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10.07.2013

Der gelungene Kompromiss: Verhandeln mit Leidenschaft und Augenmaß

 

Demokratische Politik ist ohne die Fähigkeit zum Kompromiss nicht denkbar. In pluralistischen Gesellschaften, die von zahlreichen einander widerstreitenden Interessen geprägt sind, lassen sich politische Mehrheiten nur bilden, wenn Politiker, Parteien, Verbände und letztlich alle Bürgerinnen und Bürger dazu in der Lage sind, von partikularen Maximalpositionen abzurücken und Korridore des Gemeinsamen auszuloten.

 

Das ist zwar zunächst eine demokratiepolitische Banalität, scheint aber für etliche Beobachter des politischen Prozesses nicht leicht zu schlucken zu sein. Sie vermuten hinter dem Zwang zum Kompromiss zugleich einen Zwang zum Mittelmaß, zu einer middle of the road-Politik ohne Anspruch und Ambitionen. Wenn heutzutage von politischen Kompromissen geredet wird, dann passiert das nur ganz selten, ohne wertende Adjektive. Der Kompromiss erscheint als politisches Ergebnis zweiter Ordnung. Niemand hat sich durchgesetzt, die reine Lehre ist nicht formuliert worden. Stattdessen sind alle ein bisschen unzufrieden. Da liegt es nahe, das Ergebnis als faul zu bewerten. Doch diese generelle Abwertung des Kompromisses ist ein schwerer Fehler, der sich auf die Akzeptanz demokratischer Politik fatal auswirken kann.

 

Es lohnt sich, das Feld von Konsens, Konflikt und Kompromiss in  der Politik einer komplexen Demokratie genau zu betrachten, bevor einzelne Lösungsmechanismen mit dem Bade ausgeschüttet werden. Denn natürlich gibt es faule Kompromisse oder Formelkompromisse, die eigentlich ungelöste Konfliktlagen verschleiern. Aber es gibt eben auch eine faule Kompromissunfähigkeit, wie Franz Müntefering gesagt hat, einen Unwillen zur Verhandlung und zur Revision der eigenen Position, den man zwar als Prinzipienfestigkeit auslegen kann, der aber vor allem zum Stillstand des politischen Prozesses führt. Es mag ein Weg zum individuellen Erfolg als Politiker sein, sich unverbrüchlich auf einzelne Positionen festzulegen, politischer Erfolg in der Sache hingegen setzt Flexibilität und Kompromissfähigkeit voraus.

 

Es ist ein fatales politisches Spiel, einzelne Instrumente zu ideologisieren und die Auseinandersetzung mit dem politischen Konkurrenten nicht mehr entlang gesellschaftlicher Werte oder Ziele zu führen, sondern am Maßstab der Durchsetzung eines einzelnen Instruments zu messen. Das führt ganz schnell dazu, dass langfristige Orientierungen und Möglichkeiten der Gemeinsamkeit aus dem Blick geraten. Eines der prominentesten Beispiele dafür war sicherlich das Bündnis für Arbeit, das Gerhard Schröder zu Beginn seiner ersten Amtszeit schmieden wollte und das unter anderem daran scheiterte, dass Arbeitgeber und Gewerkschaften nicht in der Lage waren, einander zu vertrauen und auf dieser Grundlage aus den jahrelang ausgehobenen Schützengräben herauszukommen, um über gemeinsame Orientierungen zu reden.

Kompromisse sind in modernen Demokratien mindestens ein notwendiges Übel, viel eher aber noch der allseits zu akzeptierende Normalzustand demokratischer Meinungs- und Willensbildung. Wenn man Unterdrückung und physische Gewalt aus der politischen Arena ausschließen möchte und darüber dürfte in einer Republik hoffentlich Konsens herrschen dann bleiben Diskurse und Verhandlungen als legitime Konfliktlösungsmuster übrig. An ihrem Ende stehen bisweilen Konsense, meistens aber Kompromisse. Sie bleiben bei einer Veränderung der Mehrheitsverhältnisse prinzipiell reversibel.

 

Von der Alltäglichkeit der Konflikte


Am Beginn der Moderne stand in der Renaissance auch die Wiederentdeckung der aristotelischen Erkenntnis, dass Gesellschaften Gemeinschaften der Vielen seien, die nicht einem einheitlichen und formierten Ordnungsmuster folgen, sondern von unterschiedlichen Meinungen und Interessen geprägt sind. Sie entwickelten daher ein politisches Modell, in dem unterschiedliche Meinungen im öffentlichen Gespräch der Agora zueinander gebracht  und im Zweifel entlang mehrheitlicher Entscheidungen zueinander in Beziehung gesetzt werden. Damit haben sie unterschiedliche Interessen nicht nur als legitim anerkannt, sondern auch Verfahren benannt, wie es gelingen kann, trotz der Verschiedenheit der Einzelnen eine Gemeinschaft zu formen. Nach ihrer Wiederentdeckung in der Neuzeit sind diese Annahmen bis heute das Fundament offener Gesellschaften und moderner Demokratien. 

 

Von der Notwendigkeit eines Grundkonsenses


Moderne Demokratien sind daher heutzutage ein Konsens nicht nur über die Normalität gesellschaftlicher Interessenkonflikte sondern auch über die Verfahren ihrer Bearbeitung. Wir schaffen Legitimation durch allseits akzeptierte Verfahren und können so Auseinandersetzungen beispielsweise zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern oder zwischen ökonomischen und ökologischen Rationalitäten zu einem Ausgleich bringen, der für niemanden das Optimum bedeutet, aber von allen getragen werden kann, weil im Prozess alle zu Wort gekommen sind und allzu große Machtgefälle ausreichend ausgeglichen wurden.

 

Vom immanenten Zwang zum Kompromiss


Das Ergebnis derartiger Verfahren ist in der Regel der Kompromiss. Er ist die kleine Schwester des Konsenses. Im Idealfall gelingt es allen gesellschaftlichen Konfliktkräften in einem breit angelegten Diskurs zu einer gemeinsamen Einschätzung der Situation, des Handlungsbedarfs und der angemessenen Maßnahmen zu gelangen. Das Ergebnis eines solchen Argumentationsprozesses wäre ein politischer Konsens. Wir wissen aber, dass er nur möglich ist, wenn es allen Partnern gelingt, von ihren individuellen Interessen zu abstrahieren und sich auf Grundsatzklärungen einzulassen.

 

Gelingt dies nicht, dann ist ein Wechsel in den Modus des Verhandelns sinnvoll. Dann steht nicht mehr die Verständigung auf eine gemeinsame Position als Ziel auf der Agenda, sondern aus Aushandeln eines akzeptablen Ausgleichs, bei dem beide Seiten etwas geben, um etwas zu bekommen. Das berühmte quid pro quo des politischen Prozesses, mit dem sich beispielsweise auch Unternehmen auf höhere Sozialleistungen einlassen, um sozialen Frieden zu sichern und damit die eigene Unternehmensposition zu verbessern. Der Maßstab des Kompromisses ist nicht das Gemeinwohl, sondern die bestmögliche Befriedigung individueller Interessen. 

 

Vom beharrlichen Bohren dicker Bretter


Manchmal aber gelingt es dann doch, durch Beständigkeit und Beharrlichkeit ein argumentatives Feld zu verschieben, selbst wenn zu Beginn die Interessenpositionen verhärtet schienen. Die politische Debatte über Mindestlöhne ist dafür ein sehr gutes Beispiel. Hier haben wir über Jahre versucht, gemeinsam mit den Sozialpartnern Wege auszuloten, auf denen Mindestlöhne festgelegt werden können. Im Zentrum stand dabei für uns zunächst das Ziel einer gerechten Entlohnung und damit die Durchsetzung des Wertes der Arbeit. Hinter der Chiffre Mindestlohn wurden unterschiedliche Modelle und Instrumente diskutiert, um das zu erreichen. Der wesentliche Einstieg in  die Debatte bestand darin, mit empirischen und mit politischen Argumenten deutlich zu machen, warum überhaupt Handlungsbedarf besteht. Das ist ebenso gelungen wie die Definition des Ziels eines einheitlichen und branchenübergreifenden Mindestlohns.

 

Von Beginn an war allerdings ebenso offensichtlich, dass es nicht gelingen würde, in der großen Koalition gleich eine gesetzgeberische Mehrheit für diesen Vorschlag zu erreichen. Deswegen haben wir von vornherein einen Kompromissweg beschritten und uns darauf konzentriert, branchenspezifische Mindestlöhne durchzusetzen. Zug um Zug haben wir empirisch nachweisen können, dass Branchen und Wirtschaftszweige gibt, in denen das Lohnniveau strukturell zu niedrig ist und die deshalb einer Lohnuntergrenze bedürfen. Gegenüber der großen Forderung nach einem allgemeinen, flächendeckenden und einheitlichen Mindestlohn waren das jeweils pragmatische Kompromisse. Sie haben aber dazu geführt, dass über Mindestlöhne nicht mehr nur geredet wurde, sondern dass auch Mindestlöhne definiert und wirksam gemacht wurden.

 

Dieser Erfolg ist so nachhaltig gewesen, dass selbst nach dem Ausscheiden der SPD aus der Bundesregierung eine neue konservativ-liberale Regierung weitere Branchen-Mindestlöhne beschlossen hat. Wir haben damit nicht nur Weg zu einem allgemeinen Mindestlohn durch kluge Kompromisse bis heute offengehalten, sondern zugleich schrittweise konkrete Verbesserungen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erreicht. Statt Utopia nur zu versprechen, haben wir die Arbeitswelt ein Stück gerechter gemacht.

 

Von der wünschenswerten Gelassenheit der Öffentlichkeit


Es gehört zu erwachsenen Demokratien dazu, derartige Kompromisse und die mit ihnen verknüpften langwierigen Prozesse nicht nur in Kauf zu nehmen, sondern als sinnvollen Normalzustand akzeptieren. Wer seine Maximalposition nicht verlässt, der mag prinzipienfest sein, vor allem aber ist er politik- und demokratieunfähig. Politik funktioniert nicht nach dem Prinzip keine Kompromisse. Politik ist kein Western, High Noon-Situationen sind eher selten. John Wayne als Prototyp des kompromisslos gerechten Helden wäre deshalb auch sicherlich als Politiker gescheitert. Wer Politik macht, der muss bereit sein, sich mit anderen zu einigen und nach dem gemeinsamen Grund zu suchen.

 

In der öffentlichen Wahrnehmung werden die John Waynes als fundamentalistische Lautsprecher einzelner Positionen gerne auf den Sockel gestellt und als wahre Verfechter einer Sache verehrt. Das vergrößert die Fallhöhe politischer Akzeptanzverluste. Es ist ein Paradox der Politik, dass etliche Wählerinnen und Wähler die rhetorische Kompromisslosigkeit des einzelnen Politikers goutieren, während sie komplexe politische Institutionen als gleichmacherischer und den Durchschnitt fördernde Kompromissmaschinen missachten. Es rührt daher, dass die Maximalpositionen niemals durch den politischen Aushandlungsprozess kommen, sondern vielfach verändert und geschliffen werden, um eine Mehrheit zu finden.

 

Diesen Prozess zu verfolgen, führt aber augenscheinlich nicht zu höherer Akzeptanz, sondern zu wachsender Ablehnung des Politischen. Es ist daher gleichsam konsequent wie gefährlich, dass sich die Suche nach dem tragfähigen Kompromiss in die Randbereiche der Öffentlichkeit oder gar in den Arkanbereich der Politik zurückziehen muss, weil sie unter dem Inszenierungsdruck medialer Öffentlichkeit kaum mehr möglich erscheinen. Es ist pragmatisch im Sinne des Ergebnisses, führt aber leider dazu, dass die komplexen Verhandlungsprozesse, die zu einem Kompromiss gehören, ebenso wenig sichtbar werden, wie die Argumente der einzelnen Konfliktpartner gehört werden können. Plötzlich fällt dann ein Kompromiss vom Himmel, dessen Genese unklar ist und der deswegen erst recht leicht als faul apostrophiert werden kann.

 

Von der Coolness der Politik


Je komplexer die Verhältnisse werden, desto wichtiger wird der politische Kompromiss als Mechanismus des Ausgleichs. Zugleich aber tragen politische Kompromisse auch zu wachsender Komplexität bei, da sie vermeintlich klare Fronten weiter aufweichen und unscharf werden lassen. Politik darf sich davon nicht beirren lassen, sondern sollte weiter beharrlich versuchen, auf der Basis begründeter Wertvorstellungen und Interessenpositionen in Diskurse und Verhandlungen einzusteigen. Sie muss den demokratischen Grundkonsens pflegen, um auf seiner Basis die widerstreitenden Interessen unserer Gesellschaft zum Ausgleich bringen zu können. Das geht nur, wenn man die Leidenschaft und das Augenmaß, die Max Weber vom Politiker verlangt hat, jeden Tag aufs Neue mit auf die politische Baustelle bringt, bevor der Bohrer aufs dicke Brett gesetzt wird.

 

Dazu gehört dann auch, dass man nicht nur genau weiß, was man will, sondern auch bereit ist, sich Schritt für Schritt darauf hin zu bewegen. Kluge Reformpolitik denkt nicht in Revolutionen und Maximalpositionen. Wenn es uns gelingt, das Leben der Bürgerinnen und Bürger etwas zu verbessern, dann haben wir schon etwas erreicht. Das ist der Maßstab, an dem sich bemessen lässt, ob ein Kompromiss faul oder gelungen ist.

 

Der gelungene Kompromiss: Verhandeln mit Leidenschaft und Augenmaß



Zwischen Macht und Ohnmacht. Facetten erfolgreicher Politik." Hrsg. Georg Eckert, Leonard Novy, Dominic Schwickert, Springer Fachmedien Wiesbaden 2013.