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Symbolbild: Olaf Scholz
Photothek
12.12.2022 | Berlin

Rede anlässlich des Festakts „70 Jahre Ost-Ausschuss der deutschen Wirtschaft“

Sehr geehrter Herr Dr. Engels,

meine Damen und Herren!

Ost, das ist ein kurzes Wort, aber ein sehr weiter Raum. Als Ihre Gründungsmitglieder 1952 den Ost-Ausschuss der deutschen Wirtschaft ins Leben riefen, da meinten sie damit ein Gebiet östlich der Elbe. Das schloss China ein, gelegentlich Vietnam, die Mongolei ebenso wie Jugoslawien. Ost bedeutet aber auch Systeme mit sehr anderen Herangehensweisen als im Westen - Sie haben eben davon gesprochen. Hier Demokratie und Marktwirtschaft, dort Diktatur und Planwirtschaft.

Die junge Bundesrepublik musste sich in dieser Zeit des Umbruchs neu positionieren. Dabei wurde der Ost-Ausschuss der deutschen Wirtschaft bald zum wichtigsten Partner der Politik. Er beriet, baute Brücken, vermittelte, suchte das Gespräch auch da, wo die Politik zunächst noch schweigen musste - oder wollte. Das war eine herausfordernde Zeit. Aber für herausfordernde Zeiten ist der Ost-Ausschuss eben Experte. Immer wieder mussten Sie sich zu den Umbrüchen der Region neu positionieren - in der Zeit der deutschen Teilung, die auch die Zeit des Kalten Krieges war, in der Wendezeit, als der Eiserne Vorhang fiel, zur Zeit des Kriegs auf dem Balkan.

Gegenwärtig erleben wir eine Zeitenwende. Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine bedeutet, dass es ein „Weiter so!“ nicht geben kann. Damit muss sich auch und gerade der Ost-Ausschuss von alten Gewohnheiten verabschieden - und das tun Sie. Auch Sie orientieren sich neu. Ihren eigenen Überlegungen kann und will ich dabei nicht vorgreifen. Aber natürlich wünsche ich mir eine deutsche Wirtschaft - oder genauer: eine deutsche Außenwirtschaft -, die auch in dieser grundlegend veränderten Lage dazu beiträgt, unser Land unabhängiger und stärker zu machen. Lassen Sie mich deshalb meine Überlegungen mit Ihnen teilen. Sechs Botschaften will ich formulieren.

Die erste Botschaft: Das Gebot der Stunde heißt Diversifizierung. Meine Damen und Herren, manche glauben, der Welt stünden neue Bipolaritäten und ein neuer Kalter Krieg bevor. Ich glaube das nicht. Ich bin überzeugt: Die Welt des 21. Jahrhunderts wird nicht wieder in wenige Machtzentren zerfallen, schon gar nicht in zwei. Wir werden multipolar sein, mit vielen verschiedenen Kraft- und Machtzentren. Für Deutschland bedeutet das, dass wir uns breiter aufstellen müssen, aber auch breiter aufstellen können, denn die Welt ist voller potenzieller neuer Partnerländer. Dazu gehören viele aufstrebende Volkwirtschaften, die manche von uns zu Unrecht immer noch Schwellenländer nennen, die aber längst zu selbstbewussten und ehrgeizigen Akteuren auf der Weltbühne geworden sind. Wir profitieren vom Handel mit ihnen, aber wir konkurrieren auch mit ihnen: um Rohstoffe, um Energie und Technologien. Das erhöht weltweit die Nachfrage und sorgt für steigende Preise. Die Folgen dieser Entwicklung müssen wir und unsere Unternehmen im wahrsten Sinne des Wortes „einpreisen“. Aber indem wir neue Partnerschaften eingehen, werden wir zugleich resilienter. Die Diversifizierung unserer Handelsbeziehungen verschafft uns widerstandsfähigere Lieferketten. So verringern wir zugleich riskante einseitige Abhängigkeiten in Bezug auf bestimmte Rohstoffe oder kritische Technologien. Damit ist Diversifizierung nicht nur eine betriebs- und volkwirtschaftliche Notwendigkeit, sie ist zugleich ein sicherheitspolitisches Gebot. Deshalb wird dieses Thema auch eine wichtige Rolle bei unserer Nationalen Sicherheitsstrategie spielen, an der wir derzeit arbeiten.

Meine zweite Botschaft lautet: Klimaneutralität ist unsere große Chance. Wir sind entschlossen, bis 2045 als erstes großes Industrieland klimaneutral zu werden und schon 2030 80 Prozent unseres Stroms aus erneuerbaren Energien zu beziehen. In puncto Mobilität und grüne Technologien, beim Maschinenbau und der Chemie- und Elektroindustrie liegen deutsche Unternehmen weltweit vorn. Damit haben wir allerbeste Chancen, bei uns in Deutschland genau diejenigen Technologien zu entwickeln, die weltweit die Transformation vorantreiben.

Die aktuelle politische Lage bestärkt uns darin, noch schneller, noch entschlossener, noch innovativer zu sein beim Ausbau der erneuerbaren Energien. So werden wir unabhängig von fossilen Brennstoffen und einseitigen Abhängigkeiten. Was alles möglich ist, hat dieses Jahr gezeigt. Wer hätte vor zwölf Monaten gedacht, dass uns Russland den Gashahn abdreht und wir dennoch sagen können, wir kommen wohl durch diesen Winter? - Meine Damen und Herren, um diese Transformation mutig und schnell voranzubringen, sind Leute gefragt, die über das Bestehende hinausdenken.

Das bringt mich zu meiner dritten Botschaft: Pioniergeist zahlt sich weiterhin aus. Der Ost-Ausschuss der deutschen Wirtschaft ist ein Pionier. Er war die erste Regionalinitiative der deutschen Wirtschaft überhaupt. Seit dem Zerfall der Sowjetunion hat die Region, auf die sich der Ost-Ausschuss konzentriert, einen enormen Aufschwung genommen. Heute beträgt der deutsche Osthandel insgesamt rund ein Fünftel des gesamten Außenhandels, mehr als der Handel mit den USA und China zusammen.

Wichtigster Partner in Osteuropa ist derzeit mit weitem Abstand Polen, darauf folgt Tschechien. Erhebliche Perspektiven bieten da aber auch die Länder des westlichen Balkans mit ihren insgesamt 18 Millionen Einwohnern. Davon habe ich mich gerade erst letzte Woche beim EU-Westbalkan-Gipfel in Tirana überzeugt. Gerade, was den Umstieg auf erneuerbare Energien angeht, besteht in vielen ihrer Partnerländer großes Potenzial, einige sind ja auch hier versammelt. Deswegen ist ihre Kontaktstelle Green Deal eine besonders gute Idee. Sie kommt unserer eigenen Transformation hin zu erneuerbaren Energien zugute und erschließt zugleich Marktchancen für deutsche Technologien in der Region.

Und Sie kooperieren auch bei Entwicklung und Forschung. Zum Nutzen besserer Verständigung betreiben sie Stipendienprogramme für Nachwuchskräfte aus Albanien, Kroatien oder Kosovo in deutschen Unternehmen. Fast 1000 junge Leute werden mit dem Zoran-Djindjic-Stipendienprogramm beim Studium gefördert.

Auch bei einem Beitritt neuer Mitglieder zur Europäischen Union haben die Kontakte und Verbindungen des Ost-Ausschusses eine wichtige Rolle gespielt. Darauf hoffe ich auch in Zukunft. Die Ukraine, Moldau und Georgien streben in die EU ebenso wie Serbien, Montenegro, Albanien, Kosovo, Nordmazedonien und Bosnien-Herzegowina. Da sind noch viele Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Aber Europa wird sich verändern, die EU wird sich verändern. Sie wächst, und zwar nach Osten. Eine gute Zeit also für neuen Pioniergeist.

Meine Damen und Herren, das Lob auf Pioniergeist, auf den Aufbau und die Pflege von Beziehungen ist fast immer richtig. Aber für jede Partnerschaft gibt es Regeln, und die müssen eingehalten werden, das ist meine vierte Botschaft. Mit seinem brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine will Russland Europa aufs Neue in Einflusssphären spalten. Putins Ziel ist ein neues russisches Imperium. Dafür zerstört er die Brücken, die Infrastruktur, die Energie- und Wasserversorgung der Ukraine. Dafür lässt er Männer und Frauen, Alte und Kinder mit Raketen beschießen. Hier geht es nicht nur um schwersten Völkerrechtsbruch. Hier versucht ein Land, mit Brutalität seine eigenen Regeln durchzusetzen. Schon deswegen darf Russland diesen Krieg nicht gewinnen, und Russland wird den Krieg auch nicht gewinnen.

Nun beginnt - so lautet meine fünfte Botschaft - an anderer Stelle ein neues Kapitel. So wie wir gemeinsam mit unseren Partnern und Verbündeten jetzt den Kampf der Ukrainerinnen und Ukrainer um ihre Freiheit massiv unterstützen, werden wir über viele Jahre hinweg auch beim Wiederaufbau an der Seite der Ukraine stehen. Diese Aufgabe wird die gesamte Staatengemeinschaft beschäftigen. Die Ukraine zu einem starken europäischen Land mit ebenso produktiver wie nachhaltiger Industrie und Landwirtschaft aufzubauen, das ist unerlässlich, nicht nur für die Ukrainerinnen und Ukrainer selbst. Das ist auch Voraussetzung für ein starkes Europa, für eine starke Europäische Union, der die Ukraine beitreten wird.

Meine Damen und Herren, es ist gut, dass sich der Ost-Ausschuss schon seit dem Beginn von Russlands Krieg für Flüchtende aus der Ukraine engagiert. Sie haben ein Jobportal für Ukrainerinnen und Ukrainer aufgebaut und Hilfslieferungen initiiert. Ihr Service-Desk „Ukraine“ bietet Unternehmen, Initiativen und Verbänden eine wichtige Anlaufstelle für die Koordinierung von Hilfeleistungen. All das beweist: Auch Sie haben ihren Kurs verändert. Denn natürlich war Russland lange Jahre Ihr wichtigstes Partnerland. Dass Sie sich bereits seit Russlands Annexion der Krim im Jahr 2014 der Ukraine zugewandt haben, war ein wichtiges Signal. Und deshalb, glaube ich, ist es sehr, sehr wichtig, dass wir hier an dieser Stelle diese Entscheidung von Ihnen bekommen haben und Ihre entsprechende Unterstützung hier sehen.

Meine Damen und Herren, ich glaube, wir alle wissen, dass das herausfordernde Zeiten sind, vor denen wir stehen. Wir werden uns in einer veränderten Welt neu orientieren, aber wir werden es schaffen, dass wirtschaftliche Beziehungen auch in der Zukunft existieren und von uns gepflegt werden können. Und wir werden es auch schaffen, dass eine Welt entsteht, in der wir die jetzigen Herausforderungen, die mit dem russischen Angriffskrieg verbunden sind, hinter uns lassen können. Denn das bleibt ja auch ein Stück der Geschichte und darüber will ich eben auch noch sprechen , mit der wir uns auseinandersetzen müssen.

Russland wird auch nach Ende des Krieges das größte Land auf dem europäischen Kontinent sein. Deshalb ist es ganz zentral, dass wir für diese Zeit auch Vorbereitungen treffen. Klar ist: Gegenwärtig werden die Beziehungen, die wir hatten, zurückgefahren, zurückgefahren und zurückgefahren. Aber ein Russland, das den Krieg beendet, und Bürgerinnen und Bürger in Russland, die eine andere Zukunft für sich erstreben, brauchen auch die Chance, dass es in einer anderen Zeit wieder möglich ist, ökonomische Kooperationen zu beginnen. Nur: Das ist nicht jetzt. Jetzt verschärfen wir die Sanktionen. Und das muss auch jeder wissen: Putin zerstört mit seinem Krieg nicht nur die Infrastruktur, die Städte und Dörfer der Ukraine. Er zerstört nicht nur unglaublich viele Menschenleben. Er hat nicht nur das Leben vieler seiner eigenen Soldaten aufs Spiel gesetzt - denn das gehört ja zur Wahrheit dazu: dass Unzählige gestorben sind für diesen imperialistischen Versuch, sich einen Teil des Territoriums seines Nachbarn anzueignen -, sondern eigentlich zerstört er auch die Zukunft Russlands mit diesem Krieg, und das ist das, was er gegenüber seinem eigenen Land und seinem eigenen Volk rechtfertigen muss, dessen Zukunft er auf diese Weise beeinträchtigt.

Meine Damen und Herren, ich wünsche Ihnen alles Gute zum Jubiläum. Ich freue mich, dass so viele Partner aus dem ganzen Osten da sind. Und ich bin sicher, dass Sie noch viele weitere Jubiläen zu feiern haben werden und dass wir Sie brauchen.

Schönen Dank!