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25.01.2016

Das Phänomen Helmut Schmidt Gastbeitrag für das Serviceplan Journal

Das Phänomen Helmut Schmidt Gastbeitrag für das Serviceplan Journal

 

Den Tod von Helmut Schmidt haben viele Bürgerinnen und Bürger als einen großen Verlust empfunden. Als wir am Tag danach im Hamburger Rathaus die Kondolenzbücher auslegten, bildete sich binnen kürzester Zeit eine lange Warteschlange hinaus auf den Rathausmarkt. Hamburgerinnen und Hamburger jeden Alters stellten sich mehr als zwei Stunden lang bei herbstlichem Nieselregen an, um dem Ehrenbürger ihrer Stadt einen letzten Gruß zu überbringen. Der Tod eines Mannes, der sein Leben den öffentlichen Angelegenheiten gewidmet hatte, war für viele eine sehr persönliche Angelegenheit. Es lohnt sich, die Gründe dafür genauer zu betrachten.


Die Älteren unter uns hat Helmut Schmidt als Politiker über viele Jahrzehnte begleitet. Er war ein Teil der eigenen Lebensgeschichte. Manche erinnern sich daran, wie der resolute Innensenator Schmidt bei der Flutkatastrophe 1962 Bundeswehrhubschrauber losschickte, um zahlreiche Hamburgerinnen und Hamburger von den Dächern ihrer überfluteten Häuser zu evakuieren. Andere denken an die Erleichterung, als die von Bundeskanzler Schmidt angewiesene Befreiung der entführten Lufthansa-Maschine Landshut 1977 in Mogadischu gelang.


Die Jüngeren wiederum erlebten Helmut Schmidt als einen der letzten großen Politiker der Kriegsgeneration. Er hat den totalen Zusammenbruch miterlebt und den demokratischen Neubeginn in Deutschland mitgestaltet. Er verfügte über einen großen Reichtum an Erfahrungen und die analytische Schärfe, aus diesen Erfahrungen Antworten auf aktuelle Fragen zu formulieren.


Die Essenz der politischen Persönlichkeit Helmut Schmidt wirkt jedoch generationenübergreifend. Helmut Schmidt war ein Mann, dem wir vertraut haben. Wir haben seinem politischen Urteil vertraut, weil wir seinen Absichten stets vertrauen konnten.


Dieses Vertrauen kommt nicht von ungefähr. Es wurzelt in einem politischen Lebenswerk, das auf sehr gründlich durchdachten Überzeugungen und Prinzipien beruht. Das Image des Pragmatikers hat Helmut Schmidt zwar ein ganzes Politikerleben lang begleitet. Aber es sprang doch immer viel zu kurz. Denn sein Pragmatismus war niemals theorielos und beliebig. Das Feld seiner politischen Handlungsmaximen steckte er mit großen Denkern wie Kant, Weber und Popper ab. Mit ihnen beschrieb er sein Verständnis von Politik als pragmatisches Handeln zu sittlichen Zwecken. Das Machbare machen, statt nur vom Wünschbaren zu träumen das war die Quintessenz seiner politischen Philosophie. Er war der Überzeugung, dass eine offene moderne Gesellschaft keine dogmatischen Positionen verträgt, keinen Purismus, keine Alleinvertretungsansprüche. Was uns bleibt, ist deshalb nur der Kampf der Argumente, schrieb Helmut Schmidt 1975, und die Vermutung, daß dort die besten Lösungen gefunden werden, wo sich die Argumente am freiesten bewegen können. Eine offene Gesellschaft brauche daher pragmatische Politikerinnen und Politiker. Keine beliebigen, sondern solche, die wissen, was sie wollen, und die abwägen, was sie einsetzen können, um es zu erreichen. Politiker, die wissen, dass Verbesserungen nur schrittweise zu erreichen seien.


Helmut Schmidt war in jeder Hinsicht ein Verantwortungsethiker. Seine eindrucksvolle Regierungserklärung nach der Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hans-Martin Schleyer durch die RAF im Oktober 1977 ist ein Schlüssel für sein Politikverständnis: Wer weiß, dass er so oder so, trotz allen Bemühens, mit Versäumnis und Schuld belastet sein wird, wie immer er handelt, der wird von sich selbst nicht sagen wollen, er habe alles getan und alles sei richtig gewesen. Er wird nicht versuchen, Schuld und Versäumnis den anderen zuzuschieben, denn er weiß: Die anderen stehen vor der gleichen unausweichlichen Verstrickung. Wohl aber wird er sagen dürfen: Dieses und dieses haben wir entschieden, jenes und jenes haben wir aus diesen oder jenen Gründen unterlassen. Alles dies haben wir zu verantworten.


Ein Politiker ist also nach Auffassung Helmut Schmidts nicht nur für die Folgen seines Handelns verantwortlich. Er ist auch für die Folgen seines Nichthandelns verantwortlich. In dieser Vorstellung von Politik gibt es keine Flucht aus der Verantwortung in einem öffentlichen Amt.


Diese Überzeugung legte auch die Grundlage für die wohl umstrittenste politische Entscheidung in seiner Amtszeit als Bundeskanzler den NATO-Doppelbeschluss von 1979. Mit diesem von Helmut Schmidt angestoßenen Beschluss vereinbarte der Westen eine Nachrüstung mit nuklearen Mittelstreckenraketen für den Fall, dass der Warschauer Pakt seine auf westeuropäische Städte gerichteten vergleichbaren Atomraketen nicht abzog. Diese Politik begegnete in der Sozialdemokratie wie in der gesamten Gesellschaft erheblichen Widerständen. Es wäre für Helmut Schmidt leichter gewesen, nichts zu tun. Aber seine Überzeugung war, dass er die Verantwortung für ein Nichtstun nicht tragen könne. Heute denke ich zusammen mit vielen anderen: Er hatte recht.  


In all seinem Handeln und Denken war Helmut Schmidt ein Hamburger Sozialdemokrat. Wenn die Freie und Hansestadt Hamburg als eine sozialdemokratisch geprägte Stadt gilt, dann heißt das vor allem: Diese Stadt hat sich ihre Sozialdemokratie geprägt. Die Hamburger Sozialdemokratie ist tief beeinflusst von der großen Handels- und Hafenmetropole mit ihrem kaufmännischen Pragmatismus, ihrer Liberalität, ihrer Toleranz, ihrem Streben nach Maß und Vernunft. Und sie entwirft ihre Politik immer aus dem Selbstverständnis einer Volkspartei, die politische Lösungen für die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger anbieten will. Sie macht nicht nur Politik für Operngänger. Sie macht immer auch Politik für diejenigen, die noch nie in einer Oper waren, aber sich für die Schulaufführung ihres Kindes die Schuhe putzen und die beste Bluse anziehen. Mancher würde sagen: einfache Leute. Der Hamburger Sozialdemokrat würde sagen: anständige Leute.


Diese politische Heimat muss man verstehen, wenn man das Substrat des Politikers Helmut Schmidt verstehen will. Er holte die Weltpolitiker in sein Reihenhaus nach Hamburg-Langenhorn. Und er vergaß in der Weltpolitik nie, für wen er Politik macht.


Soziale Gerechtigkeit war ihm ein Kernanliegen. Als er aus dem Zweiten Weltkrieg zurückkehrte, war er der Überzeugung, dass es beim Neuaufbau von Land und Demokratie zunächst einmal gerecht zugehen müsse. Aber als Hamburger Sozialdemokrat hatte er wenig übrig für linke Fantasien, die Belastungsfähigkeit der Wirtschaft auszutesten. Er stand für die Überzeugung, dass nur eine starke Wirtschaft, eingebunden in eine starke Sozialpartnerschaft, die Basis für breiten Wohlstand und den modernen Wohlfahrtsstaat bilden kann. Und er vertraute in die Kraft der vernunftgeleiteten Verhandlung. Das prägte sein innenpolitisches Handeln. Und es prägte mindestens ebenso sehr sein außenpolitisches Handeln. Sei es die Gründung des Wirtschaftsgipfels, die Vertiefung der europäischen Integration, die umsichtig fortgesetzte Ostpolitik oder der intensive Dialog mit der kommenden Weltmacht China: immer ging es Helmut Schmidt darum, unterschiedliche Kräfte und Interessen über vernünftige Verhandlungen zueinander zu führen und Übereinkünfte zu erzielen, die praktische Verbesserungen für das Leben vieler Bürgerinnen und Bürger bewirken.


Warum nun haben wir also Helmut Schmidt so vertraut? Ich denke, der Grund ist, dass er aus einem tiefen und umfassenden Nachdenken heraus sehr klare und einfache Grundsätze entwickeln konnte, an die er sich immer hielt: Ein Politiker muss für seine Überzeugungen einstehen. Er muss nicht nur reden, sondern handeln. Er muss die Verantwortung für das übernehmen, was er unternimmt und unterlässt. Er darf nicht mehr versprechen, als er halten kann. Und was er verspricht, das muss er auch halten. Grundsätze, die auch für heutige Politikerinnen und Politiker sehr nützlich sind.  


In einem Fernsehinterview aus dem Jahre 1966 mit Günter Gaus nannte Helmut Schmidt drei Persönlichkeiten, die ihn besonders beeindruckten.


Der erste war der frühere US-Präsident Thomas Jefferson. Ein Mann, der ihn wegen seiner umfassenden Bildung beeindruckte. Er habe die Fähigkeit gehabt, sich den politischen Problemen seines Landes von einem weiten Horizont aus zu nähern. Und er habe feststehende moralische Grundsätze gehabt.


Der zweite war Papst Johannes der 23., weil er so überzeugend für die sittliche Notwendigkeit der Toleranz eintrat.


Der dritte war der US-Präsident John F. Kennedy, weil er vielen Bürgerinnen und Bürgern den Mut zum Ideal zurückgegeben habe, ohne dabei die Füße vom Boden zu verlieren.


Ich meine: Heute können wir feststellen, dass Helmut Schmidt seinen Vorbildern über fast ein halbes Jahrhundert hinweg treu geblieben ist. Für viele ist er selbst zum Vorbild geworden. Und deshalb sehen sie in seinem Tod eine persönliche Angelegenheit. Genau wie ich.