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26.11.2008

Das Versprechen des Sozialstaats: Chancen schaffen, Teilhabe sichern, Aufstieg ermöglichen

Rede von Olaf Scholz anlässlich des Symposiums "Chancengerechtigkeit als Aufgabe des Sozialstaats - Rückblick und Ausblick auf die soziale Mobilität in der Bundesrepublik Deutschland" in Berlin

 

Diese Veranstaltung kommt zur rechten Zeit - auch wenn das niemand wissen konnte, als sie geplant wurde. Wir erleben seit einigen Wochen einen bemerkenswerten Wandel der öffentlichen Meinung: Die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes entdecken ihr Vertrauen in die Politik wieder und lernen die Handlungsmöglichkeiten staatlicher Institutionen neu schätzen. Die Ära der Staatsverächter und Marktprediger geht auch in unserem Land zu Ende. Ich hätte mir gewünscht, dass dieser Sinneswandel unter anderen Umständen eingetreten wäre. Aber dass ein Umdenken nun stattfindet, begrüße ich gerade als Arbeits- und Sozialminister.

Wer in den insgesamt mehrere tausend Seiten starken Bänden der Publikationsreihe zur "Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945" blättert, der wird schnell feststellen, dass Helmut Schmidt recht hat mit seiner Feststellung, der Sozialstaat sei eine der großen kulturellen Leistungen des letzten Jahrhunderts.

Der Sozialstaat ist eng mit unserem gesellschaftlichen Selbstverständnis verwoben. Er gehört zur kulturellen DNA unseres Landes. Eine moderne, pluralistische Gesellschaft kann nur als Rechtsstaat und nur als Demokratie und nur als Marktwirtschaft und nur als Sozialstaat im Einverständnis mit ihren Bürgerinnen und Bürgern funktionieren. Das langjährige Forschungsprojekt hat gezeigt, wie stabil das soziale Fundament der Bundesrepublik letztlich doch gegossen worden ist. Der Abschluss der Reihe soll uns heute und morgen Anlass sein, darüber nachzudenken, wie der Sozialstaat auch in Zukunft und unter gewandelten Bedingungen seine Aufgabe erfüllen kann. Mein herzlicher Dank geht an alle, die sich in den vergangenen Jahren am Forschungsvorhaben und den Büchern und aktuell an dieser Veranstaltung beteiligt haben. Die haben ein gewichtiges Referenzwerk geschaffen, mit dem sich jeder auseinandersetzen muss, der sich mit dem deutschen Sozialstaat beschäftigen will.

Angesichts der großen Bedeutung des Sozialstaats verwundert allerdings die "ebenso bemerkenswerte wie merkwürdige Theorielosigkeit des Wohlfahrtsstaates", die der Soziologe Stephan Lessenich zu Recht feststellt. Ein wenig scheint es tatsächlich so, als ob die Politik anhand des Wohlfahrtsstaates austestet, ob eine Staatsform auch "ohne eine kompakte philosophische Anschubfinanzierung" (Jürgen Kaube) entstehen kann. Zentrale philosophische Impulse wie die Vertragstheorien oder die Freiheitskonzepte der Aufklärung in der Demokratiegeschichte - fehlen in der Geschichte des Sozialstaates. Der Sozialstaat ist deshalb nicht das Ergebnis langer Theorieerwägungen, sondern gründet auf einer anderen, viel praktischeren Basis.

Die Motivlagen für die Errichtung sozialer Sicherungssysteme in Deutschland hätten unterschiedlicher nicht sein können:

Während Bismarck das Proletariat klein halten und an das neu errichtete Kaiserreich binden wollte, strebten Sozialdemokraten und Gewerkschafter nach einer Emanzipation der Arbeiterschaft von den Behinderungen ihres Alltages.

Während die katholische Kirche sozialpolitische Initiative Ende des 19. Jahrhunderts vor allem aus Sorge vor einem erstarkenden Marxismus heraus verlangte, sahen Unternehmer die Vorteile sozialer Stabilität.

Und auch als das abstrakte Postulat, dass die Bundesrepublik ein "sozialer und demokratischer Bundesstaat" zu sein habe, 1949 Verfassungsrang erlangte, war damit noch längst nicht geklärt, ob damit die Sicherung von Mindestansprüchen oder aber die weit reichende Umverteilung von Gütern und Chancen gemeint war.

Wenn Sie dann noch den Blick über die deutschen Grenzen hinaus schweifen lassen, wird es noch schwieriger. Nicht umsonst heißt eines der Grundlagenwerke der Sozialstaatsforschung "The three Worlds of Welfare Capitalism" (Esping-Andersen).

Alles das zeigt sehr deutlich, dass es die eine normative Grundlage unseres Sozialstaates nicht gibt. Das macht es mitunter schwer, den Sozialstaat zu erklären und öffentlich zu verteidigen. Trotz seiner hohen Bedeutung für unser Zusammenleben, gerät der Sozialstaat begrifflich und semantisch leicht in die Defensive. Oftmals bleibt seinen Verfechtern nur der Ausweg in eine Argumentation der systemimmanenten Sachgerechtigkeit. Sie kennen das: Wenn Sie Texte über die Funktionsweise sozialpolitischer Initiativen lesen, dann stellen Sie schnell fest, dass diese beinahe mechanisch im Duktus sind, sozialtechnisch oder kühl juristisch. Obwohl es um die emotionalsten Fragen geht, die wir politisch überhaupt behandeln können - das Zusammenleben als Gesellschaft, das Vertrauen ineinander und das Einstehen füreinander - gelingt es kaum, dieses große Versprechen jenseits höchst komplexer Formeln oder einfacher Programmstanzen in Worte zu fassen. Aus der Theorielosigkeit wird so Sprachlosigkeit und daraus wiederum eine gefühlte "Sinn"losigkeit. Und wirklich: Manchmal fällt es schwer, aus den einzelnen Maßnahmen oder Programmen unseres Sozialstaats einen übergeordneten Sinn herauszulesen.

Deswegen ist das Vorhaben verdienstvoll, sich der historischen Fundamente der Sozialpolitik in Deutschland zu vergewissern. Weil wir eine allseits akzeptierte Philosophie des Sozialstaats nicht vorfinden, müssen wir Sinn induktiv entwickeln. Das heißt wir müssen das zu Rate ziehen, was uns in mehr als 120 Jahren und ganz besonders in den letzten beinahe 60 Jahren im Hinblick auf die soziale Sicherung des individuellen und des sozialen Lebens in unserem Land gelungen ist.

Die Erzählung unseres Sozialstaats berichtet von der Gestaltbarkeit der Dinge, davon, dass wir nicht hilflos den Verhältnissen und dem Schicksal ausgeliefert sind. Und nicht zuletzt deshalb ist der Sozialstaat ein Produkt der Demokratie. Die Erzählung des Sozialstaates vermittelt Zuversicht - jedenfalls so lange sie glaubwürdig und plausibel ist. Diese Erzählung haben wir allesamt in den vergangenen Jahren zu sehr vernachlässigt. Wir müssen wieder damit beginnen, sie zu erzählen.

Dazu können die Sozialpartner viel beitragen. Der alte Begriff der "antagonistischen Kooperation" hat verdeutlicht, dass Zusammenarbeit möglich sein muss. Ohne einen Grundkonsens auch über gegensätzliche Interessen hinweg sind moderne Gesellschaften nicht integrierbar. Wenn wir uns allerdings den Umgang mit der Sozialpartnerschaft, dem Sozialstaat oder zum Teil sogar der Demokratie ansehen, dann müssen wir feststellen, dass da in den letzten 20 Jahren etwas ins Rutschen geraten ist.

Gerade von den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Eliten - nicht von allen, aber doch von zu vielen - wurden die sozialen Errungenschaften der letzten anderthalb Jahrhunderte als bürokratische Hemmnisse, als sozial-atavistische Überbleibsel verdammt. Diese fundamentale Kritik am Sozialen war ein gravierender Fehler, wie sich spätestens jetzt herausstellt.

Derzeit ist der Fehler eingesehen: Wir brauchen jetzt aber auch wirklich die große, gesellschaftliche Debatte - die "Great Debate", wenn Sie so wollen - darüber, wie wir einen neuen Grundkonsens schaffen. Und zwar keinen, der nur Verfahren beinhaltet und ansonsten den eleganten Ausweg bietet, dass man sich friedlich einig ist, sich nicht einig zu sein. Nein! Teil des erfolgreichen deutschen Wirtschafts- und Sozialmodells ist immer gewesen, dass wir uns zu sozialen Grundwerten bekennen, die unsere Gesellschaft sicherer, lebenswerter und auch wirtschaftlich leistungsfähiger machen als andere.

Wenn wir diese Grundwerte in einer gesellschaftlichen Debatte mit guten Argumenten - und die gibt es - neu absichern können, dann werden die Versprechen des Sozialstaats wieder glaubwürdig - auch individuell.

Und - so paradox das sein mag: Nur wenn sie glaubwürdig sind, werden wir in der Lage sein, sie einzulösen. Weil der Sozialstaat ein Produkt der Demokratie ist, kann das nicht anders sein.

In den Alltagserfahrungen der Bürgerinnen und Bürger jedenfalls steckt genau der sinnhafte Kern des Sozialstaats, beispielsweise einer funktionierenden Alterssicherung. Deren Sinn vermochte die hoch abstrakte Rentenformel allein noch nie zu generieren. - Selbst unter den heute anwesenden Fachleuten dürften sie nur die wenigsten auswendig kennen.

Wenn wir den Sinn des Sozialstaats suchen, dann geht es nicht in erster Linie um Technik, sondern um Erfahrung. Die Bürgerinnen und Bürger nehmen den Sozialstaat wahr: Als Renterinnen und Rentner beziehen sie regelmäßig Rente. Als Eltern erhalten sie Kindergeld. Als Versicherte der gesetzlichen Krankenkasse erhalten sie bei Bedarf medizinische Leistungen.

Darüber reden wir zu wenig.

Wenn unser Sozialstaat funktioniert, dann generiert er aus diesem Funktionieren heraus den Sinn, der seinen Bestand sichert. Dieses Funktionieren ist aber nicht durch einmalige Reformen auf alle Zeit zu sichern. Im Gegenteil: Die Arbeit am Sozialstaat ist eine dauerhafte Aufgabe. Der Kapitalismus ändert sich. Die Gesellschaft ändert sich. Die Ansprüche ändern sich. Wenig ist von Dauer. Deshalb ist es auch so wichtig, dem ideellen Kern des Sozialstaats auf die Spur zu kommen. Wenn wir diesen in klare und deutliche und mehrheitsfähige Worte fassen können, dann wird es uns übrigens auch leichter als in der Vergangenheit gelingen, konkrete Veränderungen an den Systemen vorzunehmen.

Denn wer versucht, den Sozialstaat zu verändern, der merkt nicht nur schnell, wie sehr viele in unserem Land seine konkrete und aktuelle Ausprägung lieb gewonnen haben und wie sehr sie jede Veränderung als Angriff fürchten. Sondern der spürt auch das Misstrauen, dass die Veränderung nicht als Verbesserung gedacht sein könnten, sondern als Abbau. Nur auf der Basis eines allgemein akzeptierten Verständnisses für die Aufgaben unseres Sozialstaats kann das besser werden.

In abstrakter Form erreicht das Konzept des Sozialstaats hohe Zustimmung. Schwieriger wird es schon bei der Frage der Begründung. Und am schwierigsten bei der konkreten Ausgestaltung einzelner Instrumente.

Auch bei den Reformen der vergangenen Jahre ging es nicht darum, das Solidaritätsversprechen des Sozialstaates zu verändern, sondern darum, seine Idee unter veränderten Bedingungen zu erhalten. Anders als in anderen Ländern finanzieren wir einen erheblichen Teil der sozialen Leistungen nicht über die allgemeinen Steuern, sondern haben von Beginn an Modelle der Versicherung gewählt.

Hinter unserem Modell der Sozialversicherung steht der Gedanke, dass man sich mit eigenem solidarischem Handeln den Anspruch erwirbt, selbst solidarische Unterstützung einzufordern. So entstehen Loyalitäten und solidarische Beziehungen, die eine ganze Gesellschaft dicht miteinander vernetzen und zusammenhalten können. Bürgerinnen und Bürger stehen füreinander ein - Gesunde für Kranke und Pflegebedürftige, Junge für Alte, Arbeitende für Arbeitsuchende. Entscheidend ist, dass diese Solidarität nicht nur Ergebnis von Nächstenliebe ist, sondern ein rechtlich abgesicherter Anspruch, der eingeklagt werden kann.

Unser System der sozialen Sicherung lässt damit im Idealfall keinen Raum für Unwägbarkeiten oder Unsicherheiten. Es beruht auf Leistung und Gegenleistung und verspricht dem, der sich anstrengt, Teilhabe, und denen, die sich bemühen, sozialen Aufstieg. Dafür zu sorgen, dass diese Versprechen auch unter veränderten Rahmenbedingungen eingelöst werden können, ist eine der vordringlichen politischen Aufgaben unserer Zeit.

So weit, so klar, so abstrakt.

Bricht man diese Vorstellungen zur Organisation des Sozialen herunter, dann landet man zwangsläufig bei ganz alten Ideen. Dann geht es um den Respekt vor der Leistung des Einzelnen. Dann geht es um den Zusammenhalt einer Gruppe.

Dann geht es um Sicherheit und Vertrauen und Würde.

Und dann geht es darum, dass individuelle Anstrengungen sich spürbar auszahlen müssen und Teilhabe nicht blockiert wird. Die Sprache zeigt: Es geht um Fundamentales. Aber es geht zugleich auch um etwas sehr Praktisches, das sich nicht in der großen Debatte über Werte allein erschöpfen kann. Es geht um organisierte Solidarität. Um Zusammenhalt, den man mit guter Politik organisieren kann. Diese Dimension des Organisierens rückt einen Modus politischen Handelns in den Blick, der vielleicht nicht immer der Spektakulärste oder Atemberaubendste ist, wohl aber derjenige, der uns in den vergangenen Jahrzehnten die größten Fortschritte gebracht hat. Ich meine den Pragmatismus.

Wenn man sich die Geschichte des Sozialstaats ansieht, dann waren es nicht die Schwärmer oder Utopisten oder Revolutionäre, die die Entwicklung vorangetrieben haben. Der große Wurf besteht in der Politik oftmals eher darin, ein konkretes Problem zu lösen, als ein besonders buntes und allumfassendes Bild vom künftigen Paradies zu malen.

Diejenigen, die das beherzigen, haben uns den Fortschritt in der Geschichte der Sozialpolitik gebracht. Ich denke da beispielsweise an Walter Riester, der mit der zusätzlichen privaten Altersvorsorge genau so eine konkrete pragmatische Antwort auf ein drängendes Problem gegeben hat. Oder ich denke an Norbert Blüm, der mit der Pflegeversicherung eine fünfte Säule unseres Sozialstaats errichtet hat. Und ich denke auch an Christine Bergmann und Renate Schmidt, die beharrlich dafür gesorgt haben, dass der Staat seine Verantwortung gegenüber Familien und Kindern endlich angemessen wahrnimmt. Sie haben wichtige Fundamente beispielsweise für den Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz und das Elterngeld gelegt.

Neben einer überzeugenden und eingängigen Sprache braucht der Sozialstaat eben auch die Leidenschaft der Politikerinnen und Politiker, die beharrlich und kreativ nach den besten Lösungen suchen, wie das Versprechen des Sozialstaats - "Chancen schaffen, Teilhabe sichern, Aufstieg ermöglichen" - eingelöst werden kann.

Der erste Vorschlag ist dann meistens: Mehr Geld!

Das befriedet immer, wenn es ein Problem gibt.

Und rein politik-strategisch wirkt diese Form des Pragmatismus, wie beispielsweise Adenauer gezeigt hat, als er sich mit einer großen Rentenreform einen fulminanten Wahlsieg erkaufte, indem er die Kinder aus der Gleichung des Generationenvertrages herausnahm und damit das Arrangement für die zu der Zeit Wahlberechtigten deutlich attraktiver machte. Natürlich meine ich nicht diese Form eines Pragmatismus der eigenen Nutzenmaximierung. Und natürlich muss pragmatische Politik heute das Gebot der Nachhaltigkeit eigener Entscheidungen ernst nehmen. Das gilt insbesondere für die Sozialpolitik.

Vor allem bestätigt die Forderung nach mehr Geld schließlich eine grundlegende Kritik am Sozialstaat, die der große Ironiker Niklas Luhmann einmal so zusammengefasst hat: "Alles in allem gleicht der Wohlfahrtsstaat dem Versuch, die Kühe aufzublasen, um mehr Milch zu bekommen." Einem klugen Sozialpolitiker ist die Größe der Kuh aber völlig egal. Er schaut - um im Bild zu bleiben - ausschließlich auf die Milchmenge. Manchmal ist sozialstaatliche Bescheidenheit der sinnvollere Weg. Der Sozialstaat bezieht seine Legitimation aus der positiven Antwort auf die Frage, ob es gelingt, der einzelnen Bürgerin oder dem einzelnen Bürger die Teilhabe am politischen und gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben zu ermöglichen. Sozialstaat hat nicht nur die Aufgabe, Überleben zu sichern. Er soll nicht mehr nur Freiheitsbeschränkungen abwenden, sondern er ist auch eine Bedingung dafür, dass wirklich Viele ihre Freiheitsrechte in Anspruch nehmen.

Der Maßstab, an dem sich unser politisches Handeln bewähren muss, ist die Freiheit des Einzelnen. Die Geschichte hat deutlich gezeigt, dass es dafür nicht ausreicht, abstrakt negative Freiheiten in Verfassungen hineinzuschreiben, sondern dass moderne freiheitliche Demokratien positive Freiheiten brauchen - Freiheiten von Not und Freiheiten zur gesellschaftlichen Teilhabe. Sie sind Leitbilder guter Sozialpolitik. Im Versuch, dieser Aufgabe bestmöglich gerecht zu werden, darf der Sozialstaat aber nicht seinerseits Freiheiten einschränken. Dadurch dass er heutzutage in viele Bereiche auch des persönlichen Lebens hineinreichen kann, ist diese Gefahr nicht vollkommen von der Hand zu weisen. Denn natürlich berühren nicht wenige sozialstaatliche Normierungen auch den Bereich des individuellen Lebens, den man als "privat" kennzeichnen würde. Diesen in einer Situation zu öffnen, in der man der solidarischen Unterstützung der Gesellschaft bedarf, ist die Normalvoraussetzung sozialpolitischer Initiative; aber beileibe nicht die einzige.

Es ist nämlich durchaus so, dass wir als Gesellschaft nicht immer auf diese freie Entscheidung des Einzelnen warten können. Vor allem dann nicht, wenn wir davon ausgehen müssen, dass Unmündigkeit nicht selbstverschuldet ist, sondern aus den Verhältnissen erwächst. Sie präventiv zu verändern, setzt eine staatliche Initiative voraus, die ihre Legitimation aus dem gesellschaftlichen Konsens heraus bezieht, dass Handlungsbedarf besteht. Deshalb ist die derzeitige Weiterentwicklung zu einem vorsorgenden Sozialstaat so schwierig, in dem die bestehenden Säulen stark bleiben, aber um ein Moment der Vorsorge und Vorbeugung ergänzt werden. Das erscheint zwar zunächst wieder "nur" wie eine adjektivische Präzisierung des Sozialstaats, aber es ist zugleich doch mehr. Hier geht es um eine Perspektivverschiebung, die den Sozialstaat auf die Höhe der Zeit hebt und sein altes Versprechen besser einlösbar macht.

Wir wollen verhindern, dass Bürgerinnen und Bürger in Hilfebedürftigkeit rutschen. Wir wollen sie von vornherein so vorbereiten, dass sie ihr Leben meistern können. Wir versprechen zugleich, dass wir niemanden am Wegesrand liegen lassen. Das sind die Aspekte, die - aus sozialdemokratischer Sicht - nicht aufzutrennen sind, wenn wir über Sozialstaat sprechen. Der Aspekt der Vorsorge setzt voraus, dass wir zum Teil auch tätig werden können, ohne dazu eingeladen zu sein. Das akzentuiert das emanzipatorische Ziel, dass jede Bürgerin und jeder Bürger für sein Leben - mit Hilfe der Gesellschaft - Verantwortung übernehmen kann. Weil die Freiheit nur auf dem Boden der Solidarität gedeiht, kommen wir nicht umhin, Solidarität manchem zunächst aufzudrängen, bevor er sie wertzuschätzen gelernt hat.

Im Ensemble eines solchen modernen Sozialstaats rückt die Bildungspolitik an die zentrale Stelle. Bildung entscheidet über Chancen, Teilhabe und Aufstieg in einer Gesellschaft. Sie ist nicht bloß volkswirtschaftliche Rechengröße, sondern in erster Linie ein hoch individuelles Menschenrecht, die Chance zur Aufklärung und zum Ausgang aus der Unmündigkeit hin zu einem aufgeklärten Leben. Aber natürlich lehrt uns die Geschichte, dass es externer Anstöße bedarf, um die Bildungspolitik voranzutreiben. Und wie es im 18. Jahrhundert der Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. gewesen ist, der die Schulpflicht vorangetrieben hat, so ist es heute vielleicht der Arbeitsminister, der drängt, dass Fachkräfte nachkommen.

Wir brauchen sie als Volkswirtschaft. Und wir wissen, dass gute Bildung und Ausbildung die zentralen Voraussetzungen für ein selbstbestimmtes Leben sind. Es darf nicht sein, dass jeder Politiker und jeder Unternehmer am Sonntag das hehre Ziel der Bildung beschwört und sich dann von Montag bis Samstag für nicht zuständig erklärt, wenn es darum geht, etwas zu verändern. Bereits in den ersten Lebensjahren wird maßgeblich über die Entwicklungschancen jedes einzelnen Kindes entschieden. Deshalb dürfen wir es nicht weiter zulassen, dass soziale Herkunft und das Bildungsniveau des Elternhauses den Lebensweg des Kindes bestimmen. Sonst verspielen wir schon hier das Versprechen des Sozialstaats, Chancengleichheit herzustellen.

Unsere politische Verantwortung umfasst die Gestaltung der frühkindlichen Betreuung genauso wie den Ausbau unserer Schulen zu echten Lern- und Lebenszentren für junge Menschen, zu Kristallisationspunkten der eigenen Entwicklung. Wenn wie heute 80.000 junge Leute die Schule ohne ein Schulabschluss verlassen, wenn viele, die einen Abschluss erwerben, nicht über elementare Grundfertigkeiten verfügen. dann ist das nicht naturgegeben und unabänderlich, sondern dann ist das Staatsversagen. Eine gerechte Gesellschaft braucht gute Schulen für alle. Viele Eltern machen sich Gedanken über die richtige Schule für ihr Kind. Das ist gut. Denn Anforderungen der sozialen Demokrate entspricht unser Schulwesen aber erst, wenn es keinen Unterschied für das Kind bedeutet, ob sich die Eltern darüber Gedanken machen oder nicht.

Die sozialstaatliche Verantwortung umfasst weiterhin den Übergang von der Schule in eine Ausbildung oder ein Studium sowie dann in den Beruf. Die Hälfte aller Langzeitarbeitslosen hat keinen Berufsabschluss. Wer keinen Berufsabschluss hat, läuft Gefahr selbst in den Zeiten eines Booms ohne Beschäftigung zu bleiben. Darum muss jeder, der sich Mühe gibt, einen Berufabschluss erwerben können. Das können wir erreichen.

Wenn wir es schaffen, diese Etappen im Leben jedes Bürgers und jeder Bürgerin besser zu organisieren, dann bringen wir jeden soweit, dass er Zugang zu den sozialen Sicherungssystemen unserer Gesellschaft hat, die den zentralen Lebensrisiken begegnen. Der Staat darf sich hier nicht unter seiner Verantwortung hinweg ducken. Allein schon deshalb nicht, weil für die Folgen etwaiger Versäumnisse ja wiederum die Gesellschaft - und damit der Staat - aufkommen müsste. Eine soziale Gesellschaft braucht nämlich neben den Institutionen der Chancenförderung und der solidarischen Versicherung als unterstes soziales Netz auch eine Grundsicherung. Diese orientiert sich an individueller Bedürftigkeit, sichert im Einzelfall das materielle Auskommen und erhält Grundlagen der Teilhabe. Im Idealfall so nachhaltig, dass jeder Hilfebedürftige möglichst schnell wieder auf die eigenen Füße kommt. Nicht nur mit Blick auf diesen Bereich der Grundsicherung, sondern sehr grundsätzlich gilt:

Es ist ungleich leichter, Problemsituationen gar nicht erst entstehen zu lassen, als sie zu beenden. Ungleich menschlicher ohnehin.

Wenn es uns also beispielsweise gelänge, die Mittel der Arbeitsförderung nicht nur dann anzuwenden, wenn Arbeitslosigkeit schon entstanden ist, sondern bereits präventiv, um Arbeitslosigkeit zu vermeiden, dann wäre das ein riesiger Fortschritt. Die SPD hat auf ihrem letzten Parteitag beschlossen, an einer entsprechenden Arbeitsversicherung konzeptionell zu arbeiten. Wenn es uns auch in der Gesundheitspolitik gelänge, nicht nur das Kurieren von Krankheiten zu finanzieren, sondern ihre Entstehung noch besser zu verhindern als bisher, dann wäre das ein riesiger Fortschritt.

Und wenn es uns gelänge, alle Bürgerinnen und Bürger so lange und so gut in Arbeit zu halten, dass sie nicht in der Blüte ihres Lebens aufs Altenteil geschoben werden, sondern als Resultat ihrer Arbeit eine ordentliche Rente aufbauen können, dann wäre auch das ein riesiger Fortschritt. Wir sind dabei. Der erste notwendige Schritt ist, die Leistungsfähigkeit der sozialen Systeme plausibel zu halten. Wer heute ein Job-Center betritt, der hat eher Hoffnung, dass ihm geholfen wird, als das früher in einem Arbeitsamt der Fall gewesen ist. Das liegt auch daran, dass nicht mehr nur jeder zehnte Beschäftigte dort mit Vermittlung beschäftigt ist, sondern bereits jeder dritte. Wir wollen, dass es jeder zweite wird.

Auch die Rentenversicherung hat in den vergangenen Jahren wieder massiv an Plausibilität gewonnen. Vor allen, weil nach den Reformen der letzten Jahre nur wenige noch an ihrer nachhaltigen finanziellen Stabilität und an ihrer Fähigkeit zweifeln, den Herausforderungen einer anderen demographischen Zusammensetzung unserer Bevölkerung zu begegnen. Die Zeiten, in denen etliche die Totalprivatisierung und die Absicherung über individuelle Kapitaldeckung gefordert haben, sind nicht erst seit der Finanzkrise vorbei. Während die US-amerikanischen Pensionsfonds binnen 18 Monaten über 1,5 Billionen Dollar verloren haben, erwarten wir aufgrund unseres stabilen Umlagesystems im nächsten Jahr eine vergleichsweise ordentliche Rentensteigerung. Und das ist wichtig: Denn wer 50 Jahre in die Rentenkasse einzahlt, der braucht die Sicherheit, dass er daraus im Alter etwas bekommt.

Diese Beispiele zeigen, dass wir mit guter pragmatischer Sozialpolitik etwas verändern können. Diese praktischen Verbesserungen werden wir auf Dauer aber nur sichern können, wenn wir auch den Deutungskampf um die kulturelle Hegemonie aufnehmen. Der größte Feind des Sozialstaates - und auch der Demokratie - ist der Zynismus. Die Zyniker nehmen schlimme Verhältnisse sehr wohl wahr. Sie erklären sie aber für unabänderlich. Das gilt für die rechten sowie für die linken Repräsentanten des Zynismus. Was sie damit hervorrufen, ist natürlich der Zynismus der Bürgerinnen und Bürger, die an eine Verbesserung der Verhältnisse nicht mehr glauben können, und somit vom deutschen Staat und vom Sozialstaat nichts mehr erwarten. Die Anhänger des Sozialstaates halten das Gegenteil für richtig: Wenn sie darauf bestehen, dass mit pragmatischer und konkreter Politik Verbesserungen möglich sind, können Sie die Lethargie, in die der Zynismus die Gesellschaft versetzt, abwehren. Die Sozialstaatsverächter malen ihr Bild in den wildesten Farben, während wir uns oft mit nüchternen Bleistiftskizzen begnügen. Das muss anders werden - auch das ist eine politische Aufgabe.

Das ist die Ebene der Sprache und der Begründungen.

    * Gelingt es uns, den Sozialstaat nicht als Hemmnis, sondern als Ermöglicher zu beschreiben und zu organisieren?
    * Schaffen wir es, dass Sozialpolitik sich erkennbar kümmert und nicht bloß routiniert verwaltet?
    * Geht der Staat an der Seite der Bürgerinnen und Bürger oder steht er ihnen im Weg oder lastet er sogar auf ihnen?

Diese Diskussion selbstbewusst zu führen, ist notwendig, damit die aktuell gegenüber dem Sozialstaat positivere Stimmungslage nicht bloß ein kurzes Aufflackern bleibt. Der Sozialstaat muss die Folie sein, vor der wir die Gerechtigkeit politischer Initiativen beurteilen. Seine Maßstäbe entscheiden über die Humanität unserer Gesellschaft. Wenn es uns gelingt, jeder Bürgerin und jedem Bürger dabei zu helfen, die eigenen Chancen zu nutzen und die eigenen Potenziale auszuschöpfen, dann sind wir eine soziale Gesellschaft. Das ist der Gradmesser des sozialstaatlichen Erfolgs. Unser Sozialstaat hat Zukunft. Aber wir dürfen uns nicht darauf verlassen, dass seine Systeme stets aus sich selbst heraus die notwendige Anpassungs- und Veränderungsfähigkeit entwickeln. Dazu braucht es politische Initiative und das gesellschaftliche Engagement der Sozialpartner. Wir tragen gemeinsam Verantwortung für unseren Sozialstaat.

Folgt man der Analyse von Robert Reich, dann sind wir alle in dem System, das er in seinem Buch "Superkapitalismus" nennt, eher Verbraucher oder Investoren und zunehmend weniger Arbeitnehmer oder Bürger. Dahinter steht eine Tendenz des Individualismus:

Organisationsfähige Kollektive - wie das Staatsvolk oder die Arbeitnehmerschaft - werden in einzelne Individuen zerlegt, die in einem ökonomischen Systemzusammenhang weniger Veto-Macht entwickeln können.

Unser Sozialstaat aber ist vor diesem Hintergrund genau jenes gesellschaftliche Instrument, das an den solidarischen Strukturen der Bürger- und Arbeiterschaft nicht nur romantisch festhält, sondern ihnen institutionelle Form gibt. Dieser Sozialstaat ist nicht gegen die Bürgerinnen und Bürger gerichtet. Er ist vielmehr der höchste Ausdruck der Selbstorganisationsfähigkeit unserer Gesellschaft. Er ist ein Teil der Gesellschaft und erwächst aus ihr.

Wenn ich mir - und da bin ich wieder bei der eingangs beschriebenen Sprachlosigkeit - so manchen Bescheid der Rentenversicherung oder auch so manchen Antwortbrief eines Ministeriums auf ein Bürgerschreiben ansehe, dann weiß ich, dass wir noch ein Stück Arbeit vor uns haben. Aber wir haben in den letzten Jahren auch schon große Schritte in diese Richtung gemacht - notwendige Schritte. Die erste Voraussetzung dafür, dass der Sozialstaat sein Versprechen glaubhaft machen kann, ist ja, dass sein Versprechen verstanden wird. Deshalb der Anspruch: kulturelle Hegemonie für die Idee des Sozialstaates und der sozialen Marktwirtschaft! Deshalb die Aufgabe: Selbstbewusst die Werte der Solidarität und des Zusammenhalts vertreten!

Die Bürgerinnen und Bürger müssen sich den Sozialstaat zu eigen machen. Dem Sozialstaat steht die nächtliche Feilscherei des Vermittlungsausschusses über die Kosten der Unterkunft weit weniger gut als die öffentliche Debatte über die Bildungschancen unserer Kinder. Der Sozialstaat wird ein gewichtiger Teil unserer Kultur bleiben. Er bewährt sich im Handeln der Politik und im Alltagsbewusstsein der Bürgerinnen und Bürger.

Deshalb müssen wir alle mehr - und anders - über ihn sprechen!

 

Auf der Internetseite des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales können Sie sich diesen Text auch anhören.