Beitrag von Olaf Scholz in der Financial Times Deutschland (FTD) zum 10-jährigen Bestehen der Zeitung.
Die Aufregung über die wilden Äußerungen von FDP-Chef Guido Westerwelle zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Regelsätzen für Bezieher von Arbeitslosengeld II ist groß. Und sie ist berechtigt angesichts der Verachtung Arbeit suchender Bürger, die aus seinen Worten spricht. Trotzdem gibt es gute Gründe, gelassen zu bleiben. Denn das merkwürdige Ereignis ist der letzte Tanz in einer politischen Vorstellung, der abrupt die Bühne weggezogen worden ist.
Welche arbeitsmarktpolitischen Strategien geeignet sind, um Langzeitarbeitslose wieder dauerhaft in Beschäftigung zu bringen, wird seit Jahren kontrovers diskutiert. Wirtschaftsliberale in der Wissenschaft, in den Unternehmensverbänden und bei FDP und Union haben bis zuletzt der Vorstellung nachgehangen, dass die Mobilisierung der Arbeitslosen besser gelingt, wenn die Arbeitslosenunterstützung möglichst gering ausfällt. Immer wieder haben sie gefordert, die Leistungen abzusenken. Vielfach haben sie darauf hingewiesen, dass ein Abstand zwischen der Höhe der Arbeitslosenunterstützung und den unteren Löhnen als Leistungsmotivation nötig sei.
Daraus haben sie aber nie den einzig richtigen Schluss gezogen, dass die Löhne steigen müssen. Stattdessen kritisieren sie die Unterstützung als zu hoch. Gerade erleben wir es wieder: Westerwelle fordert zu Recht , dass derjenige, der arbeite, mehr haben müsse als derjenige, der nicht arbeite. Aber Lohnerhöhungen meint er damit nicht! Er will die Regelsätze senken, auch wenn er sich nicht traut, das zu sagen.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner jüngsten Entscheidung zur Berechnung der Hartz-IV-Sätze so ganz nebenbei die Durchsetzung dieser politischen Auffassung verboten. Die Höhe der Arbeitslosenunterstützung darf sich nur nach dem ermittelten Bedarf richten darf nicht nach anderen Erwägungen. Damit ist ausgeschlossen, dass die Unterstützung aus irgendwelchen arbeitsmarktpolitischen Motivationen heraus gesenkt wird. Und wer das Urteil genau studiert, wird schnell feststellen, dass die Vorgaben der Karlsruher Richter zu höheren Leistungen führen werden. In den aufgeregten Stellungnahmen dieser Tage hört man zwar auch andere Interpretationen des Richterspruchs. Stichhaltig sind sie aber nicht. Das Urteil ist eindeutig.
Die Zahl der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die so wenig verdienen, dass sie netto kaum mehr oder sogar weniger haben, als ihnen als Arbeitslosen zustünde, ist jetzt schon hoch. Und sie droht weiter zuzunehmen.
Es gibt wirksame Strategien gegen diese Entwicklung: Erstens ordentliche Löhne für bisherige Niedriglöhner. Das macht Arbeit auch bei einer weiter steigenden Arbeitslosenunterstützung attraktiv.
Zweitens mehr Flächentarifverträge statt individueller Lohnverhandlungen, weil das Unternehmen Planungssicherheit gibt und vor Billiglohnkonkurrenz schützt.
Drittens ein flächendeckender Mindestlohn.
Und viertens eine erstklassige Vermittlung und eine aktive Förderung für Arbeit Suchende. Das sind sozialdemokratische Arbeitsmarktstrategien.
Aber wir haben derzeit keine sozialdemokratische Regierung. Was also wird geschehen? Die bisherigen Überlegungen der Regierung verheißen wenig Gutes: Es wäre eine Katastrophe, wenn durch höhere Freibeträge die Zahl der sogenannten Aufstocker, die neben dem Arbeitseinkommen noch Arbeitslosengeld II erhalten, dramatisch zunähme. Denn damit wären viele Arbeitnehmer dauerhaft auf die Kombination von Arbeitseinkommen und Arbeitslosenunterstützung angewiesen.
Unternehmen zahlen die Löhne, die sie zahlen müssen. Die staatlichen Zuschüsse würden so in den unteren Lohngruppen zu einem selbstverständlichen Teil der Rechnung. Arbeitgeber könnten Löhne drücken und Kosten auf den Staat verlagern. Niemand soll glauben, es ginge nur um wenige Menschen. Deutschland hat bereits heute einen großen Niedriglohnsektor. Alle dort Beschäftigten müssten mit negativen Konsequenzen für ihre Löhne rechnen. Einmal etabliert, wäre ein solcher dauersubventionierter Arbeitsmarkt nur schwer wieder aus der Welt zu schaffen. Denn zwangsläufig richten sich Unternehmen und Beschäftigte darin ein.
Mit einer solchen Politik aber würden die schwarz-gelben Koalitionäre aus der derzeitigen Wanderbühne Guido Westerwelles ein festes Schauspiel machen. Herr Westerwelle könnte dann seine Tanzveranstaltung Jahr für Jahr aufführen und Verhältnisse beklagen, die er selbst zuvor mit zementiert hat. Das wäre an Zynismus nicht zu überbieten. Und dann dürfte niemand mehr gelassen bleiben.
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