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Symbolbild: Olaf Scholz
Photothek
07.11.2022 | Berlin

Rede beim Festakt zum 70. Jubiläum des Betriebsverfassungsgesetzes

Liebe Yasmin Fahimi,

liebe Claudia Bogedan,

liebe Kolleginnen und Kollegen,

werte Gäste,

wenn ich das Logo hier sehe, das wir auch noch auf dem Bildschirm haben, muss ich sagen: Sehr gelungen! Wäre das jemandem früher eingefallen, hätte ich das bei meiner Anwaltskanzlei oben auf den Briefkopf gesetzt. Das ist super!

1.773 Gesetze gab es im Februar dieses Jahres in Deutschland – das hat die Bundesregierung als Antwort auf eine Kleine Anfrage mitgeteilt. Nicht alle davon werden eine solche Feier zu ihrem 70. Geburtstag bekommen. Allein das zeigt schon die Bedeutung, die das Betriebsverfassungsgesetz bei uns hat.

Damals, vor sieben Jahrzehnten, war die Geburtsstunde des Betriebsverfassungsgesetzes. Und heute sind wir uns einig: Das Gesetz hat den Grundstein dafür gelegt, dass Arbeitnehmer eine starke Stimme in unseren Unternehmen haben. Es war richtig und notwendig, denn Demokratie, freie Marktwirtschaft und Betriebsverfassung gehören in Deutschland fest zusammen. Das habe ich selbst immer wieder erlebt. In meinem Leben hatte ich an ganz unterschiedlichen Stellen immer wieder mit der betrieblichen Mitbestimmung zu tun. Als ich anfing, mich in den 70er Jahren politisch zu engagieren, war der Zeitgeist geprägt von Mut, Aufbruch und Zuversicht – Stichwort: „Mehr Demokratie wagen!“, nicht nur in der Politik, auch in der Wirtschaft. Das hieß auch ganz konkret: Mehr Mitbestimmung wagen!

Das reformierte Betriebsverfassungsgesetz von 1972 trug dem Rechnung. Es war die demokratische Antwort auf den damals stattfindenden gesellschaftlichen Wandel. Damit wurden die Mitbestimmungsrechte von Betriebsräten gestärkt – durch Freistellungen etwa und verbesserte soziale Absicherung oder auch durch einen besseren Schutz für Arbeitnehmer, die sich in tarif-, sozial- und wirtschaftspolitischen Fragen im Betrieb engagieren wollten. Dafür hatten die Gewerkschaften lange gekämpft. Das Gesetz war ihr Erfolg. Und es war ein Erfolg der damaligen Regierung Willy Brandts.

Im Jurastudium habe ich mich dann früh mit kollektivem Arbeitsrecht auseinandergesetzt und habe auch gelernt: Die Wurzeln der Mitbestimmung, auch der betrieblichen Mitbestimmung, reichen bis weit ins 19. Jahrhundert zurück. Damals kam zum ersten Mal in Deutschland der Ruf nach einem Rechtsanspruch auf eine Vertretung der Arbeiterinnen und Arbeiter in den Fabriken auf. Der industrielle Aufschwung wurde auf dem Rücken der Arbeiterschaft erkauft. Unmenschliche Arbeitsbedingungen und Kinderarbeit gehörten zum Alltag. Jede kleine Wirtschaftskrise konnte zu Arbeitslosigkeit und bitterer Armut führen.

Zwischen den ersten Arbeiterausschüssen und Tarifverträgen – etwa im Druckereigewerbe – lag jedoch über ein halbes Jahrhundert, bis dann 1920 mit dem Betriebsrätegesetz erstmals ein Rechtsanspruch auf eine betriebliche Mitbestimmung geschaffen wurde. Es war kein Zufall, dass das in einer Demokratie errungen werden konnte. Und es ist ebenso bezeichnend, dass das Gesetz 1934, ein Jahr nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten, wieder abgeschafft wurde. Erst 1946 wurden mit dem Alliierten Kontrollratsgesetz Nr. 22 wieder Betriebsräte und eine Betriebsverfassung eingesetzt. Ja, und dann kam das Betriebsverfassungsgesetz, dessen 70-jähriges Jubiläum wir heute feiern.

Der Exkurs in die Geschichte zeigt: Es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen Demokratie und demokratischer Mitbestimmung. Zu jeder Zeit, in der es Demokratie in Deutschland gab, gab es auch Betriebsräte. Diese Erkenntnis steckt ja auch in dem Motto des heutigen Tages „Demokratie in Arbeit“.

Auch heute braucht unser Land eine starke betriebliche Mitbestimmung. Erstens, weil demokratische Rechte Teil unserer modernen Arbeitswelt sind. Was das in der Praxis bedeutet und wie wichtig eine gewählte Arbeitnehmervertretung im Betrieb ist, habe ich als Anwalt für Arbeitsrecht selbst erlebt – vor allem in der Zusammenarbeit mit Betriebsräten in Ostdeutschland in den Nachwendejahren. Mit der Schließung von Betrieben und Fabriken brach für die Beschäftigten oft im wahrsten Sinne des Wortes eine Welt zusammen. Denn ein Arbeitsplatz bedeutet ja nicht nur Beschäftigung, Einkommen und berufliche Anerkennung, sondern auch Gemeinschaft und Zusammenhalt.

Von heute auf morgen änderte sich für die Bürgerinnen und Bürger in Ostdeutschland fast alles. In dieser Zeit waren die Betriebsräte eine der wenigen Konstanten, die mit aller Kraft kämpften, wenn es um den Abbau von Arbeitsplätzen oder die Abwicklung von Betrieben ging. Vor dieser Leistung hatte ich damals – und habe ich bis heute – großen Respekt.

„Demokratie in Arbeit“ ist zweitens ein ständiger Prozess. Die betriebliche Mitbestimmung wurde immer wieder weiterentwickelt und den Anforderungen ihrer Zeit angepasst. Eine dieser Anpassungen war 2001. Ich habe mich zur Einbringung des Gesetzentwurfes selbst im Plenum des Deutschen Bundestages zu Wort gemeldet, und ich erinnere mich gut an die Debatten von damals. Von „Entbürokratisierung“ wurde da im Bundestag gesprochen- Gemeint war die Betriebsverfassung. Und hinter der Forderung nach „Flexibilisierung“ verbarg sich der Versuch, die demokratischen Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern einzuschränken. Begründet wurde all das mit der Globalisierung, vor der angeblich nur derjenige bestehen könne, der sich dem damaligen – neoliberalen – Zeitgeist bedingungslos anpasse.

Wir haben das damals nicht gemacht. Im Gegenteil: Wir haben die Möglichkeiten, einen Betriebsrat zu wählen, ausgeweitet – unter anderem mit einem einfachen Wahlverfahren für Betriebe mit bis zu 50 Beschäftigten. Dafür hatten wir gemeinsam gekämpft mit den Gewerkschaften, mit euch, liebe Kolleginnen und Kollegen, und es war wichtig.

Gerade hier in Deutschland wissen wir, dass weltweite Vernetzung, soziale Marktwirtschaft und Welthandel eine gute Basis sind für einen starken Sozialstaat. Kündigungsschutz, betriebliche Mitbestimmung und Mitsprache auch auf Ebene der Unternehmensführung gehören aus meiner Sicht selbstverständlich dazu.

Wir sind nicht allein auf dieser Welt. Wir werden viele Probleme dieser Welt auch nicht allein lösen. Wir brauchen internationale Partnerschaften, Zusammenarbeit und Diversifizierung. Aber wir brauchen zugleich soziale Sicherheit und Stabilität im Innern. Das habe ich als Bundesarbeitsminister während der Finanz- und Wirtschaftskrise 2009 erlebt. Damals hat das Kurzarbeitergeld 300.000 Arbeitsplätze gerettet. Und das – darum sage ich das hier –, was als Grundmodell der Kurzarbeit erstmals in einer Konjunkturkrise so relevant wurde, hatte seine ersten Schritte als ein Produkt der Mitbestimmung gemacht. Damals wie heute sehen wir, dass Unternehmen mit Betriebsräten besser durch Krisenzeiten kommen.

Erst ein starker Sozialstaat schafft den Zusammenhalt, den es braucht, um Krisen gemeinsam zu bewältigen und Veränderungen erfolgreich in Angriff zu nehmen. Das gilt ganz besonders mit Blick auf die schwierigen Monate, die aufgrund von Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine und all seinen Folgen vor uns liegen. Gerade weil wir in Deutschland Traditionen haben wie die Sozialpartnerschaft, wie die betriebliche Mitbestimmung, werden wir diese Herausforderung gut bewältigen.

Digitalisierung und der Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen treiben den Wandel unserer Wirtschafts- und Arbeitswelt in atemberaubender Geschwindigkeit voran. Gute Fachkräfte, ihr Know-how und ihre Kreativität sind dabei unsere wichtigste Ressource. Das war immer so und wird auch in Zukunft so sein. Deshalb sind die betriebliche Ausbildung und ordentliche Weiterbildungsangebote in den Unternehmen das A und O. Und deshalb haben wir im letzten Jahr mit dem Betriebsrätemodernisierungsgesetz auch die Rechtsstellung der Betriebsräte bei der Berufsbildung gestärkt.

Wir werden das politisch weiter flankieren, zum Beispiel mit dem Qualifizierungsgeld. Damit wird die Bundesagentur für Arbeit Beschäftigte während ihrer Weiterbildung am Arbeitsplatz unterstützen.

Ich bin überzeugt: Die Transformation hin zu einer klimaneutralen Wirtschaft kann nur gelingen, wenn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mitreden können, wenn sie mitbestimmen, wohin die Reise geht. Dafür müssen die Betriebsräte mit am Tisch sitzen. Sie sind die Fachleute und wissen oft am besten, was vor Ort funktioniert und was den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wirklich am Arbeitsplatz hilft. Sie sorgen dafür, dass betriebliche Aus- und Weiterbildung vorankommen, dass neue Techniken eingeführt und moderne Anlagen angeschafft werden. Sie vermitteln zwischen Unternehmensführung und Belegschaft und informieren über Auswirkungen der Transformation. Und sie schauen, dass die Beschäftigten mit den Anforderungen klarkommen und mithalten können.

Damit die Betriebsräte das alles leisten können, wollen wir sie und die Betriebsratsarbeit weiter stärken. Deshalb haben wir uns vorgenommen, das Betriebsverfassungsgesetz weiterzuentwickeln. Wir werden ein digitales Zugangsrecht für Gewerkschaften einführen. Betriebsräte sollen selbst entscheiden, ob sie analog oder digital arbeiten.

Und wir werden dafür sorgen, dass die Behinderung demokratischer Mitbestimmung künftig auch ohne Strafantrag verfolgt werden kann, Stichwort: Offizialdelikt. Du hast, liebe Yasmin, eine gute Schilderung abgegeben, warum das alles nötig ist. Noch immer wird in manchen Unternehmen und Branchen viel Druck auf Beschäftigte ausgeübt, die eine Belegschaftsvertretung gründen wollen. Das darf nicht sein! Die Mitbestimmung gehört zur DNA unserer Sozialen Marktwirtschaft. Hier darf es keine Einschränkungen geben, auch und erst recht nicht in Zeiten der Krise!

Einen dritten Punkt möchte ich noch hinzufügen: „Demokratie in Arbeit“ heißt auch, unsere Demokratie an sich ist in Arbeit. Demokratische Grundwerte müssen immer wieder verteidigt werden – gerade in Krisenzeiten wie diesen. Denn Demokratie bedeutet eben nicht nur Plenarsäle und Abgeordnete, Abstimmungen und 1.773 Gesetze. Demokratie ist ein Gesellschaftsprinzip. Es bedeutet, dass der Einzelne, die Einzelne nicht schutzlos höheren Mächten ausgeliefert ist, sondern dass jede und jeder einen Platz hat und den eigenen Weg mitbestimmen kann. Es bedeutet auch: Niemand wird am Wegesrand vergessen, niemand bleibt zurück. Wir haken uns unter und lösen die Probleme unseres Landes gemeinsam.

Dass wir das aktuell tun müssen, liegt vor allem an dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine; ein Krieg, der Tag für Tag weitergeht und viele Menschenleben kostet. Ganze Städte und Landsteile sind verwüstet, Infrastruktur zerstört. Jetzt kommen die kühlen Temperaturen hinzu.

Immer noch fliehen Ukrainerinnen und Ukrainer vor dem Krieg und suchen Schutz und Zuflucht bei uns. Mittlerweile ist über eine Million hier registriert. Das stellt die Städte und Gemeinden vor große Herausforderungen. Damit sie die gut bewältigen können, wird der Bund die Länder und Kommunen in diesem und im nächsten Jahr jeweils mit zusätzlichen 1,5 Milliarden Euro unterstützen. So haben wir es gerade gemeinsam mit den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten beschlossen.

Und wir haben beschlossen, die Bürgerinnen und Bürger sowie unsere Unternehmen ganz konkret bei den Energiepreisen zu entlasten. Dafür nehmen wir nochmal 200 Milliarden Euro in die Hand.

Vorgesehen sind drei Preisbremsen: erstens beim Gas, indem Privathaushalte sowie kleine und mittlere Unternehmen nicht mehr als zwölf Cent pro Kilowattstunde für den Grundbedarf zahlen müssen. Zweitens wird es neben der Gaspreisbremse auch eine Bremse für die Fernwärmepreise geben. Der Preis wird hier für den Grundbedarf auf 9,5 Cent pro Kilowattstunde gedeckelt. Zudem übernimmt der Bund als Soforthilfe einmalig die Abschläge für Heizkosten im Dezember und erstattet sie den Versorgern direkt.

Drittens entlasten wir Privathaushalte und kleine und mittlere Unternehmen bei den Strompreisen, die wir auf 40 Cent pro Kilowattstunde für den Grundbedarf deckeln. Das sind etwa zehn Cent mehr pro Kilowattstunde als vor Beginn des Krieges.

Preisbremsen für Strom und Gas gelten auch für die Industrie, und im Rahmen des Beihilferegimes der Europäischen Union setzen wir das um. Zum Gesamtpaket gehören auch Härtefallmaßnahmen, beispielsweise für Krankenhäuser, wenn Strompreisbremse und Gaspreisbremse allein nicht reichen.

All das tun wir, damit niemand Angst haben muss vor der nächsten Rechnung. Denn eine Gesellschaft, die vor so großen Herausforderungen steht wie unsere, braucht eben den Zusammenhalt. Das ist für mich eine Frage des Respekts. Respekt und Zusammenhalt waren immer die Leitplanken der Mitbestimmung in Deutschland. Das zeigen fast zwei Jahrhunderte Kampf um Mitbestimmungsrechte. Das zeigen auch heute Betriebsrätinnen und Betriebsräte Tag für Tag. Immer wieder habe ich erlebt, wie sie sich klar gegen Extremismus, gegen Diskriminierung und gegen Rassismus gestellt haben.

Und das zeigt auch: Die betriebliche Mitbestimmung selbst ist ein Ausdruck gelebter Demokratie. Sie ist vielleicht sogar, so hat es Bundespräsident Steinmeier einmal gesagt, „der wesentliche Teil jener Selbstbestimmung, die unsere liberale Demokratie verspricht“. Und deshalb ist Mitbestimmung kein Wagnis, wie es noch vor langer Zeit lautete, sondern schlicht ein Akt demokratischer Vernunft.

Schönen Dank!