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Scholz: Gleichwertige Lebensverhältnisse in Ost und West
Olaf Scholz im Interview mit der Schweriner Zeitung
Herr Scholz, was verstehen Ostdeutsche unter einem Jägerschnitzel?
Etwas, das aus Wurst hergestellt wird, die dann frittiert wird.
Konkret: Panierte und gebratene Jagdwurst mit Nudeln und Tomatensoße.
Genau. Das habe ich in der Kantine des Bundesministeriums für Finanzen schon häufiger gegessen. Hat nichts mit dem westdeutschen Jägerschnitzel gemein.
Was meinen Sie: Wieviel Prozent westdeutsche Alltagskultur mussten Ostdeutsche lernen und wieviel Prozent ostdeutscher Alltagskultur Westdeutsche?
Ich weiß nicht, ob ich das in Prozenten angeben kann. Klar ist: Nach 1990 haben sich die Ostdeutschen sehr viel stärker auf die neuen Verhältnisse einstellen müssen als die, die im Westen Deutschlands aufgewachsen sind. Ich erinnere mich noch ganz gut daran, denn in den 90-er Jahren war ich als Anwalt aktiv und habe Arbeitnehmerinnen und Betriebsräte bei den Umbruchprozessen in Ostdeutschland vertreten. Und ich gebe gerne zu, dass ich so einen begnadeten Sänger und Textschreiber wie Gerhard Gundermann erst kennengelernt habe, kurz bevor ich Brandenburger wurde. Zu meinem Geburtstag habe ich mir gerade ein Kochbuch mit Rezepten aus der DDR schenken lassen. Ob das Jägerschnitzel drin ist, weiß ich aber noch nicht.
Es gibt also eine Kluft, die noch nicht ganz überwunden ist. Sollten Sie Kanzler werden: Wie wollen Sie diese Kluft überbrücken?
Gleichwertige Lebensverhältnisse in Ost und West, und ja - in allen Teilen des Landes müssen wir als unsere gemeinsame Aufgabe begreifen. Ich finde, dass die Frage, wie es mit der Lausitz weitergeht oder mit den Werften in Deutschland, keine Angelegenheit ist, die nur Brandenburg und Sachsen oder die Küstenländer angeht.
Die MV Werften sind nun nach langem Ringen unter den Rettungsschirm des Bundes geschlüpft. Halten Sie das in einer Marktwirtschaft für den richtigen Weg? Und andere Länder subventionieren ihre Werftindustrie. Ist das auch ein Weg für Deutschland oder schließen Sie das aus?
Immer wieder wird es zu Situationen kommen, in denen wir Unternehmen, die eine Zukunft haben, über Durststrecken hinweg unterstützen müssen. Das hat die Pandemie gezeigt, als manchen Unternehmen zeitweise das Geschäft komplett wegbrach. Deshalb hat der Staat während Corona so viele Finanzhilfen gegeben.
Glauben Sie, dass die Werften wirklich eine Zukunft haben?
Ich komme aus einer Hafenstadt und weiß, dass es Werften gibt, die gute Chancen haben, weil sie sich spezielle Geschäftsfelder erobert haben. Vor der Pandemie ist die Kreuzfahrtindustrie extrem expandiert. Ich glaube, in einiger Zeit wird sich die Branche erholen und der Boom sich fortsetzen.
Aber wie lange kann man ansubventionieren beispielsweise gegen die staatliche Subvention in China oder Südkorea? Könnten Sie als deutscher Kanzler einen neuen Trend in die Verhandlungen bringen?
Nach der Pandemie werden sich viele dieser Themen erneut stellen. Beispielsweise die Frage der Subventionen in internationalen Handelsgesprächen. Die Gespräche sind mühselig, und dauern oft sehr lange – aber es kann Lösungen geben. Die jetzt verabredete internationale Mindestbesteuerung von Unternehmen hat gezeigt, dass solche globalen Regelungen möglich sind. Wichtig ist mir die Erkenntnis, dass wir das international nur im Rahmen der Europäischen Union schaffen können.
Die Schiffe, die die MV Werften bauen, fassen 10 000 Mann. Glauben Sie auch mit Blick auf die Pandemie wirklich, dass das der richtige Weg ist?
Die Antwort müssen die Reedereien geben, die in diese Schiffe investieren. Ich glaube, es ist noch zu früh, das mit letzter Sicherheit zu beantworten. Das ist wirklich Marktwirtschaft, das muss der Markt zeigen.
Sie führen vor Laschet und Baerbock bei der Kanzlerfrage. Worauf führen Sie das zurück und kann das die niedrigen Werte der Bundes-SPD kompensieren?
Ich bin sehr berührt davon, dass so viele Bürgerinnen und Bürger mir das Amt des Regierungschefs zutrauen. Deutschland ist ein sehr, sehr großes Land, und wer Kanzler werden will, der hat eine große Verantwortung. Die Bundestagswahl ist immer auch eine Kanzlerwahl. Dieses Mal noch stärker als sonst. Denn das erste Mal seit 1949 tritt der Amtsinhaber nicht wieder an. Deshalb wird die Frage, wer Regierungschef wird, für die Bürgerinnen und Bürger eine noch größere Rolle spielen. Und wer will, dass ich Kanzler werde, macht sein Kreuz am besten bei der SPD.
Bei der Bundestagswahl 2017 hat die SPD 470 000 Wähler an die AfD verloren, die Landes-SPD bei der Landtagswahl 2016 etwa 15 000. Sehen Sie diesen Trend gestoppt? Wo sehen Sie die Gründe für diesen Trend?
Die Herausforderung des Rechtspopulismus gibt es ja nicht nur in Deutschland. Das sehen wir beispielsweise in Skandinavien, und mal von hier aus betrachtet: Welche wirklichen Probleme gibt es in Norwegen, Schweden, Dänemark, die Parteien attraktiv machen, die vor allem schlechte Laune verbreiten? Oder in Österreich, den Niederlanden? Wer den Brexit richtig verstanden hat, weiß, was in Ländern los ist, die im globalen Maßstab als reich gelten.
Viele der Bürgerinnen und Bürger sind nachhaltig verunsichert. Was in den 70-er und 80-er Jahren noch eindeutig schien, ist längst nicht mehr so klar: Dass wir mehr können als andere. In Asien leben mehrere Milliarden Menschen, die auch ziemlich viel können. Deshalb kommt es so sehr darauf an, dass wir unsere Wirtschafts- und Industriepolitik ganz vornean stellen und mit neuen Technologien neue Chancen auf gute Arbeitsplätze schaffen.
Gerade wird bei Mercedes darüber diskutiert, Technologien nach Asien auszulagern. Auch in Ostdeutschland hat man diese Töne immer wieder gehört. Und im Osten haben sich wesentliche Eigenschaften der sozialen Marktwirtschaft nie etabliert. Gerade mal ein Viertel der Beschäftigten beispielsweise arbeitet in tarifgebundenen Unternehmen.
Aus meiner Sicht muss jetzt endlich die Angleichung der Löhne in Ost und West gelingen. Mehr als 30 Jahre nach der Einheit ist das überfällig. Mein Vorschlag, den Mindestlohn auf 12 Euro anzuheben, folgt diesem Ziel. Zehn Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland werden dadurch höhere Löhne und Gehälter bekommen, sehr viele davon in Ostdeutschland. Das kann helfen, dass Tarifverträge besser funktionieren. Und es geht um ein stabiles Rentenniveau. Union und FDP scheuen sich, das zu garantieren – und ich glaube mit Absicht.
Diskutiert wird neben dem Mindestlohn auch das Instrument der Allgemeinverbindlichkeitserklärung für Tarifverträge. Halten Sie das für ein geeignetes Instrument?
Dabei geht es darum, dass ein einmal ausgehandelter Tarifvertrag für die gesamte Branche gilt und nicht nur zwischen den Gewerkschaften und Arbeitgebern, die ihn aushandeln. Lange Zeit war das die Praxis in Deutschland und ist dann irgendwann verschwunden, was ich sehr bedaure. Wer behauptet, das sei schlecht für die Entwicklung der Wirtschaft, dem halte ich entgegen: Der gesamte wirtschaftliche Aufschwung der alten Bundesrepublik fand mit vielen allgemeinverbindlichen Tarifverträgen statt – so schlecht kann das nicht gewesen sein. Ich bin dafür, dass wir in dem Rahmen, den uns das Grundgesetz setzt, dafür sorgen, dass es leichter wird, Tarifverträge für alle verbindlich zu machen.
Wir hatten diesen Fragekomplex mit der AfD begonnen. Wie stehen Sie zu einer Beobachtung der Gesamtpartei durch den Verfassungsschutz?
Der Verfassungsschutz hat die Aufgabe zu beobachten, ob die Demokratie gefährdet ist. Das muss immer nach guten Regeln erfolgen. Darüber entscheiden nicht Parlamente und auch nicht allein die Regierung. Und es ist rechtlich überprüfbar. Jeder weiß, dass es in der AfD eine ganze Reihe von Personen und Gruppen gibt, die politische Haltungen einnehmen, die mit dem Grundgesetz und der Idee von einem guten Zusammenleben nicht übereinstimmen.
Noch eine Frage zu Nord Stream 2. Am Anfang des Wahlkampfes haben Sie vor einem Plakat gestanden, das mit Klimaneutralität geworben hat. Glauben Sie, dass man mit Gasleitungen wie Nord Stream klimaneutral wird?
Unser Land steht vor großen Veränderungen im Kampf gegen den Klimawandel. Das müssen wir gleich zu Beginn der nächsten Legislaturperiode angehen. Deutschland hat sich vorgenommen, bis 2045 klimaneutral zu wirtschaften. An die Stelle von Kohle, Erdöl und Erdgas wird Energie aus Sonne und Windkraft treten und Wasserstoff wird als Energieträger im großen Maße eingesetzt werden. Bis es soweit ist, dass Wasserstoff industriell-nutzbar zur Verfügung steht, ist Erdgas eine unverzichtbare technologische Brücke. Und alle neuen Anlagen, die wir für Gas bauen, müssen so geplant werden, dass sie später auch für Wasserstoff genutzt werden können.