arrow-left arrow-right nav-arrow Login close contrast download easy-language Facebook Instagram Telegram logo-spe-klein Mail Menue Minus Plus print Search Sound target-blank X YouTube
Inhaltsbereich

Detail

Symbolbild: Olaf Scholz
Photothek
21.06.2023 | Berlin

Rede anlässlich des anlässlich des Johannisempfangs der EKD

Sehr geehrte Frau Ratsvorsitzende,
meine Damen und Herren,

herzlichen Dank für die Einladung dazu, hier auf dem Johannisempfang einige Worte an Sie zu richten. Ich will über ein Thema sprechen, das Politik und Religion, Staat und Kirche bei aller gebotenen Trennung gleichermaßen beschäftigt und beschäftigen muss, weil es sowohl für unsere Demokratie als auch für jede Religionsgemeinschaft geradezu konstitutiv ist. Ich spreche über das Schaffen von Gemeinschaft, Gemeinschaft verstanden im Sinne der Gemeinschaft der Gläubigen oder, politisch betrachtet, im Sinne eines ‘Wir‘, das grundlegend für die Mitwirkung an und für die Akzeptanz von demokratischen Entscheidungen ist.

In ihrem vor wenigen Monaten erschienenen Buch konstatiert die Verfassungsrechtlerin Sophie Schönberger eine schleichende Bedeutungsverschiebung vom Wir zum Ich, weg von der Gemeinschaft, hin zum Individuum. Sie führt das - ich zitiere - auf die abnehmende Bereitschaft zurück, den anderen auszuhalten. Der Soziologe Andreas Reckwitz wiederum spricht mit Blick auf die Spätmoderne von Gesellschaften der Singularitäten. Die Digitalisierung verstärkt den Trend zum Unter-sich-und-seinesgleichen-Bleiben. Die Folge lässt sich in der Politik, aber auch in unseren gesellschaftlichen Debatten beobachten, dort, wo Erwartungshaltungen zunehmend unverhandelt aufeinandertreffen. Zu Recht warnen Sie, Frau Kurschus, vor einer binären Logik, die nur falsch oder richtig, Sieger oder Verlierer, schwarz oder weiß kennt, zum Beispiel entweder noch mehr Waffenlieferungen oder Frieden schaffen ohne Waffen oder entweder Festung Europa oder offene Grenzen. Dieses rigide Entweder-oder bringt uns nicht weiter.

Deshalb ist das Erste, was wir uns vornehmen sollten, die gesamte Gesellschaft in den Blick zu nehmen. Nehmen wir Russlands furchtbaren Angriffskrieg gegen die Ukraine, diesen infamen Bruch der europäischen Friedensordnung. Es war wichtig, klar Stellung zu beziehen. Der Überfallene hat das Recht, sich zu verteidigen. Friedensliebe heißt nicht Unterwerfung. Friede bedeutet nicht die Preisgabe der eigenen Freiheit. Deswegen bin ich Ihnen, liebe Frau Kurschus, und den 20 Landeskirchen sehr dankbar dafür, dass Sie sich wenige Tage nach dem Überfall Russlands unmissverständlich an die Seite der Ukrainerinnen und Ukrainer gestellt haben. Zugleich habe ich großen Respekt davor, wie intensiv und auch kontrovers Sie im Licht des Krieges über eine neue kirchliche Friedensethik diskutieren und ebendadurch ganz unterschiedliche Sichtweisen zusammenführen.

Dass dieser Weg funktionieren kann, zeigt mir die Debatte über die genannten Waffenlieferungen an die Ukraine. Natürlich gab und gibt es diejenigen, die von Beginn an viel schneller viel mehr gefordert haben, genauso wie es diejenigen gibt, die Waffenlieferungen rundheraus ablehnen. Nur dann, wenn man sich erkennbar mit den Argumenten auseinandersetzt, entsteht Akzeptanz auch für einen Kurs der Mitte.

Meine zweite Empfehlung ist: Haben wir Mut zur Klarheit! - Ich will das an unserem Umgang mit Fluchtmigration deutlich machen. Es gibt Grundprinzipien, die unverrückbar gelten müssen. Jemanden aufzunehmen, der vor Krieg und Verfolgung flieht, ist und bleibt ein Gebot der Menschlichkeit. Deshalb haben wir nicht gezögert und unsere Grenzen, unsere sozialen Sicherungssysteme und unseren Arbeitsmarkt für über eine Million Frauen, Männer und Kinder aus der Ukraine geöffnet. Offene Häuser und offene Herzen kamen hinzu. Dafür bin ich den unzähligen Helferinnen und Freiwilligen in unserem Land, aber auch den Religionsgemeinschaften und kirchlichen Einrichtungen zutiefst dankbar.

Zur Wahrheit gehört auch: Nicht alle, die zu uns kommen, fliehen vor Krieg und Verfolgung. Nicht jedem, der voller Hoffnung auf ein besseres Leben nach Deutschland kommt, kann Deutschland ein solches Leben ermöglichen. Das gilt es zu berücksichtigen, gerade weil wir Flüchtenden in Not auch in Zukunft helfen wollen. Nur so erhalten wir auch die Zustimmung dafür, dass Deutschland Zuwanderung braucht, Zuwanderung, die wir ermöglichen, und zwar mit dem weltweit wohl modernsten Einwanderungsrecht. Übermorgen wird der Bundestag darüber abstimmen.

Ein drittes Element muss noch hinzukommen, um unsere Gesellschaft auch in diesen fordernden Zeiten beisammenzuhalten, nämlich eine gewisse Gelassenheit anderen Sichtweisen gegenüber. Ich habe großes Verständnis für die Ungeduld gerade der Jungend, wenn es um den Kampf gegen die Klimakrise geht. Schließlich geht es um unsere, aber ganz besonders um ihre Zukunft. Deshalb arbeiten wir mit Hochdruck daran, unser Land, immerhin eines der wirtschaftsstärksten Industrieländer der Welt, bis 2045 klimaneutral zu machen. Das ist eine Generationenaufgabe. Gerade weil eine Generationenaufgabe der Kraft aller bedarf, dürfen wir einen Teil der Bevölkerung darüber nicht verlieren. Das aber, so finde ich, droht, wenn manche Protestformen auf weit verbreitetes Unverständnis stoßen. Demokratin oder Demokrat zu sein, heißt, auch andere Haltungen als die eigene gelten zu lassen. Das ist eine Frage des Respekts. Für diesen Respekt setze ich mich ein.

Im Kompromiss, so meinen manche, liege eine Schwäche. Dabei ist das Gegenteil der Fall. Nach Kompromissen zu suchen, bedeutet eben nicht, dass Interessen Einzelner geopfert oder ignoriert werden, sondern es bedeutet, dass die Anliegen so vieler Bürgerinnen und Bürgern wie möglich einfließen. Es ist dieses Ringen um Mehrheiten, das Werben um Verbündete, das uns als Demokratie stark macht, das einen Ausgleich zwischen Individuum und Gemeinschaft schafft und uns so als Gesellschaft zusammenhält.

Schönen Dank.