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30.10.2002

"Auftrag für Deutschland" - Bundestagsrede zur Regierungserklärung am 30. Oktober 2002

 Herr Präsident! Meine Damen und Herren!

Wir haben eine interessante Rede von Frau Merkel gehört, in der sie uns manches über längerfristige Linien gesagt hat. Sie hat festgestellt, es sei dringend erforderlich, dass man die langen Linien bzw. die Grundsätze der Politik erkennen könne. Weil sie dann doch an einer Stelle konkret werden wollte, ist sie auf diese Grundsätze genauer eingegangen. Man brauche nämlich Beamte im Bundeskanzleramt, die für Grundsätze zuständig seien. Das war ihr Vorschlag für die zukünftige Grundsatzabteilung, die die langen Linien angehen soll.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Meine Damen und Herren, es geht doch um etwas Wesentlicheres als diesen Hinweis. Dass dieser so einfach möglich war, lag daran, dass es in der Tat in der Rede keinen einzigen Vorschlag für die Regierung unseres Landes und dazu, wie es weitergehen soll, gegeben hat.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

In den letzten Tagen geistert immer wieder ein Thema durch die Medien, das auch hier gern zitiert wird und miss­ verstanden werden kann: Es wird Mut zu einer langfristigen Strategie gefordert. Ich halte das für richtig. Wir brauchen Mut, nur mit Mut haben wir eine Chance, unser Land zu regieren. Wenn sonntags eine Rede über die richtige Politik gehalten wird, wissen auch alle, was Mut ist.

Man kann zum Beispiel sagen: Wir müssen dazu beitragen, dass die Steuersätze in unserem Land sinken und dass Steuerschlupflöcher gestopft und Subventionen gestrichen werden. Niemals mit irgendeiner Relevanz für die CDU/CSU-Fraktion, aber doch immer wieder in Zeitungen veröffentlicht, hat zum Beispiel der Kollege Uldall, der jetzt in Hamburg Senator sein darf, Vorschläge zu gestaffelten Steuersätzen gemacht. Sämtliche Schlupflöcher und Subventionen, die wir jetzt streichen, waren dabei längst gestrichen.

Wenn aber der Mut konkret gefordert wird, dann ist alles anders. Dann melden sich nämlich all diejenigen, die vorher Vorschläge gemacht haben, zu Wort und fordern: Dieses Steuerschlupfloch, diese Subvention und diese Einzelregelung sollen aufrecht erhalten bleiben.

Dass man sich dabei sehr lächerlich machen kann, hat uns Frau Merkel vorgemacht. Sie hat sich nämlich in der Geschichte der Bundesrepublik jetzt damit hervorgetan, dass sie den halben Mehrwertsteuersatz für Schnittblumen verteidigt hat. Ich glaube, solche Forderungen zeigen letztlich, wie die Subventionsbekämpfung bei Ihnen konkret aussieht.

(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Fragen Sie Ihre eigenen Leute!)

Ich glaube, es ist richtig, dass wir ein Konzept vorgelegt haben, in dem weitere Steuersenkungen enthalten sind. In den Jahren 2004 und 2005 werden 29 Milliarden Euro an die Bürgerinnen und Bürger zurückgegeben.

(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Vorher haben sie 40 Milliarden mehr bezahlt!)

Diese Einnahmen fehlen in den Kassen von Bund, Ländern und Gemeinden und deshalb ist es auch richtig, weitere Schlupflöcher zu stopfen.

Eines dieser Schlupflöcher hat bei Ihnen im Wahlkampf eine große Rolle gespielt. Zum Beispiel hat Herr Merz gesagt, es kann nicht sein, dass die Kapitalgesellschaften in Deutschland im Saldo mehr Steuern erstattet bekommen als sie zahlen. Von Herrn Stoiber ist im Wahlkampf, teilweise mit zitternder Stimme, immer wieder erwähnt worden, dass es dringend notwendig sei, die Ausfälle bei der Körperschaftsteuer zu bekämpfen. Dazu hat er etwas Ähnliches wie Herr Merz gesagt.

Nun gehen wir das an das ist ein ganz wichtiger Teil des Subventionsabbaus und des Stopfens von Steuerschlupflöchern , indem wir sicherstellen, dass Unternehmen und Körperschaften, die Gewinne machen, auch Steuern zahlen. Das ist gut so, dem sollten auch Sie zustimmen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)

Tatsächlich sind Sie in dieser Frage aber sehr leise geworden. Sie kommen gar nicht mehr darauf zurück, sondern erwähnen nur noch die Schnittblumen und den Mehrwertsteuersatz, der für diese angehoben werden soll.

(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Wer redet hier von Schnittblumen?)

Das ist gewissermaßen die Kontinuität Ihrer Gedanken vor und nach der Wahl. Deshalb: Es gibt ganz andere, die die Wähler getäuscht haben; denn wer die CDU gewählt hat, könnte gedacht haben, jetzt geht es den großen Konzernen endlich an den Kragen. Tatsächlich aber wollen Sie das, was wir jetzt vorhaben, gar nicht unterstützen.

Meine Damen und Herren, es ist wichtig, sich darüber zu unterhalten, dass es die mutlosen Mutigen gibt. Die mutlosen Mutigen sind diejenigen, die immer sagen, was man eigentlich tun müsste, aber die Sätze nicht zu Ende sprechen. Sätze, die nicht zu Ende gesprochen werden, sind beispielsweise: Man braucht auf dem Arbeitsmarkt endlich einen Aufbruch, der Verkrustungen beseitigt; wir müssen etwas bei der Rente tun, damit die Beiträge nicht weiter steigen; auch bei der Gesundheitspolitik ist das erforderlich, hier muss etwas getan werden, damit wir mit dem Geld besser auskommen.

Die Fragen aber, die weder Frau Merkel noch Herr Glos, noch jemand anders beantwortet, lauten: Was soll man tun? Hier setzen Sie ein bisschen darauf, dass Ihre eigentlichen Freunde wissen, was Sie tun wollen, und viele es nicht wissen und glauben, Sie machen etwas Vernünftiges. Denn tatsächlich haben Sie ganz konkrete Vorstellungen, die Sie auch nennen könnten, aber Sie nennen sie nicht. Soll es so sein, dass wir bei medizinischen Leistungen Kürzungen durchführen und sagen, diese gibt es nicht mehr? Ist das mutig? Ist das richtig?

Wenn Sie das für richtig halten, müssen Sie auch den Mut haben, das zu sagen, statt Ihre Sätze unvollendet zu lassen und dann, wenn Sie sich mit der Regierung und dem Konzept des Koalitionsvertrags auseinander setzen, den Eindruck zu erwecken, als hätten Sie ein Konzept vorzuschlagen.

Zur Rente könnten Sie sagen, Sie wollen erreichen, dass es nicht zu solchen Beitragssteigerungen kommt, wie sie jetzt anstehen. Dies haben Sie aber nicht getan. Vielmehr bleiben Sie nach dem halben Satz stecken. Sie sind mutlos, weil Sie keine Alternativen benennen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)

Das Gleiche machen Sie bezüglich unseres Arbeitsmarktes. Dazu bringen Sie auch immer nur den Vorschlag, dass die Verkrustungen aufgebrochen werden sollen. Interessant wäre es, von Ihnen einmal zu hören, was dies denn ist, ob Sie etwa den seit Anfang der 50er-Jahre in Deutschland bestehenden Kündigungsschutz abschaffen, halb abschaffen oder viertel abschaffen wollen. Viele Ihrer Freunde glauben, dass Sie genau dies wollen. Viele sollen es aber offenbar nicht hören und deshalb bleiben Sie mutlos und sagen es nicht. Ihnen fehlt bei Ihrer Kritik an der Regierungserklärung also wirklich der Mut.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich will Ihnen sagen, welches jetzt und in den nächsten vier Jahren bei der Diskussion über die Regierungsarbeit Ihr großes Problem sein wird. Ihr Problem wird sein, dass Sie keine Alternativen benennen. Dies ist auch der Grund dafür, warum Sie die Wahl nicht gewonnen haben. Tatsächlich befinden wir uns in einer schwierigen wirtschaftlichen Lage und es ist schwierig für eine Regierung, wiedergewählt zu werden, wenn sich die Arbeitslosigkeit so entwickelt, wie sie das in den letzten Jahren getan hat.

Herr Stoiber hat immer wieder gesagt, das Arbeitslosigkeitsproblem sei groß was übrigens so ist , er hat aber immer wieder vergessen, irgendeinen Vorschlag zu machen, von dem irgendjemand hätte annehmen können, er hätte eine Idee, wie dies geändert werden sollte.

(Jörg Tauss [SPD]: Noch nicht einmal in
Bayern!)

Deshalb haben die Menschen gesagt: Der Stoiber kann es auf jeden Fall nicht besser. Den wählen wir nicht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)

Wenn Sie so weitermachen, wird man bei den Wahlen, die demnächst anstehen, und auch in vier Jahren sagen: Die CDU/CSU kann nur sagen, das ist aber schlimm, sie kann aber nicht sagen, was man tun soll. Sie als Opposition brauchen aber den Mut, sich zu konkreten Konzepten zu bekennen. Dazu fordere ich Sie auf.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, in der Familienpolitik haben Sie ein ähnliches Problem. Was Sie dabei falsch machen, grenzt schon ans Dramatische. Ich erinnere mich sehr genau daran, dass sich ein früherer Generalsekretär Ihrer Partei darum bemüht hat, aufzuzeigen, dass Sie bei der Familienpolitik ein Defizit haben. Das war Ihr Herr Geißler. Er ist daran gehindert worden. Dann haben Sie 1998 die Wahl verloren. Ich erinnere mich noch ganz genau an alle Wahlanalysen, die Sie gemacht haben. Eigentlich haben Sie gesagt: Hätten wir doch zehn Jahre früher auf den Geißler gehört. Wir haben ein Defizit in der Familienpolitik. Niemand glaubt uns da mehr was.

Konsequenz gab es keine. Nun war die Bundestagswahl. Sie haben die Analysen der Meinungsforschungs­ institute gelesen. Darin stand schon wieder das Gleiche. Dann durfte sich Frau Reiche kurzfristig profilieren. Jetzt haben Sie die Wahl verloren und haben gemeinsam analysiert: Wir haben die Wahl verloren, weil wir in der Familienpolitik ein nicht mehr zeitgemäßes Profil haben. Und was ist? Frau Reiche ist abgemeldet und Sie kritisieren die Politik der Bundesregierung aus dem gleichen Blickwinkel wie seit 1950. Ich glaube, dies ist Ihr Problem.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)

Ich warne Sie auch: Retten Sie sich nicht mit den Formeln, von denen Sie glauben, dass Sie damit von der einen Tür zur nächsten kommen. Ihre Formel lautet immer, wir wollten den Menschen etwas vorschreiben, wir wollten ihnen zum Beispiel vorschreiben, dass sie arbeiten müssen. Das ist eigentlich das Einzige, was Ihnen zur Familienpolitik einfällt. Dabei ist dies nicht das Problem unserer Gesellschaft.

Wir haben eine Gesellschaft, in der es für Familien, in denen beide Partner berufstätig sein wollen, so schwierig ist wie in kaum einem anderen Land in Europa, dies zu organisieren, weil wir weniger Ganztagsbetreuungsplätze und weniger Ganztagsschulen als zum Beispiel Frankreich haben.

(Ulrich Heinrich [FDP]: Das hättet ihr in den Ländern beispielsweise tun können! Aber das habt ihr nicht gemacht!)

Deshalb sage ich Ihnen: Sie haben ein großes Problem. Wenn Sie sich politisch nicht bewegen, werden Sie es auch nicht lösen können. Sie haben die Lufthoheit über den Kinderbetten verloren. Solange das der Fall ist, werden Sie keine Wahl in Deutschland gewinnen können.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Aber nur, wenn die Windeln nicht gewechselt sind!)

Ich will noch etwas zum Thema Irak sagen, das Sie angesprochen haben, und zwar auch, weil Frau Merkel gesagt hat, wir würden jetzt etwas anderes sagen als vor der Wahl.

(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Das ist so!)

Das hat eigentlich niemand verstanden, denn wir machen genau das, was wir vor der Wahl angekündigt haben. Die Bundesrepublik Deutschland bleibt bei ihrer Haltung, nämlich dass wir sagen: Es wird keine deutsche Beteiligung an einem Krieg im Irak geben. Dies ist unsere Aussage und bei der bleibt es.

(Beifall bei der SPD Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Ich höre doch schon andere Stimmen bei Ihnen!)

Es empfiehlt sich, dass Sie einen weiteren Punkt diskutieren, nämlich das Jahrhundert, in dem wir leben. Das Thema Außenpolitik hatte im 19. Jahrhundert sicherlich eine andere Bedeutung als in diesem. Sicherlich wäre es im Jahre 1895 ein interessanter Beitrag gewesen, wenn jemand gesagt hätte: Es kann nicht sein, dass wir hier über die Frage, was Deutschland tun soll, diskutieren; das gehört nicht ins Parlament und ist auch keine Sache des Vol­ kes, sondern das muss der Außenminister heimlich in irgendwelchen Kabinet­ ten beschließen.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Susanne Kastner)

Aber auch heute gingen eigentlich alle Vorwürfe, die Sie der Bundesregierung und dem Bundeskanzler gemacht haben, in die Richtung, dass die Frage von Krieg und Frieden nicht vom Volk entschieden oder vom Deutschen Bundestag breit diskutiert werden könne;

(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Sie muss nur ehrlich be­ antwortet werden!)

sie gehöre in die Kabinette und geheimen diplomatischen Zirkel. Das ist nicht richtig!

(Beifall bei der SPD)

Ich glaube, Sie müssen lernen, dass Deutschland über diese Frage diskutieren muss. Es gibt ein Vorbild, das
ich Ihnen zur Nachahmung empfehle, nämlich die Vereinigten Staaten von Amerika;

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

denn in den Vereinigten Staaten von Amerika wird das, was wir hier nicht bere­ den dürfen, allerorten öffentlich diskutiert.

(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Das können wir auch!)

Wenn Sie einen Fernsehsender einschalten, können Sie all die Fragen, über die wir hier nicht diskutieren sollen, in Senats- und Kongressausschüssen breit diskutiert finden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

So ist es richtig.

Der Unterschied zwischen den beiden Staaten ist: Die Vereinigten Staaten von Amerika sind seit 200 Jahren eine Demokratie, wir haben erst seit 50 Jahren das Glück. Außerdem hat sich Deutschland 1999 im Kosovo das erste Mal als ein demokratischer Staat an einem Krieg beteiligt. Deshalb haben viele noch keine Argumentationsmuster und nicht die Fähigkeit zur Diskussion über Richtig und Falsch bei diesem Thema. Sie brauchen einen demokrati­ schen Impuls in der Debatte über Außenpolitik. Das würde Ihnen nützen und die Sache glaubwürdiger machen.

Schönen Dank.