Sehr geehrte Frau Berg,
sehr geehrte Frau Ministerin Cohen,
sehr geehrter Herr Bundesminister Lindner, lieber Christian,
sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter der Claims Conference,
sehr geehrte Damen und Herren,
wir feiern heute das 70. Jubiläum des Luxemburger Abkommens. Vielen Dank, liebe Frau Berg, dass Sie uns für dieses Jubiläum Ihr Haus geöffnet haben.
Dass es im Jahr 1952, gerade einmal sieben Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges, zu diesem Vertragsabschluss kam, erscheint auch heute noch als ein Wunder. Moralisch war Deutschland durch das Menschheitsverbrechen der Shoah zu tief gesunken, als dass man auf eine Verständigung mit Israel und der Claims Conference hoffen durfte. Viele Deutsche hatten die Nazi-Herrschaft aktiv unterstützt und bei den Verbrechen mitgewirkt. Andere verschlossen nur allzu bereitwillig die Augen vor den Gräueltaten und dem millionenfachen Mord an den Juden Europas – und hielten sie auch weiterhin verschlossen.
Auf der anderen Seite stand Israel, das Land der Überlebenden, in dem jede Familie, jede Frau, jedes Kind und jeder Mann Opfer zu beklagen hatte – Opfer deutscher Gewalt und deutschen Rassenwahns. In den ersten Jahren war in jedem israelischen Pass zu lesen: „Dieser Pass ist gültig für alle Länder – mit Ausnahme von Deutschland“. Verständlicherweise wollte der junge Staat Israel nichts zu tun haben mit dem „Land der Mörder“.
So war damals die Ausgangslage für das Luxemburger Abkommen. Dass es dennoch zustande kam, ist insbesondere zwei herausragenden Staatsmännern zu verdanken: David Ben-Gurion, dem ersten israelischen Ministerpräsidenten, und Konrad Adenauer, dem ersten Kanzler der Bundesrepublik Deutschland.
„Wer nicht an Wunder glaubt, der ist kein Realist“ – so soll David Ben-Gurion einmal gesagt haben, erinnert sich sein Enkelsohn Yariv Ben-Elieser. Sein Großvater sei solch ein Realist gewesen, der aber gleichzeitig wusste, „dass man auf Wunder nicht warten darf, sondern dass man ihre Erfüllung nach allen Kräften fördern und fordern muss“.
In Konrad Adenauer fand er ein Gegenüber, ausgestattet mit Pragmatismus und dem klaren Bewusstsein für die Tiefe deutscher Schuld, der gleichfalls bereit war, das Undenkbare zu denken: dass eine Annäherung zwischen beiden Ländern möglich sei.
Für die Größe, den Mut und die Weitsicht, die beide damals bewiesen, bin ich zutiefst dankbar.
Am 10. September 1952 unterzeichneten Israel, die Claims Conference und die Bundesrepublik Deutschland im Luxemburger Rathaus das Abkommen und die Haager Protokolle. Der formelle Akt dauerte gerade einmal 13 Minuten – 13 Minuten, die gewissermaßen zum zweiten Gründungsakt der Bundesrepublik wurden, zum moralischen Fundament unserer freiheitlichen Demokratie.
Dabei war allen Beteiligten klar: Dieses Abkommen konnte die schwere Schuld nicht abtragen, die Deutsche auf sich geladen hatten. Das Luxemburger Abkommen war vielmehr der Versuch, moralische Verantwortung zu übernehmen für das Versagen der Moral. Der Versuch, dafür zu sorgen, dass nicht die Unmenschlichkeit das letzte Wort hat, sondern die Menschlichkeit. Und es war der Versuch, dem materiellen Schaden und dem beispiellosen Raub an der jüdischen Gemeinschaft etwas entgegenzusetzen.
Mit dem Luxemburger Abkommen wurden das Leid und die Verbrechen am jüdischen Volk erstmals anerkannt. Für die junge Bundesrepublik war es der erste bilaterale Vertrag überhaupt – und zwingende Voraussetzung für die Rückkehr in den Kreis der zivilisierten Staaten. Vor allem aber war es der erste große Meilenstein für die besonderen israelisch-deutschen Beziehungen und der Grundstein, auf dem unsere beiden Länder in sieben Jahrzehnten eine vertrauensvolle Partnerschaft aufbauen konnten.
Diesen gemeinsamen Weg haben die Claims Conference und in den Anfangsjahren vor allem Nahum Goldmann entscheidend mitgestaltet. Ihrer Arbeit ist es zu verdanken, dass die Überlebenden der Shoah Hilfe und Unterstützung bekamen, die dringend gebraucht wurde – und die auch heute noch dringend gebraucht wird. Dafür möchte ich mich bei Ihnen im Namen der Bundesregierung und unseres Landes bedanken.
Meine Damen und Herren, der Holocaust, die systematische Verfolgung und kaltblütige Ermordung der Jüdinnen und Juden Europas durch Deutsche, ist das schwärzeste Kapitel der Geschichte unseres Landes, ja, der Menschheitsgeschichte. Seine Singularität verbietet jede Relativierung und jeden Vergleich. Wer den Holocaust infrage stellt, wer falsche Vergleiche anstellt, der verharmlost und verfälscht Geschichte, der verhöhnt die Opfer, der schürt Hass und Gewalt.
Deswegen werden wir das niemals hinnehmen. Und deswegen stellen wir uns unserer historischen Verantwortung, heute und in der Zukunft. In dieser Hinsicht dürfen wir es uns nicht „bequem“ machen oder „billig“. So hat es Bundespräsident Theodor Heuss bereits vor den Verhandlungen zum Luxemburger Abkommen mehrfach betont, und ich zitiere ihn:
„Wir dürfen nicht vergessen: die Nürnberger Gesetze, den Judenstern, die Synagogenbrände, den Abtransport von jüdischen Menschen in die Fremde, in das Unglück, in den Tod. Das sind Tatbestände, die wir nicht vergessen sollen, die wir nicht vergessen dürfen, weil wir es uns nicht bequem machen dürfen.“
„Und wer möchte die Unverfrorenheit besitzen, jüdischen Menschen zu sagen: ‚Vergesst das doch!‘ So billig, das Wort im moralischen wie im materiellen Sinn, wird Hitlers Hinterlassenschaft nicht beglichen.“
Soweit das Zitat.
Das Leid von sechs Millionen unschuldig ermordeten Jüdinnen und Juden wird nicht vergessen. Genauso wenig das Leid der Überlebenden, die ihrer Familien und Lieben, ihrer Heimat, ihres Erbes und ihrer Zukunft beraubt wurden und ein Leben lang die traumatischen Erfahrungen in Leib und Seele mit sich tragen mussten.
Deswegen ist es der Bundesregierung heute und in Zukunft ein Anliegen, die laufenden Entschädigungsleistungen für die heute hochbetagten Holocaust-Überlebenden sicherzustellen und zu prüfen, was nötig ist, damit sie den Lebensabend in Würde verbringen können. Das gilt auch für die Fürsorgeleistungen, die finanzielle Unterstützung für die Pflege der Überlebenden, denn wir wissen, dass Fürsorgeleistungen der Homecare-Vereinbarung für viele Holocaust-Überlebende lebenssichernd sind. Deshalb bemühen wir uns, dass möglichst viele diese Leistungen erhalten können. Es schmerzt uns, dass viele NS-Opfer heute im Alter unter schwierigen Umständen, ja in Armut leben. Wir werden dies und auch mögliche Spielräume zur Abmilderung der Folgen bei den Verhandlungen weiterhin im Blick haben.
Natürlich ist uns auch die Zusammenarbeit in der Zukunft wichtig. Das gilt umso mehr, als dass immer weniger Zeitzeugen ihre Erinnerungen mit uns teilen können. Zugleich steigt der Bedarf an historischer Erinnerung und politischer Bildung in unserer Gesellschaft, in der immer mehr Bürgerinnen und Bürger mit unterschiedlichen kulturellen Wurzeln leben. Daher ist gerade die Holocaust-Erziehung für uns von entscheidender Bedeutung – insbesondere eine, die auch die Stimmen der Opfer und ihrer Vertreter mit einschließt. Die Bundesregierung unterstützt dabei die Claims Conference in ihrem weltweiten Engagement.
Meine Damen und Herren, mit dem Luxemburger Abkommen feiern wir heute ein Wunder. Bei allem, was wir auch in diesen Tagen und Wochen in der Welt erleben, allem voran dem grausamen Krieg in der Ukraine, macht das Mut.
Schönen Dank!