Sehr geehrter Herr Groebler,
sehr geehrte Frau Rippel,
verehrte Gäste,
meine Damen und Herren!
Ferromagnetisch, so nennt man Metalle, die Magnete anziehen oder daran haften. Im Wesentlichen sind das Eisen, Stahl und Nickel, dazu noch ein paar Seltene Erden. Ferromagnetisch, das sind auch mehr als zwei Drittel aller deutschen Exporte. Würde man all die Autos, Maschinen, Rohre und Elektronikteile, die unser Land in die ganze Welt verkauft, an einem großen Magneten vorbeiführen, sie blieben daran haften. Auch auf dem Bau liefe nichts ohne Stahl. Stahl steckt in Schienen, in Zügen und in jedem Windrad, in all unseren Netzen, Pipelines und in jeder Brücke.
Vier Millionen Frauen und Männer arbeiten in stahlnahen Branchen. Viele von ihnen sind aus anderen Ländern zum Arbeiten hierhergekommen. Viele von ihnen sind heute hier zuhause. Und deshalb, ja: Stahl verbindet. In Anlehnung an Herbert Grönemeyer könnte man auch sagen: Das Industrieland Deutschland hat einen Pulsschlag aus Stahl – nicht „immer noch“, wie manche behaupten, sondern „auch in Zukunft“.
Stahl – vom feinsten Draht bis zum tonnenschweren Stahlträger – steht am Anfang industrieller Wertschöpfungsketten. Was es heißt, wenn solche Wertschöpfungsketten brechen, das haben wir während der Pandemie erlebt. Damals standen in ganz Deutschland und Europa viele Bänder still, weil viele Vorprodukte fehlten. Deshalb ist eine eigene Grundstoffindustrie für das Industrieland Deutschland unverzichtbar. Unter diesen Grundstoffen nimmt Stahl eine herausragende Rolle ein.
Kurz gesagt: Stahl ist systemrelevant und sicherheitsrelevant. Denken wir nur an die Verteidigungsindustrie, deren Bedeutung in den vergangenen zwei Jahrzehnten vernachlässigt wurde. Das haben wir geändert. Und das bleibt in unsicheren Zeiten der richtige Kurs. Europa muss mehr Verantwortung für seine eigene Sicherheit übernehmen. Das ist die Lehre aus der Zeitenwende, die der russische Angriffskrieg für Europa bedeutet. Resilienz ist also der eine Grund, weshalb wir froh sind, dass wir unsere Stahlindustrie in Deutschland und Europa nie aufgegeben haben.
Der andere Grund lautet: Die deutsche Stahlindustrie ist global Vorreiter auf dem Weg zur Klimaneutralität. Wenn wir über effektiven Klimaschutz reden, dann spielt die Stahlindustrie dabei eine Schlüsselrolle. Sie haben das ja gerade erwähnt, Herr Groebler. Gelingt es uns, Stahl CO2-neutral zu erzeugen, dann sparen wir dadurch auf einen Schlag ein Drittel der gesamten industriellen Treibhausgasemissionen ein.
Dieser Aufgabe stellen wir uns gemeinsam: Wirtschaft und Politik, Unternehmen und Beschäftigte, Gewerkschaften und Verbände wie die Wirtschaftsvereinigung Stahl. Die Bundesregierung unterstützt die Dekarbonisierung der Stahlproduktion durch den Einsatz von Wasserstoff mit mehreren Milliarden. Und diese Zusage gilt! Im Gegenzug erwarten wir, dass sich auch die Unternehmen klar zum Standort Deutschland bekennen, dass sie ihre Dekarbonisierungsprojekte zügig vorantreiben und Arbeitsplätze hier bei uns erhalten.
Die Dekarbonisierung erfolgreich hinzubekommen, das ist eine ganz zentrale Herausforderung, der sich die Stahlindustrie stellt. Aber es ist nicht die einzige. Beim Stahlgipfel im September haben Sie, Herr Groebler, die drängendsten Aufgaben kurz und knackig beschrieben, und ich zitiere: „Strompreise und Netznutzungsentgelte“, „Außenhandelsschutz und grüne Leitmärkte“. Ich will genau zu diesen Punkten gern etwas sagen.
Erstens: Günstige Energiepreise und verlässliche Netzentgelte – darin liegt eine, wenn nicht gar die entscheidende Aufgabe für unsere Zukunft als Industrieland. Denn eines muss man sich immer klarmachen: Wir stehen vor einem enormen Wandel. Seit Beginn der Industrialisierung war es immer so, dass sich die energieintensive Produktion dort angesiedelt hat, wo die Energie produziert wurde. Kohle und Stahl – nicht umsonst ist das über die beiden letzten Jahrhunderte zu einem festen Begriffspaar verschmolzen. Doch das ändert sich mit den erneuerbaren Energien. Die gibt es vor allem dort, wo viel Wind und Sonne sind, aber eben nicht immer genau dort, wo unsere großen industriellen Zentren liegen. Deshalb sind Übertragungsnetze und Speicher auch keine Randnotiz, wenn es um die Zukunft unserer Industrie geht, sondern entscheidend für unseren Erfolg. Und deshalb ist es mehr als nur ärgerlich, dass in diesem Bereich in den letzten zehn Jahren in Deutschland so viel versäumt wurde.
Wir sind dabei, das aufzuholen. Von den rund 16.800 Kilometern an neuen Stromleitungen, die gesetzlich vorgeschrieben sind, sind inzwischen mehr als ein Drittel im Bau oder genehmigt. Die Zahl der fertiggestellten Leitungskilometer hat sich seit Ende 2019 verdoppelt. Und das ist erst der Anfang, denn mit den Vereinfachungen, die wir mit den Ländern vereinbart haben, wird vieles noch schneller gehen. Niemand konnte mir erklären, weshalb es eine aufwendige „Bundesfachplanung“, ein komplettes „Planfeststellungsverfahren“ und eine „Alternativenprüfung“ braucht, die Jahre dauern, wenn einfach nur eine Stromleitung dort verlegt oder erweitert werden soll, wo auch heute schon Leitungen liegen. Also haben wir gesagt: Weg mit diesem überflüssigen Bürokratiekram!
Allein die Bündelung neuer und bestehender Leitungen spart im Schnitt zweieinhalb Jahre. Selbst Projekte, die schon laufen, werden dadurch schneller fertig, zum Beispiel die enorm wichtige Ultranetstromtrasse von Nordrhein-Westfalen nach Baden-Württemberg. Auch bei den Anschlüssen und Verteilnetzen vor Ort müssen wir schneller werden. Da sind wir dran, auch mit den Ländern.
Wir haben beherzt gehandelt, als Russland seine Energielieferungen gekappt hat. Wir haben Flüssiggasterminals gebaut und für mehr Gaslieferungen von anderswo gesorgt. Wir haben energieintensive Unternehmen entlastet. Das alles hat die Preise gedrückt – in vielen Fällen in etwa auf das Vorkriegsniveau.
Aber das reicht natürlich nicht aus. Strom spielt für die Stahlerzeugung eine immer größere Rolle. Und das wird so bleiben. Mit der Absenkung der Stromsteuer auf das europäisch mögliche Mindestniveau, der Strompreiskompensation und weitgehender Befreiung von Netzentgelten reduzieren wir die regulatorischen Kosten. Insbesondere die Kosten für das große Stromnetz zur Übertragung des Stroms über große Distanzen müssen überschaubar, kalkulierbar und begrenzt bleiben.
Für das Netz stehen hohe Investitionen an, weil es so ist, wie ich eben schon gesagt habe: Erneuerbare Energie entsteht nicht dort, wo wir sie brauchen. Das nun beschleunigte Tempo des Ausbaus darf aber nicht nachlassen. Aber damit Unternehmen ihre Kosten kalkulieren können, brauchen wir einen geringen Höchstpreis für das Übertragungsnetzentgelt. Das ist die Voraussetzung für Investitionen. Und darum geht es. Deshalb muss das auch Kernbestandteil eines Pakts für Industrie und Arbeitsplätze sein, über den ich gemeinsam mit Industrieverbänden, Gewerkschaften und Unternehmen spreche. Herr Groebler, Sie sind mit dabei – herzlichen Dank dafür!
Mein Ziel ist, den Industriestandort zu stärken und deutsche Industriearbeitsplätze zu sichern. Dafür brauchen wir überall mehr Pragmatismus. Der für Teile der Stahlindus-trie so wichtige Wasserstoffhochlauf zum Beispiel setzt ja zuallererst einmal voraus, dass wir überhaupt genug Wasserstoff haben. Und erst danach kann es um die Frage gehen, ob dieser Wasserstoff grün, blau, türkis oder sonst etwas ist. Weniger Konzentration auf das Ideale und Wünschenswerte, dafür mehr Fokus auf das Machbare und Wirksame, Verlässlichkeit und Klarheit bei den langfristigen Rahmenbedingungen, aber größtmöglicher Pragmatismus und Flexibilität bei der Regulierung – das muss die Devise sein!
Zweites Stichwort: Außenhandelsschutz und Leitmärkte. Das Thema Außenhandelsschutz ist mindestens so alt wie Ihr Verband. Eigentlich war es sogar genau dieses Thema, das 1874 zum Geburtshelfer der Wirtschaftsvereinigung Stahl wurde, denn als Ihr Verband beziehungsweise sein Vorläufer damals gegründet wurde, da war sein Hauptanliegen ein Zoll auf Stahlimporte zum Schutz der damals noch relativ jungen Stahlindustrie in Deutschland. Heute hat diese Industrie eine lange und stolze Geschichte. Sie haben die Stationen erwähnt, Herr Groebler.
Gleichwohl geht es auch heute wieder darum, unsere Unternehmen vor unfairem Wettbewerb zu schützen. Überkapazitäten und Preisdumping sind echte Probleme für europäische Stahlhersteller. Deshalb bin ich froh, dass die Kommission der Europäischen Union (EU) auf unser Drängen hin ihre Schutzmaßnahmen gegen Stahlimporte um zwei Jahre verlängert hat.
Nicht nur China, auch die Industriepolitik der USA setzt unsere Stahlindustrie unter Druck; Sie haben davon gesprochen. Bereits seit Jahren holen die Vereinigten Staaten Industrieproduktion mit großen Förderprogrammen zurück ins eigene Land. Gleichzeitig schotten sie den heimischen Markt mit hohen Einfuhrzöllen ab. Für Stahlimporte aus der Europäischen Union gelten derzeit begrenzte zollfreie Kontingente. Aber die kommen im Laufe des kommenden Jahres erneut auf die Tagesordnung. Wir unterstützen die EU-Kommission deshalb in ihren Gesprächen über die Abschaffung der Section-232-Zölle der USA, führen die Verhandlungen eines „Global Arrangement on Sustainable Steel and Aluminum“ fort und begrüßen diese Diskussion.
Wir wollen aber auch hier einen Schritt weitergehen. Mit dem Klimaklub flankieren wir die Bemühungen der deutschen Stahlindustrie in Sachen klimafreundlicher Produktion auch international, denn Vorreiter zu sein, darf kein Malus sein. Wir arbeiten deshalb an einem gemeinsamen Standard für grünen Stahl und am Schutz gegen Carbon-Leakage, also dem Abwandern von Produktion in Länder mit niedrigeren Umweltstandards.
Gemeinsam mit Ihrem Verband und seinen Mitgliedsunternehmen schauen wir uns außerdem an, wie wir unsere bestehenden Antisubventions- und Antidumpingregeln effektiver auslegen können. Das ist eine komplizierte Materie. Wir dürfen die Regeln der Welthandelsorganisation dabei nicht aufs Spiel setzen. Wir müssen immer auch die geopolitische Großwetterlage im Blick behalten. Und auch die EU-Kommission muss mitziehen. Aber wir lassen nichts unversucht, um einen besseren Schutz unserer Stahlindustrie vor unfairem Wettbewerb zu erreichen.
Die Geschichte der Stahlindustrie in Deutschland in den vergangenen 150 Jahren war eine Geschichte ständiger Herausforderungen. Man muss kein Prophet sein, um zu sagen: Das wird sich auf absehbare Zeit nicht ändern. Doch das ist eben nicht die einzige historische Konstante. Die Geschichte der Stahlindustrie erzählt auch davon, wie Herausforderungen bewältigt wurden – immer und immer wieder –, wie daraus Neues entstanden ist. Sie haben die Montanunion erwähnt, Herr Groebler, nur sechs Jahre nach Kriegsende. Was für eine visionäre Leistung! Ebenfalls im Jahr 1951 gab es dann das Gesetz zur Mitbestimmung in der Montanindustrie. Bis heute wird das An-einem-Strang-Ziehen zwischen Unternehmen und Beschäftigten in keiner anderen Branche so hochgehalten wie in der Stahlindustrie.
Transformationserfahren, visionär, solidarisch – so ist die Stahlindustrie in Deutschland. Und wenn Sie mich fragen: Das sind genau die richtigen Voraussetzungen auch für die kommenden 150 Jahre. Unsere Industrie braucht Ihren Pulsschlag. Herzlichen Glückwunsch zu Ihrem stolzen Jubiläum! Glück auf und schönen Dank!