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Symbolfoto: Olaf Scholz
Photothek
16.12.2023 | Berlin

Rede anlässlich des Gemeindetages des Zentralrates der Juden

Sehr geehrter Herr Dr. Schuster,
meine Damen und Herren,

ich bin froh, heute bei Ihnen zu sein.

Das ist heute mein erster Gemeindetag als Bundeskanzler, aber nicht der erste Gemeindetag in meinem Leben. Im Jahr 2012 fand der Gemeindetag in meiner Heimatstadt Hamburg statt. Als Erster Bürgermeister durfte ich seinerzeit daran teilnehmen. Dieter Graumann wünschte sich den Gemeindetag in seiner Rede damals als ein Fest der Vielfalt des Judentums in Deutschland. Ich glaube, sein Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Für welche Vielfalt der Gemeindetag elf Jahre später steht, wird mit einem Blick in das über hundertseitige Programmheft dieser vier Tage ganz klar: Politik und Gesellschaft, Religion und Gemeinschaft, Soziales und Nachhaltigkeit, Kultur und Erinnern, Gegenwart und Zukunft. Ein beeindruckendes Fest der Vielfalt, ein Fest der Gemeinschaft, ein Fest des Zusammenlebens.

Was ich mir darüber hinaus als Botschaft dieses Gemeindetags wünsche, das habe ich als Hamburger Bürgermeister 2012 formuliert, und das empfinde ich als Bundeskanzler 2023 genauso tief und in diesen Tagen noch dringender: Dieser Gemeindetag muss für unser ganzes Land ein Fest der Selbstverständlichkeit des jüdischen Deutschlands sein. Genauso selbstverständlich, genauso alltäglich, letztlich genauso unspektakulär wie das Deutschland jedes anderen Glaubens und auch Nichtglaubens.

In diesen Tagen mag das wie ein frommer Wunsch erscheinen, weit ab von der Realität. Wir alle haben den Schrecken des 7. Oktobers vor Augen. Auch meine Gedanken sind heute Abend bei all denen, deren Angehörige und Freunde von den Terroristen der Hamas ermordet worden sind, und bei den unzähligen Familien, die weiter um ihre Liebsten bangen.

Aber ich weigere ich mich, den Wunsch nach selbstverständlichem Zusammenleben, diesen Anspruch an unser Land, aufzugeben. Gerade jetzt!

Diesen Anspruch einzulösen, das beginnt mit Sichtbarkeit.

Vergangene Woche hatte ich die Freude und die Ehre, das erste Licht des Chanukkaleuchters am Brandenburger Tor zu entzünden. Der Leuchter war sehr hoch, sodass man mit einer Hebebühne zu den Kerzen hinaufgefahren werden musste. Sie haben die Aufnahmen möglichweise gesehen. Den Teil mit der Hebebühne hatte ich in der Vorbereitung des Termins anscheinend überlesen. So stand ich etwas unerwartet plötzlich mehr als zehn Meter hoch über dem Pariser Platz. Von dort oben auf der Höhe der Kerzen blickt man weit über den Pariser Platz hinaus. Auch das Licht der Kerze war weithin sichtbar. In dem Moment erschien es mir nicht als ein frommer Wunsch, sondern fast als eine Notwendigkeit zu sagen: Dieses Licht gehört genau hierhin, an den prominentesten Platz unseres Landes, ins Herz der deutschen Hauptstadt, in unsere Mitte als ein Zeichen von Hoffnung und Zuversicht in schwerer Zeit, aber auch als ein deutliches, unmissverständliches Zeichen jüdischer Selbstverständlichkeit. Der Selbstverständlichkeit, dass Chanukka zu Deutschland gehört genauso wie Weihnachten und das Zuckerfest, dass Synagogen zu Deutschland gehören wie Kirchen und Moscheen und dass wir in diesem Land untrennbar zusammengehören.

Einige, zu viele in unserem Land, wollen das nicht verstehen oder, schlimmer noch, nicht akzeptieren. Die Bilder feiernder Zustimmung, die Bilder öffentlicher Terrorunterstützung die wir nach den schrecklichen Verbrechen der Hamas am 7. Oktober in Deutschland gesehen haben, sind alarmierend, und sie sind beschämend.

Ich habe es am 9. November in der Beth-Zion-Synagoge hier in Berlin gesagt und möchte es hier nochmal bekräftigen: Unser Rechtsstaat nimmt das nicht hin. Wir schützen die jüdischen Gemeinden. Wir bekämpfen in Deutschland jede Form von Antisemitismus, Terrorpropaganda und Menschenfeindlichkeit. Wir verfolgen mit den Mitteln des Strafrechts diejenigen, die Terrorismus unterstützen und antisemitisch hetzen. Wir regeln mit dem neuen Staatsangehörigkeitsrecht ganz klar, dass Antisemitismus einer Einbürgerung entgegensteht.

Ich will hier aber auch deutlich sagen: Für die Selbstverständlichkeit, die ich mir und uns allen wünsche, für die Selbstverständlichkeit, die aus dem Motto dieses Gemeindetages „Zusammen leben“ spricht, brauchen wir mehr als das Strafrecht, die Polizei und die Justiz, weit mehr.

Zusammen zu leben ist mehr als nebeneinanderher zu leben. Zusammen zu leben heißt, zuzuhören, hinzusehen und Hilfe anzubieten, wenn jemand Sorgen hat. Jede und jeder in diesem Land verdient in schweren Zeiten Solidarität und Mitgefühl, ohne Einschränkung, ohne Relativierung, ohne Ja-aber. Das ist es, was unsere Gesellschaft zusammenhält.

Deshalb bekümmert es mich, wenn Igor Levit und viele andere fragen, warum Jüdinnen und Juden ihre eigenen Solidaritätskonzerte und ihre eigenen Solidaritätskundgebungen organisieren müssen, und wenn sie fragen, wo die Anteilnahme bleibt, wo die Frage bleibt: Wie geht es Dir?

Deshalb bekümmert es mich zutiefst, wenn Sie, Herr Schuster, davon sprechen, dass es für jüdische Bürgerinnen und Bürger in den vergangenen Wochen zunehmend schwer geworden sei, sich in unserem Land zugehörig zu fühlen. Eine solche Entwicklung können wir nicht hinnehmen. Wir müssen uns ihr entgegenstemmen.

Dem Mangel an Empathie gegenüber Jüdinnen und Juden in Deutschland, aber natürlich auch gegenüber Jüdinnen und Juden in Israel müssen wir entgegentreten.

Wie also können wir Empathie wecken? Wie können wir Interesse an der Breite und Vielfalt des Judentums wecken?

Ein Schlüssel ist und bleibt Bildung.

Dabei geht es zuallererst um die Erinnerung an das von Deutschen begangene Menschheitsverbrechen der Shoah. Die Erinnerung daran muss ganz zentral in den Bildungseinrichtungen unseres Landes wachgehalten werden. Dieser Auftrag wird in Zukunft ohne Zeitzeugen nur noch dringender. Neben der Vermittlung von Fakten geht es um die Vermittlung der Verantwortung, die sich aus unserer Geschichte ergibt, einer Verantwortung, die jede und jeder, der in unserem Land lebt, als eigene wahrnehmen muss, unabhängig von der eigenen Herkunft und dem sozialen oder kulturellen Hintergrund.

Zu dem angesprochenen Bildungsauftrag gehört auch die Vermittlung von Wissen über die Geschichte und Gegenwart des Staates Israel und des Nahostkonflikts sowie über die verschiedenen Ausprägungen von Antisemitismus.

Ich bin deshalb froh darüber, dass die Kultusministerkonferenz in der vergangenen Woche beschlossen hat, das noch stärker im Unterricht zu verankern. Unwissenheit und Uninformiertheit verstärken Vorurteile. Wir sehen, wie sehr diese Gefahr durch die Nutzung sozialer Netzwerke noch zugenommen hat. Umso wichtiger ist es, dass wir Antisemitismus als solchen benennen, egal ob er politisch motiviert ist oder religiös, ob er von links kommt oder von rechts, ob er sich als Kunst tarnt oder als wissenschaftlicher Diskurs, ob er in Schulen oder Universitäten zu hören ist.

Schließlich muss es zu diesem Bildungsauftrag – ich möchte sagen: zu unser aller Bildungsanspruch – gehören, mehr über das Leben der jüdischen Gemeinden in unserem Land zu wissen.

Wir sind Bürgerinnen und Bürger desselben Landes. Wir sind Nachbarinnen und Nachbarn, Arbeitskolleginnen und Arbeitskollegen. Es gehört doch zur Herzensbildung, Anteil zu nehmen, wenn unsere Nachbarinnen und Nachbarn, Arbeitskolleginnen und Arbeitskollegen trauern und Angst haben. Es gehört auch dazu, sichtbar zu sein.

Diese Herzensbildung zu vermitteln, das ist es, was die große Margot Friedländer tut, wenn sie unermüdlich mit Jugendlichen, mit Schülerinnen und Schülern spricht.

Diese Herzensbildung zu vermitteln, das ist es auch, was die Freiwilligen des Programms Meet a Jew tun, mit denen ich mich gerade eben getroffen habe. Ich bin ihnen sehr dankbar dafür. Das war ein sehr interessantes und sehr wärmendes Gespräch. Ich habe dabei noch viel gelernt.

Gleichzeitig kann das nicht die Aufgabe Einzelner sein. Wir alle haben die Aufgabe, uns jeden einzelnen Tag richtig zu entscheiden: für Empathie, für Solidarität, für ein offenes Ohr und ein offenes Herz.

Das ist die Basis unserer offenen Gesellschaft, unseres Zusammenlebens. Das ist die Selbstverständlichkeit, von der ich zu Beginn gesprochen habe, die Selbstverständlichkeit des jüdischen genauso wie des christlichen oder muslimischen, des religiösen oder nichtreligiösen, des vielfältigen, freien Deutschlands.

Dieses Deutschland verteidigen wir.

Lassen Sie mich noch anfügen: In dieser Zeit bedeutet, dieses Deutschland zu verteidigen, auch, dass wir an der Seite Israels stehen.

Deutschland steht an der Seite Israels mit ganz konkreter Hilfe, mit politischen Gesprächen, in denen wir über das, was zu tun ist, diskutieren, aber selbstverständlich auch immer wieder, wenn in der öffentlichen Debatte das Recht Israels, sich selbst zu verteidigen, infrage gestellt wird. Das werden wir nicht zulassen. Alle können sich auf Deutschland verlassen.

Ich wünsche uns noch einen schönen Abend. Haben Sie herzlichen Dank!