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17.11.2003

Rede des Generalsekretärs Olaf Scholz auf dem Bundesparteitag in Bochum

Liebe Genossinnen und Genossen!


Ich bekomme täglich Briefe von Mitgliedern und SPD-Anhängern. Sie fragen: Wo bleibt das Soziale? Ist das, was ihr tut, ausgewogen? Werden nicht immer nur die kleinen Leute belastet? Sind wir noch die alte SPD?

Viele Mitglieder verlassen unsere Partei, auch nach vielen Jahren der Mitgliedschaft. Darunter sind Mitglieder, die über Jahrzehnte zu den Aktivsten gezählt haben, die Plakate geklebt haben, die mit uns Politik gemacht haben, die für die SPD den Kopf hingehalten haben, die in den Kommunalparlamenten unsere Partei vertreten haben. Fast jeder von uns kennt jemanden, der lange dabei war und ausgetreten ist. Wir nehmen diese Austritte nicht auf die leichte Schulter.

Jeder weiß: Es sind nicht nur Austritte, die uns Sorgen machen. Wir haben bittere Niederlagen bei Landtags- und Kommunalwahlen eingesteckt.

Alles das belastet uns.

Ganz ehrlich: Als ich vor einem Jahr Generalsekretär unserer Partei wurde, hatte ich mir eine solche Entwicklung nicht vorgestellt.

Genossinnen und Genossen, wir stecken mitten in einem Umbruch unseres Landes. Der Abschied von alten Gewohnheiten, von alten Erwartungshaltungen und Mentalitäten fällt uns verdammt schwer, uns allen. Vielleicht konnten wir deshalb nicht immer gut genug erklären, was wir machen und warum wir es machen. Aber wir müssen kämpfen, jeden Tag, um jedes Mitglied, um jeden Wähler!

Ich hoffe sehr, dass dann Wählerinnen und Wähler, Kollegen und Mitglieder zu uns zurückfinden werden. Wenn manche davon nicht jetzt gleich zurückkommen, aber in einem Jahr oder in zwei Jahren, dann ist auch das unsere Mühe wert.

Im Übrigen: Auch jetzt, auch in diesen Monaten verzeichnen wir Eintritte sicher weniger als Austritte, aber es sind doch fast Zehntausend und sehr viele dieser neuen Mitglieder sind junge Leute.

Wir können mehr Mitglieder gewinnen. Das wird so sein, wenn die Menschen ihre Hoffnung auf Gerechtigkeit und soziale Sicherheit mit uns verbinden. Das wird so sein, wenn sie uns erneut als Partei des Fortschritts und der Zukunft in Deutschland verstehen.

Genossinnen und Genossen, wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten waren es, die in den letzten Monaten die zentrale Zukunftsdebatte unserer ganzen Gesellschaft geführt haben. Wir alle wissen, wie anstrengend, wie schwierig und unendlich mühsam diese Debatte ist. Aber wir sind es eben, die diese Debatte führen. Auch darauf können wir stolz sein. Wir haben uns nicht gedrückt.

Die Reform der Agenda 2010 halte ich für richtig. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass ohne diese Reformen Sozialstaat und soziale Marktwirtschaft in unserem Lande gefährdet wären. Die Reformen sind das wissen wir nicht populär. Wer sie öffentlich vertritt, bekommt das oft zu spüren. Trotzdem, Genossinnen und Genossen: Wir haben diese Reform auf unserem Parteitag im Juni gemeinsam beschlossen. Generalsekretär und Partei werden sich nicht  gegen die Fraktion und die Bundesregierung bei der Durchsetzung dieser Reformen stellen.

Gerade jetzt ist es gut, dass wir die Verantwortung für die Regierung haben, denn der sozialstaatliche Konsens in Deutschland ist in Gefahr. Das ist gefährlich. Der sozialstaatliche Konsens war immer eine der ganz großen Stärken unseres Landes: gut für unsere Wirtschaft, gut für den sozialen Frieden, gut für unseren Wohlstand. Deshalb wollen wir diesen Konsens bewahren.

Heute nimmt aber die Zahl derjenigen in Deutschland zu, die offen und zynisch die Meinung vertreten, der ganze Sozialklimbim sei sowieso Belastung und Bürde aus einer vergangenen Zeit. Herr Rogowski, der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, hat gesagt, er wünsche sich manchmal ein großes Lagerfeuer, um das Betriebsverfassungsgesetz und die Tarifverträge hineinzuwerfen. Genossinnen und Genossen, was für ein Bild!

Und: Herr Rogowski wird sich auf andere Weise warm halten müssen. Wir werden die Tarifautonomie und die Betriebsverfassung verteidigen!

Frau Merkel profiliert sich als Theologin. Vor dem Herrgott sind Hausmeister und Manager gleich das hat sie gesagt, um zu begründen, dass in Zukunft alle, unabhängig von ihrem Einkommen, denselben Krankenversicherungsbeitrag zahlen sollen, nämlich 264 Euro pro Kopf. Der Frau Merkel muss man sagen: Im Himmel mögen Hausmeister und Manager gleich sein. Als Sozialdemokraten bestehen wir sogar darauf.

Aber wir wissen auch: Die Geldbeutel von Hausmeistern und Managern auf dieser Erde sind unterschiedlich prall gefüllt. Darum wollen wir die solidarische Bürgerversicherung, darum lehnen wir die Einführung von Kopfpauschalen in der Krankenversicherung ab!

Viele werden sich eine solche Krankenversicherung gar nicht leisten können, viele verdienen gar nicht so viel.

Dann hören wir, dass durch Zuschüsse geholfen werden soll. Aber, Genossinnen und Genossen, es ist ein Unterschied, ob man wie heute seine Krankenversicherung aus eigenem Einkommen zahlen kann oder ob man auf öffentliche Unterstützung angewiesen ist. Kein Mensch weiß überhaupt, wo mal eben bis zu 40 Milliarden Euro für Zuschüsse aus Steuermitteln herkommen sollen.

Und ein paar Tage später kündigt Herr Merz an, dass er den Spitzensteuersatz auf 36 Prozent senken will.


Genossinnen und Genossen, das passt vorne und hinten nicht zusammen.

Wir lehnen eine weitere Absenkung des Spitzensteuersatzes ab.

Die Zeche dafür zahlen doch nur die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.

Schaut man gleich weiter zu Herrn Kirchhof, auch in der CDU sehr beliebt, dann zahlen bald alle dieselbe Steuer von 25 Prozent. Gewissermaßen kommt nach der Kopfpauschale in der Krankenversicherung die Kopfsteuer.


Genossinnen und Genossen, das werden wir nicht mitmachen. Zu einem gerechten Steuersystem gehört auch, dass die Steuerlast mit wachsendem Einkommen steigt.

Friedrich Merz das ist ja ein ganz besonders interessanter Fall erklärt die 16 Jahre Helmut Kohl kurzerhand zu einem einzigen großen Irrtum und verkündet den Anfang vom Ende der Sozialdemokratisierung der CDU. Wir fragen uns: Was meint der Mann damit? Heiner Geißler hat es auf den Punkt gebracht: Sie machen aus der CDU eine neoliberale Wirtschaftspartei.


Genossinnen und Genossen, auch wenn die derzeitigen Umfragen das wirklich nicht nahe legen: Für diese Politik gibt es in Deutschland auf Dauer keine Mehrheiten!

Unsere Sozialreformen dienen einem Ziel: dafür zu sorgen, dass alle Menschen Arbeit haben. Seit über 20 Jahren ist die Zahl der Arbeitslosen immer weiter gestiegen. Gerade die Langzeitarbeitslosigkeit hat immer weiter zugenommen. Damit werden wir uns nie abfinden.


Genossinnen und Genossen, unsere Partei hat ihr ganzes Selbstbewusstsein, ihren ganzen Stolz immer über die Würde und über den Wert der Arbeit begründet. Dabei bleibt es, weil Arbeit auch heute noch fundamental ist für das Wohlergehen der allermeisten Menschen in Deutschland. Dabei bleibt es, weil die Lebenschancen, die Anerkennung und die Einbindung der Menschen in unsere Gesellschaft davon abhängen, ob die Menschen Arbeit haben oder nicht.

Genau darum halten wir, so weit wir jetzt auch davon entfernt sind, an unserem Ziel der Vollbeschäftigung fest. Manche sagen: Das gibt es nicht mehr. Sie sind aber, finde ich, widerlegt. Schauen wir uns in Europa um: Beispielsweise in Schweden, in Finnland, in Norwegen und in Dänemark finden heute mehr Menschen Arbeit. Warum soll in einem reichen Land wie dem unsrigen nicht gelingen, was dort gelungen ist?

In diesen Ländern sind sozialdemokratische Parteien den Weg gegangen, den wir jetzt zum Beispiel mit unserer Reform der Arbeitsvermittlung gehen. In einer so großen persönlichen Katastrophe, wie es die Arbeitslosigkeit ist, dürfen wir die Menschen nie alleine lassen.


Genossinnen und Genossen, entscheidend für die beruflichen Chancen der Menschen ist die Bildung, die wir ihnen ermöglichen. Das ist übrigens ein lebensbegleitendes Thema. Hier unterscheiden wir uns fundamental von denen, die den Menschen nur einmal eine Chance geben wollen. Wir wollen ein Leben lang immer wieder neue Chancen geben.

Ich war neulich in meinem Wahlkreis Hamburg-Altona bei der Volkshochschule. Sie bietet Menschen, die ihren Hauptschulabschluss nachholen wollen, einen einjährigen Unterricht an. Jedes halbe Jahr bewerben sich 200 Interessierte. Gerade 40 können genommen werden. Genossinnen und Genossen, so werden Menschen im Stich gelassen. So werden Chancen und Hoffnungen zerstört.



Viele von uns auch hier im Saal haben von den Bildungsreformen der 60er- und 70er-Jahre profitiert. Auch ich zähle zu denen, die die Chance genutzt haben, das erste Mal in der Geschichte ihrer Familie Abitur zu machen und zu studieren. Das habe ich wie viele andere dem Engagement der eigenen Eltern, aber auch dem Engagement sozialdemokratischer Bildungspolitiker zu verdanken.

Aber die große Bildungsreform der 60er- und 70er-Jahre ist zum Erliegen gekommen. Die Bildungsleitern, auf denen viele emporgestiegen sind, sind hochgezogen worden. Die Durchlässigkeit nach oben auch für die kleinen Leute hat es in der Bundesrepublik eine Zeitlang gegeben. Heute sieht das schlechter aus. In keinem vergleichbaren Land hängen die Bildungschancen so sehr von der sozialen Herkunft ab wie bei uns in Deutschland. Das darf nicht so bleiben. Damit können wir Sozialdemokraten nicht leben.

Bildung wird immer wichtiger. Wer heute einen Hauptschulabschluss macht, hat Schwierigkeiten, damit den Beruf seiner eigenen Eltern zu ergreifen. Aber wer heute gar keinen Schulabschluss hat, der hat nur ganz geringe Chancen auf dem Arbeitsmarkt der Zukunft. Deshalb: Es gibt keine Rechtfertigung dafür, dass ein solches Land wie die Bundesrepublik Deutschland 10 Prozent seiner Schülerinnen und Schüler ohne irgendeinen Abschluss aus den Schulen entlässt, liebe Genossinnen und Genossen.

Gerechtigkeit durch Bildung, das heißt übrigens nicht, dass sich andere Gerechtigkeitsfragen erledigt hätten. Der Ausweitung der Investitionen in die Bildung der Menschen hat auch etwas mit Verteilung zu tun. Wer starke Schultern hat, muss einen größeren Beitrag zur Finanzierung unseres Gemeinwesens leisten. Darum muss das Vererben großer privater Vermögen wieder höher besteuert werden.

Es kann nicht sein, dass die Erbschaftsteuer heute real geringer ist als zu Ludwig Erhards Zeiten. Deshalb, glaube ich, ist das schon eine notwendige Reform, die wir dort auf den Weg bringen wollen.


Genossinnen und Genossen, Bildung endet nicht mit der Schule. Wir wollen, dass alle jungen Menschen nach der Schule einen Ausbildungsplatz bekommen. Heute wird zu wenig ausgebildet. Früher war das anders. Früher war Ausbildung eine moralische Selbstverständlichkeit. Viele Unternehmen begriffen es als ihre Aufgabe. Aber das ist anders geworden. Deshalb ist es richtig, dass die Unternehmen, die nicht oder nicht genug ausbilden, eine Umlage zur Finanzierung der Ausbildung zahlen.


Genossinnen und Genossen, Deutschland ist ein kinderunfreundliches Land. Das gilt trotz all der Verbesserungen, die wir durchgesetzt haben. Wir sind schlechter als andere Länder. Es gibt zu wenig Betreuungsmöglichkeiten, vor allem zu wenig qualitativ gute Betreuungsmöglichkeiten für die Kinder. Die Folgen kennen wir alle. Die Zahl der Geburten in Deutschland nimmt ab, obwohl sich junge Leute in Deutschland genauso viele Kinder wünschen wie junge Menschen anderswo. Klar. Aus der Perspektive der Wettbewerbsgesellschaft ist das Idealbild vom Menschen der berufstätige Single. Aus der Perspektive der Menschen ist er es nicht. Deshalb machen wir unsere Politik aus der Perspektive von Eltern und Kindern. Dieser Parteitag wird dazu viele weitreichende Beschlüsse fassen.


Genossinnen und Genossen, alle diese Themen und weitere werden wir in den nächsten Tagen noch intensiv diskutieren, weil sie alle zu der Frage gehören, wie wir unser Land in sozialer Verantwortung gerecht erneuern können, wie wir wieder Perspektiven für Wachstum, Beschäftigung und gesellschaftliche Innovation aufzeigen können. Intensive inhaltliche Debatten sind kein Makel, im Gegenteil. Wir müssen sie führen, damit Entscheidungen von allen mitgetragen werden können. Besser, wir diskutieren vor einer Entscheidung, und nicht, wenn sie bereits gefallen ist. Bei der Agenda 2010 das wissen wir alle war es anders herum. Ein Teil der Probleme, die wir miteinander haben, rühren sicher daher. Aber es ist völlig klar: Im Regelfall müssen wir erst untereinander diskutieren und dann entscheiden. Bei den Themen des Perspektivantrages auf diesem Parteitag sind wir genau so vorgegangen. Wir brauchen Freiräume für die Diskussion und die kontroverse Debatte, Freiräume auch für unser Nachdenken über den Tag hinaus.

Eine Partei, die sich, weil sie in Regierungsverantwortung ist, das Denken über den Tag hinaus verbieten würde, würde sich selbst aufgeben. Das hat die CDU unter Kohl bitter erfahren. Diesen Fehler dürfen und werden wir nicht machen.

Die Grenze des sozialdemokratischen Denkens liegt auch nicht dort, wo der unionsgeführte Bundesrat gerade noch zustimmt. Über die Inhalte sozialdemokratischen Denkens bestimmen wir selbst.

Das, liebe Genossinnen und Genossen, gilt allemal für unsere Programmdebatte. Wir haben uns 1999 vorgenommen, ein neues Grundsatzprogramm zu schreiben. Inzwischen ist die Debatte in Gang gekommen. Das ist auch notwendig. Denn die Diskussion über unsere Grundsätze, darüber, was Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität heute bedeuten, brauchen wir, wenn wir im Sinne von Willy Brandt auf der Höhe der Zeit sein wollen. Unterschiedliche Ansätze können da zusammenwachsen. Bis zum nächsten Jahr werden wir einen Text als Grundlage für die innerparteiliche Diskussion vorlegen. Für diese Diskussion nehmen wir uns ausreichend Zeit, bevor wir auf einen eigenen Parteitag unser neues Programm beschließen. Denn eines ist klar: Unsere Debatte über das Programm ist mindestens so wichtig wie am Ende der Text.

Nur durch offene Diskussion werden wir in unübersichtlichen Zeiten gemeinsam vorankommen. Wir wissen alle, wie schwer das ist, wenn das Interesse der Medien an Unterhaltung innerparteiliche Diskussion zu Krisen und Aufständen hochjazzt und damit jede ernsthafte und abwägende Debatte im Keim erstickt. Genossinnen und Genossen, das macht es uns nicht leichter. Ganz und gar unakzeptabel ist es aber, und zwar nicht allein für uns, wenn große deutsche Zeitungen behaupten, Politik sei nur noch Blabla. So wird Politik verächtlich gemacht. So wird Politikverdrossenheit systematisch erzeugt. Das geht an die Substanz der Demokratie.

Die Geschichte der Weimarer Republik hat uns gelehrt, wohin es führen kann, wenn das demokratisch legitimierte Parlament als Quasselbude diskreditiert wird. Politik ist alles andere als Blabla.


Genossinnen und Genossen, ein schwieriges, ein ereignisreiches Jahr liegt hinter uns. Das vor uns liegende wird nicht viel weniger einfach: die Europawahl, vier Landtagswahlen, acht Kommunalwahlen, eine ganz wichtige hier in Nordrhein-Westfalen. Bei allen Wahlen haben wir die Chance, besser abzuschneiden, weil wir mit diesem Parteitag ein Aufbruchsignal geben werden, weil wir gemeinsam Projekte wie Mitgliederwerbung, Reform der Organisation und Programmdebatte vorantreiben werden, weil wir unmittelbar nach diesem Parteitag eine Dialogoffensive starten werden. Ich schlage vor, dass alle Mitglieder des neu gewählten Vorstandes, dass Ministerinnen und Minister, dass alle Verantwortlichen in unserer Partei überall in Deutschland in den nächsten Monaten in Veranstaltungen für die Politik der Erneuerung und für die Ziele werben, die wir hier festlegen werden.


Genossinnen und Genossen, wer könnte bestreiten, dass sich unsere Gesellschaft in einem historischen Umbruch befindet? Wer könnte bestreiten, dass auch wir davon betroffen sind? Aber in jeder Krise steckt auch eine Chance, wir können diese Chance nutzen, wenn wir einen klaren Kopf behalten, die notwendigen Entscheidungen treffen und den Blick nach vorn richten.


Schönen Dank.