Interview mit dem Deutschlandfunk
Silvia Engels: Wir schauen mal kurz in den Parlamentskalender. Normalerweise wird der Bundeshaushalt immer im Herbst für das kommende Jahr verabschiedet. Dieses Mal ist durch die Bundestagswahl alles etwas verspätet. Erst in dieser Woche berät der Bundestag über mehrere Tage hinweg abschließend über das Budget des laufenden Jahres. Gestern ging es zum Auftakt vor allem um die Rekordneuverschuldung von über 80 Milliarden Euro; heute soll es ums große Ganze gehen. In der traditionellen Generaldebatte wird Bundeskanzlerin Merkel ihre Regierungslinie verteidigen; Oppositionsführer Steinmeier von der Opposition wird sie kritisieren. Am Telefon ist nun der frühere SPD-Generalsekretär, spätere Arbeitsminister und heutige SPD-Fraktionsvize Olaf Scholz. Guten Morgen!
Olaf Scholz: Guten Morgen!
Engels: Herr Scholz, wenn Sie jetzt Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier wären, wo würden Sie die Regierung als erstes und hauptsächlich attackieren?
Scholz: Wir sind uns alle einig: der Fluch des bösen Anfangs wird die Regierung bis zum Ende verfolgen. Sie hat im Angesicht einer riesigen Verschuldung, die auch wegen der Bekämpfung der Wirtschaftskrise noch mal gewachsen ist, Geld ausgegeben, das sie gar nicht hat. Sie hat dabei Gruppen bevorzugt, die es nicht wirklich brauchen, und das wird sich durch die ganze Regierungszeit hindurchziehen und am Ende wird man das ja alles wieder zurückholen müssen, was jetzt passiert, allerdings sehr wahrscheinlich nicht bei den Leuten, die davon jetzt profitieren, sondern bei denjenigen, die sich das nicht leisten können und die weniger Geld haben als die jetzt begünstigten.
Engels: Kritik an den Schulden also, Kritik an den Steuererleichterungen und wahrscheinlich auch weiterhin an Spenden für FDP und Union. Das sind Themen, die wir auch gestern schon hatten. Schauen wir einmal, wo die SPD in der Finanz- und in der Sozialpolitik allerdings eigene Akzente setzen will, damit sie sich als Alternative profiliert.
Scholz: Das wichtigste ist ganz sicherlich die Debatte über die Gesundheitspolitik. Da sind die Vorhaben der Regierung ganz eindeutig: es geht um eine Spaltung unseres Landes, es geht darum, dass das, was wir an sozialem Zusammenhalt haben, aufgelöst wird und dass sich nicht mehr jeder, wie es heute der Fall ist, wirklich von seinem eigenen Einkommen eine Krankenversicherung leisten kann, ein großer sozialer Rückschritt in Deutschland, das gerade in dieser Frage eine bessere Tradition hat als andere Länder.
Engels: Herr Scholz, Sie waren bis vor nicht allzu langer Zeit Arbeitsminister. Wie steht es denn um die neue Bewegung in der Arbeitsmarktpolitik? Hartz IV ist wieder in der Diskussion. Der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Jürgen Rüttgers von der CDU, will mehr Hinzuverdienstmöglichkeiten für Langzeitarbeitslose schaffen. Parteifreund Roland Koch will dagegen eine strengere Arbeitspflicht. Die SPD will beides nicht, aber was wollen Sie denn?
Scholz: Na ja, was Herr Rüttgers und was Herr Koch wollen, stammt eigentlich aus dem gleichen Geist: sie verachten die Arbeitssuchenden. Sie trauen ihnen nicht zu, dass die Mehrheit von den Arbeitsuchenden tatsächlich einen Job sucht und lieber heute als morgen einen anfangen würde, wenn wir es schaffen, ihnen einen anzubieten. Manche brauchen dabei Unterstützung, manche brauchen Qualifizierungsmaßnahmen, aber was sie nicht brauchen ist die schlechte Einstellung von Herrn Rüttgers und Herrn Koch zu ihnen. Der Herr Rüttgers tut sich vorwiegend damit hervor, dass er sagt, die gehen ja gar nicht arbeiten, wenn ich ihnen nicht noch was dazugebe - völlig falsch -, und Herr Koch sagt gewissermaßen aus dem gleichen Geist heraus, die muss man mit allen Möglichkeiten zwingen, sonst kommen die nicht zur Arbeit. Beides ist unakzeptabel und deshalb auch der völlig falsche Weg. Was wir brauchen ist ein weiterer Ausbau der Arbeitsvermittlung. Da ist es ein großer Fehler, dass die CDU-Bundestagsfraktion vor einem Jahr gekippt hat, worüber es eine Einigkeit zwischen Bundesregierung und 16 Ministerpräsidenten gab, nämlich eine kontinuierliche Weiterentwicklung der Job-Center. Dazu wäre notwendig, dass wir mehr Leute für die Arbeitsvermittlung einstellen und nicht bei der Arbeitsvermittlung sparen, wie gerade angesichts der Haushaltspolitik der jetzigen Regierung zu befürchten ist, denn da gibt es immer ganz einfache Methoden. Man muss ja nicht jemandem gleich Geld wegnehmen; man kann ihm die Zukunft auch ruinieren, indem man dafür sorgt, dass niemand sich bei der Suche nach einem neuen Job um einen kümmert und dass es zum Beispiel keine Weiterbildungsmöglichkeiten gibt. Das ist ein ganz großer Fehler und ich befürchte, das wird die neue Regierung tun.
Engels: Schauen wir noch mal auf das Argument von Jürgen Rüttgers. Da ist es ja so, dass viele Langzeitarbeitslose aber genau das Prinzip, das Sie ja auch damals unterstützt haben, Fördern und Fordern, genau an der Sache des Förderns als zu schwach ansehen. Viele kriegen keinen Job und dann ist es doch besser, dass wenigstens die Hinzuverdienstgrenzen etwas steigen, um Armut zu verhindern.
Scholz: Zunächst mal darf eine Gesellschaft wie die unsere sich niemals damit abfinden, dass Millionen ihrer Bürger ohne Arbeit sind. Das ist aus meiner Sicht ein ganz schlimmer Zynismus. Deshalb ist immer das wichtigste, dass wir mehr Leute für die Arbeitsvermittlung zur Verfügung stellen, damit man wirklich individuell betreut wird. Da sind wir noch lange nicht angelangt und da gibt es noch genug zu tun, bevor man sich mit absurden Vorschlägen hervortut. Das gleiche gilt für die Frage von Qualifizierungsmöglichkeiten. Im Übrigen ist das, was Herr Rüttgers vorschlägt, einfach der Weg in Armutslöhne. Diejenigen, die nicht so viel verdienen können auf dem Arbeitsmarkt, würden dann dauerhaft in einer Falle sitzen. Am Ende sinken weiter die Löhne und einen Teil zahlt der Staat dazu und viele Bürgerinnen und Bürger unseres Landes hätten gar keine Perspektive mehr, auf einen ordentlichen Lohn zu kommen. Es ist übrigens kein Zufall, dass diejenigen, die für bessere Zuverdienstmöglichkeiten und damit für mehr Armutslöhne plädieren, auch oft Gegner von Mindestlöhnen sind. Die würden nämlich letztlich helfen, dass man von der Arbeit, die man hat, auch leben kann.
Engels: Herr Scholz, Sie waren einer derjenigen, die ganz früh die Agenda 2010 unter Rot-Grün verteidigt haben, die auch mit bei den Hartz-IV-Reformen dabei waren. Wenn Sie zurückblicken aufs große Ganze, waren diese Reformen zu hart?
Scholz: Die Reformen waren jedenfalls der richtige Weg. Darüber sind sich so ziemlich alle einig, auch die SPD. Das heißt aber nicht, dass jeder einzelne Schritt und jede einzelne Maßnahme richtig war, und Politik wäre größenwahnsinnig, wenn sie irgendwie davon ausgeht, alles was man einmal gemacht hat muss sakrosankt und unverändert bleiben, sondern man muss das vernünftig weiterentwickeln. Da gibt es manche Dinge, die mit Gerechtigkeitsvorstellungen kollidiert haben und kollidieren, die die Menschen haben und die sie auch zurecht haben. Das muss man in Ordnung bringen. Aus meiner Sicht gilt für alles, was wir tun, dass wir dafür sorgen, dass wer sich anstrengt, wer sich Mühe gibt, auch gut zurecht kommen kann, ein Versprechen, das unsere Gesellschaft jedem gewährleisten muss. Das hat was mit der Chance auf Arbeit zu tun, mit guten Qualifizierungsmöglichkeiten, mit guter Arbeitsvermittlung. Das hat aber auch was damit zu tun, dass die sozialen Sicherungssysteme immer genau so sind, dass man denkt, wenn ich das richtige tue, dann kommt für mich auch etwas Vernünftiges heraus.
Engels: Geht es etwas konkreter, Herr Scholz, denn Sie sitzen ja mit anderen SPD-Genossen seit neuestem in einer parteiinternen Arbeitsgruppe, Zukunftswerkstatt genannt? Dort sollen Korrekturen an den Hartz-Reformen und der Rente mit 67 erarbeitet werden. Wohin geht die Reise?
Scholz: Es ist immer schwierig, eine Diskussion, die man offen führen will, gleich am Anfang schon mit den Ergebnissen zu konfrontieren. Deshalb gestatten Sie uns mal, dass wir ganz ernsthaft auch die Einzelheiten untereinander diskutieren wollen. Aber ein paar Sachen zeichnen sich ja jetzt schon ab. Schon im Wahlprogramm zum Beispiel haben wir vorgeschlagen, dass dasjenige, was jemand für sein Alter zusammengespart hat und was der Alterssicherung tatsächlich dient, zum Beispiel wenn man auf Grundsicherung für Arbeitsuchende angewiesen ist, nicht angerechnet ist und unangetastet bleibt.
Engels: Sie klingen wie Herr Rüttgers an der Stelle!
Scholz: Das klingt vor allem wie die SPD.
Engels: Aber eigentlich auch wie Herr Rüttgers. Wie können Sie sich da abgrenzen?
Scholz: Herr Rüttgers schlägt nur pauschale Erhöhungen vor, die dann sogar durch ein paar Verrechnungen für viele gar keine Erhöhung sind. Uns geht es darum, dass wir das, was der Altersversorgung dient, sogar ohne jede Summenbegrenzung schützen.
Engels: Wie steht es um die Geschichte, dass die Arbeitsmarktreformen generell auch in der SPD grundsätzlich kritisiert werden oder abgeschafft gehören, was Hartz IV gebracht hat. Sind Sie dabei?
Scholz: Niemand ist dabei. Die Einstellung, dass wir uns verabschieden von dem Zynismus der letzten Jahrzehnte, der sich damit abgefunden hat, dass viele Bürger ohne Arbeit sind und dass man nichts dagegen tut und glaubt, auch nichts dagegen tun zu können, teilt keiner bei uns. Deshalb ist alles das, was wir gemacht haben, um da rauszukommen, dass so viele ohne Arbeit sind, etwas, das weiter unterstützt wird und auch weiter unterstützt gehört. Ich meine, wir sind seit Anfang der 80er-Jahre oberhalb von einer Million Arbeitsuchenden. Das ist ein Wert, den vorher keiner kannte. In den 70er-Jahren hat man sich über ein paar Hunderttausend erschreckt. Natürlich sind drei Jahrzehnte hoher Arbeitslosigkeit so, dass sie auch das Denken durcheinanderbringen und dass dann viele Politiker und manche Wissenschaftler behaupten, man könne an hoher Arbeitslosigkeit gar nichts mehr ändern, manche Leute das auch verzweifelt befürchten, aber wir dürfen uns mit so einer Realität nicht abfinden, und das ist das, was uns Sozialdemokraten antreibt, auch in Zukunft.
Engels: Der frühere Arbeitsminister und heutige SPD-Fraktionsvize Olaf Scholz. Vielen Dank für das Gespräch.
Scholz: Auf Wiederhören.
Engels: Auf Wiederhören!
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