auch heute.

Drei Gedanken möchte ich dazu beisteuern:

Der erste Gedanke ist: Ostpolitik war nie ein deutscher Sonderweg. Und darf es niemals sein.

Willy Brandt und Egon Bahr wussten genau, wo sie stehen.

Ihre historische Öffnung gegenüber dem Osten unseres Kontinents war fest im Westen verwurzelt.

Ohne Kennedys Friedensrede, ohne die zunächst stillschweigende, später wohlwollende Unterstützung der USA, und ohne eine europäische Einbettung wäre eine solche Politik unmöglich gewesen.

Willy Brandt hat das in der historischen Debatte über die Ostverträge - fast auf den Tag genau vor 50 Jahren – auf den Punkt gebracht:

„Eine patriotische Politik in Deutschland kann heute nur eine europäische Politik sein.“

Und auch für uns gilt: Unsere Politik gegenüber Russland kann nur eine gemeinsame europäische Politik sein!

Brandt und Bahr mussten damals zuerst mit Moskau sprechen, um Entspannung im Verhältnis zu Warschau, Prag oder Ost-Berlin zu erreichen.

Heute aber sind wir in einer anderen Lage.

Wenn wir mit Warschau, Prag oder Bukarest sprechen, dann haben wir es mit unabhängigen, souveränen Staaten zu tun, mit Freunden und Partnern in der Europäischen Union und der NATO.

Das ist die Realität, die wir unserer Politik zugrunde legen.

Und auch der russische Präsident muss diese Realität anerkennen.

Deshalb habe ich den EU-Botschaftern in Moskau nach meinem Gespräch vor einigen Wochen im Kreml gesagt: Unsere größte Stärke in dieser Krise ist unsere Geschlossenheit.

Und diese Geschlossenheit haben wir in den vergangenen Wochen unter Beweis gestellt.

Für Deutschland bedeutet das, unsere Politik europäisch abzustimmen und einzubetten - und so europäischen Konsens zu ermöglichen.

Mit diesem Ziel vor Augen gehen wir auch in den Europäischen Rat Ende nächster Woche, wo wir Weichen stellen wollen in Richtung europäischer Souveränität.

Alles aber, was als deutscher Sonderweg wahrgenommen wird – gerade im Verhältnis zu Russland – schadet uns, schadet unserer Sicherheit und schadet Europa.

Mein zweiter Punkt, betrifft die Frage, wie wir unsere europäische Friedensordnung wahren.

Egon Bahr fand diese Friedensordnung nicht vor. Er musste auf sie hinwirken.

So erklärt sich die nur scheinbar paradoxe Formel in Egon Bahrs Tutzinger Rede von der „Überwindung des Status quo, indem der Status quo zunächst nicht verändert werden soll“.

Sein langfristiges Ziel bestand darin, den gerade aus deutscher Sicht unbefriedigenden Status quo der Teilung unseres Landes zu überwinden.

Heute jedoch liegen die Verhältnisse grundlegend anders: Wir haben das allergrößte Interesse daran, die seit Helsinki bestehende Sicherheitsordnung in Europa dauerhaft zu bewahren.

Russland hingegen ist mit dem Krieg gegen die Ukraine dabei, diesen Status quo zu zertrümmern.

Putin geht es darum, die Uhren zurückdrehen in eine Zeit, in der die Großmächte die Landkarte unter sich aufteilten.

In der sie die Länder Mittel- und Osteuropas als bloße Puffer- oder Einflusszonen behandelten.

Doch die Zeit läuft nicht rückwärts. Das gilt es, der russischen Führung klar zu machen.

Und zwar, indem wir unsere regelbasierte Ordnung entschlossen verteidigen gegen Angriffe, wie wir sie derzeit erleben.

Alles andere hieße, die Büchse der Pandora zu öffnen, die jede gewaltsame Grenzverschiebung gerade in Europa zwangsläufig mit sich bringt.

Ein Blick auf historische Landkarten genügt, um die Gefahr zu erkennen.

Deshalb haben wir Moskau von Beginn der Krise an klar gesagt: Die Säulen der europäischen Friedensordnung, die Unverletzlichkeit von Grenzen stehen nicht zur Disposition!

Daran schließt sich mein dritter Gedanke an – zu der von Egon Bahr geprägten Formel: Frieden in Europa ist nur mit und nicht gegen Russland möglich.

Diese Aussage bleibt richtig.

Aber zugleich müssen wir erkennen: Die aktuelle Politik der russischen Führung ist eine reale Bedrohung für die Sicherheit in Europa.

Das ist der bedauerliche Ausgangspunkt einer Russlandpolitik, die – ganz im Sinne Egon Bahrs – mit dem nüchternen Betrachten der Realität beginnen muss.

Aber die dort nicht stehenbleibt!

Wer Frieden will, der muss bereit sein zu verhandeln.

Auch wir halten Gesprächskanäle offen und nutzen jede Möglichkeit einer Vermittlung.

  • Deshalb sprechen der französische Präsident und ich mit Präsident Putin.
  • Deshalb stimmen wir uns eng auch mit anderen Partnern ab, die Einfluss haben: natürlich mit den Vereinigten Staaten, aber auch mit China, der Türkei oder Israel.

Ob diese Gespräche zu einem Erfolg oder gar zu einer politischen Lösung beitragen, vermag im Moment niemand zu prognostizieren.

Aber das hält uns nicht ab!

Klar ist: Frieden gibt es nur über einen Waffenstillstand und Verhandlungen.

Und dabei sind wir nicht naiv.

Dialog ist kein Selbstzweck.

Dialog – gerade mit Russland – setzt eigene Stärke voraus.

Das wussten auch Willy Brandt und Egon Bahr. Übrigens: Der prozentual höchste Anstieg der Verteidigungsausgaben in der Bundesrepublik fiel in ihre Regierungszeit.

Dialogbereitschaft muss Hand in Hand gehen mit der Bereitschaft, unsere Werte und Prinzipien entschlossen gegen Angriffe zu verteidigen.

Wenn Demokratie, Freiheit und Menschenrechte angegriffen werden – so wie heute in der Ukraine – dann müssen auf Worte Taten folgen.

Deshalb werden wir unsere politische und wirtschaftliche Unterstützung für die Ukraine fortsetzen und verstärken. Und deshalb haben wir entschieden, der Ukraine Waffen zur Selbstverteidigung zu liefern.

Diese Entscheidung ist uns nicht leichtgefallen. Aber sie war notwendig und richtig.

Und genauso notwendig und richtig sind die harten Sanktionen, die wir in den vergangenen Tagen und Wochen zusammen mit unseren Freunden und Partnern beschlossen haben.

Schließlich geht es in der Ukraine auch um unsere Werte und unsere Friedensordnung!

Meine Damen und Herren,

einen Fehler werden wir jedoch unter allen Umständen vermeiden: Putin gleichzusetzen mit Russland.

Nicht das russische Volk hat die fatale Entscheidung des Überfalls auf die Ukraine getroffen.

Dieser Krieg ist Putins Krieg.

Die Ukraine will Frieden.

Wir wollen Frieden mit Russland und dem russischen Volk.

Diese Differenzierung ist wichtig.

  • Sie ist wichtig, um die Aussöhnung zwischen Deutschen und Russen nach dem Zweiten Weltkrieg nicht aufs Spiel setzen.
  • Sie ist wichtig, um keine Gräben aufzureißen zwischen uns und den vielen ukrainisch- und russischstämmigen Mitbürgerinnen und Mitbürgern in unserem Land.
  • Und sie ist wichtig, um den mutigen russischen Männern und Frauen, die unter hohen persönlichen Risiken gegen Putins Angriffskrieg auf die Straße gehen, eines zu zeigen: Ihr steht nicht allein! Wir stehen an Eurer Seite.

Es ist dieses Russland, das Hoffnung macht auf bessere Zeiten – auch im Verhältnis zwischen Deutschland und Russland.

Bei meinem Besuch in Moskau vor wenigen Wochen habe ich mit Vertretern der russischen Zivilgesellschaft gesprochen, die unter enormem Druck steht.

Einer von ihnen hat zu mir gesagt:

„Wissen Sie, Demokratie wächst aus uns Menschen.“

Die mutigen Frauen und Männer auf den Straßen in Petersburg, Moskau oder Nowosibirsk geben ihm Recht.

Sie zeigen, dass es ein anderes Russland als Putins Russland gibt.

Dieses andere Russland ist das Fundament für die deutsch-russischen Beziehungen der Zukunft.

Ich weiß, dass dies vielen von Ihnen ein Herzensanliegen ist.

Und ich möchte all denjenigen danken, die den Kontakt zur russischen Zivilbevölkerung in Vereinen und Verbänden pflegen und stärken. Ihre Arbeit ist heute wohl wichtiger denn je!

***

Meine Damen und Herren,

ich weiß, Egon Bahr hätte heute voller Leidenschaft mit uns diskutiert über die Grenzen und Möglichkeiten einer Ostpolitik auf der Höhe der Zeit.

Ich erinnere mich noch an unsere gemeinsame Zeit in Hamburg – Egon war dort Leiter des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik.

Er hat nie ein Blatt vor den Mund genommen.

Jede Zeit kennt eben nicht nur ihre Herausforderungen.

Sie gibt auch ihre eigenen Antworten.

Für Egon Bahr war dabei immer klar:

„Sofern die Antwort nicht fatalistisch lautet, dass wir eben nichts tun können, muss geprüft werden, was wir tun können.“

Das war sein Anspruch.

Und das ist auch unser Anspruch heute.

Vielen Dank!