arrow-left arrow-right nav-arrow Login close contrast download easy-language Facebook Instagram Telegram logo-spe-klein Mail Menue Minus Plus print Search Sound target-blank X YouTube
Inhaltsbereich

Detail

20.03.2014

Es sind unsere Fremden - Gastbeitrag in der "Zeit"

 

 

Wer nach langen Strapazen nach Deutschland kommt, muss hier leichter arbeiten und bleiben dürfen.

 

In München, in Berlin und in Hamburg haben Flüchtlinge, Arbeits- und Armutsmigranten Camps errichtet und fordern ein Aufenthaltsrecht und Arbeitserlaubnisse für sich. Sie tun das unabhängig von den jeweils individuellen Gründen, die ihren Wunsch, in Deutschland zu leben, ausgelöst haben. Nicht wenige Bürger sympathisieren mit diesen in der Regel jungen Männern. Und konkretisieren das mit Slogans wie "Refugees bleiben", "Open Border" oder "Niemand ist illegal, nirgendwo". Dass die Forderung nach einer bedingungslosen "Öffnung der Grenzen für alle" nicht vernünftig ist und den Refugees selbst umso weniger hilft, je mehr sie sind, sehen zwar die meisten ein, sie verlangen aber trotzdem nach einer Lösung. Und das zu Recht. Doch wie kann eine Lösung aussehen?

 

Völlig offene Grenzen nach Europa hätten Konsequenzen, derentwegen Sorgen berechtigt wären. Deutschland könnte kein Sozialstaat mehr sein, und Europa könnte keiner werden, weil der Sozialstaat nicht grenzenlos jedermann unterstützen kann und schon gar nicht auf dem heutigen Niveau. Oder wir müssten wieder, wie es im Hamburg des 18. und 19. Jahrhunderts der Fall war, zwischen "unseren" Armen und den "fremden" Armen unterscheiden. Europa und Deutschland müssten bei bedingungslos offenen Grenzen die Existenz informeller Siedlungen in und vor den Städten akzeptieren, wie sie in vielen Ländern der Welt verbreitet sind.

 

Auf der ganzen Welt ohne Grenzen leben zu können ist eine wichtige Zukunftsvorstellung. Doch wir würden uns gerade diese Zukunft verstellen, wollten wir schon jetzt "grenzenlos" politisch handeln.

 

Wenn Europa eine angemessene Antwort auf die Flüchtlingsströme finden will, kann es das nur gemeinsam und solidarisch tun. Das heutige Verfahren, wonach letztendlich die Flüchtlinge in dem Land verbleiben, in dem sie zuerst europäischen Boden betreten haben, wird immer wieder kritisiert. Eine Alternative wäre ein Quotenmodell.

 

Jüngst hat der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Migration und Integration Wege zu einer fairen "Lasten"-Teilung nach einem solchen Quotenmodell aufgezeigt. Die Berechnung, die unter anderem Bevölkerungszahl und Wirtschaftskraft berücksichtigt, würde aktuell dazu führen, dass Deutschland in etwa so viele Flüchtlinge aufnehmen müsste, wie es heute tatsächlich aufnimmt, und zwar insgesamt etwa 16 Prozent aller in Europa eintreffenden Flüchtlinge. Etwa 20 Länder, darunter Großbritannien und übrigens auch Italien, müssten mehr Flüchtlinge aufnehmen. Allerdings findet sich für ein solches Quotenmodell wohl gegenwärtig kein Konsens unter den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union.

 

Flüchtlinge und Arbeitsmigranten sitzen oft im selben Boot auf dem Weg von Afrika, und die Motive dieser sind nicht weniger wert als die Motive jener. Aber gerade weil der Anteil derjenigen, die eigentlich als Arbeitsmigranten begriffen werden müssen, möglicherweise höher ist als der Anteil derjenigen, die unterwegs sind, um vor politischer Verfolgung oder Krieg zu flüchten, gerade darum ist es wichtig, sich Gedanken über regelhafte Zuwanderungsmöglichkeiten zu machen.

 

Nicht weil Deutschland oder Europa Fachkräfte brauchen, das wäre eine falsche Rationalisierung. Nein, es muss darum gehen, zu verhindern, dass Männer und Frauen wochen- und monatelang über Land reisen, teilweise Wüsten durchqueren, großen Gefahren ausgesetzt sind und dann unter Lebensgefahr die nicht legale Einreise nach Europa versuchen. Die Perspektiven einer legalen Zuwanderung müssen so sein, dass diese die europäischen Arbeitsmärkte nicht überfordert. Gleichzeitig muss sie attraktiv genug sein, um die Zahl derjenigen deutlich zu vermindern, die diese lebensgefährlichen Wege beschreiten. Das wäre eine humanitär motivierte Strategie.

 

Europa sollte auch großzügiger Visa erteilen

Ein Weg könnte sein, Zuwanderern, die eine Arbeitsplatzzusage haben, leichter zu einer Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung zu verhelfen. Vielleicht kann man auch einer begrenzten Zahl die Einreise zur Arbeitssuche gestatten. Ein solches Konzept ist ja vorhanden: mit dem auch von der Süssmuth-Kommission einst vorgeschlagenen und in vielen Einwanderungsländern, wie Kanada, heute schon praktizierten Punktemodell. Die USA haben für Kandidatinnen und Kandidaten, die an einem Arbeitsvisum interessiert sind und bestimmte qualifikatorische Voraussetzungen erfüllen, ein Losverfahren etabliert. Europa wird von den Staaten lernen müssen, die längere Erfahrung mit der neuzeitlichen Arbeitsmigration haben.

 

Europa sollte auch großzügiger Visa erteilen. Viele junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Drittstaaten, viele Künstlerinnen und Künstler haben es schwer, ein Visum zu erlangen. Anderen gelingt es nicht, ihre Verwandten in Europa zu besuchen. Und manchem gut situierten Mittelstandsangehörigen eines Landes in Afrika oder Asien wird schlichtweg nicht geglaubt, dass er wirklich als Tourist nach Europa kommen will. Europas Konsulate vermuten oft, dass es am "Rückkehrwillen" fehlt, wie es das deutsche Recht formuliert.

 

Vielleicht hilft ja das europäische Programm "Intelligente Grenzen", das vorsieht, Ein- und Ausreisedaten von Drittstaatsangehörigen an den Außengrenzen der EU systematisch zu erfassen. Personen, die nach Ablauf ihres Visums unerlaubt im Zielland bleiben, sogenannte visa overstayers, können dann leichter identifiziert werden. Eine sicherere Grenze könnte so Bedingung für eine großzügigere Visapraxis sein.

 

Gelungene Integration sollte unabhängig vom Ausgang des Asylverfahrens einen sicheren Aufenthalt in Deutschland ermöglichen. Deshalb hat der Bundesrat auf Initiative Hamburgs zum Beispiel eine Regelung für Jugendliche gefordert, die zwar kein Asyl erhalten haben, aber vorläufig geduldet werden. Wer einen Schulabschluss macht, soll damit auch einen sicheren Aufenthaltsstatus erwerben können. Und natürlich müssen junge Männer und Frauen eine Berufsausbildung absolvieren können, ohne an den Regelungen des Arbeitsmarkts zu scheitern.

 

Über Grenzen hinweg einen sicheren Ort zu erreichen ist für diejenigen, die vor Krieg oder Hunger fliehen, von existenzieller Bedeutung. Ob diese Gründe vorliegen, wird in rechtsstaatlichen Verfahren geprüft. Und auf diese Verfahren kann auch nicht verzichtet werden. Aber es muss gerade dann, wenn in dieser Zeit eine Integration gelingt, Möglichkeiten eines legalen Aufenthalts geben, auch wenn am Ende des Verfahrens von der zuständigen Behörde keine Fluchtgründe anerkannt werden.

 

Die Zukunft in einem vereinten Europa in einer sich zunehmend für alle öffnenden Welt gibt uns die gemeinsamen politischen Ziele vor. Wir tragen eine Verantwortung, die nicht nur uns selbst gilt, sondern allen, die auf diesem Erdball ein gleiches Recht haben zu leben.

 

Der Beitrag erschien am 20. März in der "ZEIT" und am 27. März 2014 bei "Zeit Online".