Grußwort: 70-jähriges Jubiläum der Staatlichen Abendschule Vor dem Holstentor
Sehr geehrter Herr Hinrichs,
sehr geehrte Schülerinnen und Schüler,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
herzlichen Glückwunsch! 70 Jahre Staatliche Abendschule Vor dem Holstentor das ist in vielerlei Hinsicht ein Grund zum Feiern. 70 Jahre - ein stattliches Alter, denkt man zunächst. Vielleicht auch: Zeit, zurückzublicken und sich an dem Erreichten zu freuen - und erreicht haben Sie wahrlich eine ganze Menge. Doch das Bild eines zwar verdienstvollen, aber eben auch in die Jahre gekommenen Jubilars will in diesem Fall nicht so recht passen.
Wenn ich höre, was die Schule alles anschiebt und welche Projekte das Kollegium diskutiert, dann habe ich den Eindruck: Für die Vergangenheit bleibt gerade nicht allzu viel Zeit. Dafür steckt die Schule viel zu sehr mitten drin in der konkreten Arbeit beschäftigt mit den gesellschaftlichen Veränderungen, auf die Bildung reagieren muss.
Lassen Sie uns trotzdem für einen kurzen Moment innehalten und in der Zeit zurückgehen.
Zurück ins Jahr 1945, als die Schule zunächst als Abendgymnasium ihre Arbeit aufnahm. Hamburgs Innenstadt bestand damals zu großen Teilen aus Kriegsruinen und war eine einzige Baustelle. Aber in St. Pauli hatte neben den alten Gerichtsgebäuden auch die Schule am Holstenglacis die Bomben überstanden. Ein großes Glück, nicht nur für die heutigen Denkmalschützer, sondern für viele Kriegsheimkehrer und andere Hamburger Jugendliche und junge Erwachsene. Zerstörte Stadt, zerstörte Familien, zerstörte Bildungswege - und plötzlich öffnet sich die Gelegenheit, das Abitur nachzuholen. Die Abendschule eröffnet neue Chancen. Das zeigt beispielsweise die Geschichte des ehemaligen Abendschülers Meinhard von Gerkan. Der inzwischen weltberühmte Architekt von Gerkan war 14 Jahre alt, Flüchtling und Vollwaise, als er in eine Pflegefamilie nach Hamburg kam. Mehrfach hat er die Schulen wechseln müssen. Und dann auf Umwegen hier Vor dem Holstentor doch noch sein Abitur gemacht. Das war für ihn die Gelegenheit, den Wunschberuf zu ergreifen und zu studieren.
Wir wissen, was das für seine Karriere bedeutete: Von Gerkan hat den Flughäfen Berlin Tegel, die neuen Hamburger Flughafenhallen, den Berliner Hauptbahnhof und zahllose, die Moderne prägende Gebäude in der ganzen Welt entworfen. Auch das kleine Einkaufszentrum Hanseviertel, an dem man auf dem Weg vom Rathaus zur Abendschule vorbeikommt, stammt übrigens von ihm.
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich finde, diese Geschichte zeigt sehr anschaulich, wie sich durch die Abendschule Türen öffnen, die zugefallen und verschlossen schienen. Und das ist heute im Prinzip nicht anders als damals.
Jedes Jahr machen etwa 130 Schülerinnen und Schüler an der Abendschule Vor dem Holstentor ihren ersten oder mittleren Schulabschluss, 20 erwerben die Fachhochschulreife, etwa 65 machen Abitur. Das sind 215 Abschlüsse und damit 215 neue Perspektiven. Denn Bildungswege sind Lebenswege, nicht nur für berühmte Architekten.
Und diese Wege müssen offen sein. Wer unter schwierigen Bedingungen ins Leben startet und beim ersten Anlauf keinen Abschluss erreicht, wer sich beruflich verändern oder weiterentwickeln will und dafür einen höheren Abschluss braucht, wer durch Migration oder Flucht zu uns kommt Lebensverläufe sind individuell und sollen offen bleiben: Auch nach Unterbrechungen muss es die Möglichkeit geben wieder in den Bildungsprozess einzusteigen. Wenn Lebensverläufe immer bewegter werden sei es aus freiem Entschluss oder den Umständen geschuldet dann muss das Bildungssystem darauf mit Flexibilisierung reagieren. Denn bei allen Veränderungen, die wir erleben, bleibt eines gleich: Bildung ist der Schlüssel zum Arbeitsmarkt, zu gesellschaftlicher Teilhabe und zu einem erfüllten und selbstbestimmten Leben.
Vieles haben wir bereits auf den Weg gebracht und erreicht. In Hamburg sind das Grundangebot in Krippen und Kitas, die Lernmittel in Schulen und das Studium gebührenfrei. Die Schulpflicht umfasst nun 10 Jahre. Die Grundschulen und die weiterführenden Schulen, Gymnasium und Stadtteilschule, haben flächendeckend ein Ganztagsangebot. Auf den beiden weiterführenden Regelschulen, Gymnasien und Stadtteilschulen, kann man das Abitur erreichen.
Wir erleichtern den Übergang von der Schule in die Ausbildung die Jugendberufsagenturen leisten hier gute Arbeit. An den Universitäten fördern wir die Lehre, die genauso exzellent sein muss wie die Forschung.
Außerdem erhöhen wir weiter die Durchlässigkeit des Bildungssystems. Wir haben einen Zugang zur Uni über die berufsbildenden Schulen geschaffen. In bestimmten Fällen ist es außerdem auch möglich, ohne Abitur zu studieren berufliche Qualifikationen können fürs Studium angerechnet werden.
Niemand soll ohne Abschluss bleiben! Dies ist mir ein besonderes Anliegen. In meiner Zeit als Bundesminister für Arbeit und Soziales haben wir deshalb den Rechtsanspruch auf Bildungsmaßnahmen, die zum Hauptschulabschluss führen, durchgesetzt. Darauf baut der Hamburger Senat weiter auf. In Zukunft sollte jede und jeder mindestens einen allgemeinbildenden Basisabschluss erwerben. Dieses ist nun auch im Rahmen einer Ausbildung und über die berufsbildenden Schulen möglich.
Aber auch, dass die Abendschule Vor dem Holstentor eine Klasse eingerichtet hat, in der Schülerinnen und Schüler am Vormittag den Ersten Allgemeinen Schulabschluss nachholen, ist ein wichtiger Baustein. Die Abendschule hat für Hamburg hier eine Lücke geschlossen, die entstanden ist, weil es seit 2005 die Schule am Röbbek in Groß Flottbek nicht mehr gibt. Ich habe gehört, dass die neue Klasse stark nachgefragt wird genauso wie der ebenfalls neue Vorkurs Deutsch. Darüber freue ich mich sehr.
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich bin mir sicher, dass Modelle wie die Abendschule die ja längst nicht mehr nur am Abend stattfindet weiter an Bedeutung gewinnen werden. Die Ansprüche an Bildung wachsen. Die rasante technische Entwicklung sorgt dafür, dass die MINT-Fächer weiter an Bedeutung gewinnen. Gleichzeitig bleibt die Lesefähigkeit ein entscheidendes Kriterium für den Bildungserfolg. Durch die Digitalisierung erleben wir eine Beschleunigung des Wissens, die jeden unabhängig davon, wo er gerade steht vor spannende Herausforderungen stellt.
In Zukunft werden wir nicht nur zweite, sondern auch dritte und vierte Bildungswege benötigen. Gleichzeitig wird Weiterbildung für alle ein zentrales Thema sein. Ob Bäcker oder Lehrer, Unternehmer oder Büro-Assistent - es wird zum Standard gehören, dass wir im Laufe unseres Lebens immer mal wieder eine Schule besuchen, einen Kurs buchen oder uns offene Online-Fortbildungen herunterladen.
Das muss niemanden bang machen. Denn wir wissen zwar einerseits, dass die Grundlagen für Lernfähigkeit und Lernmotivation früh gelegt werden. Deshalb fördern wir in Hamburg die frühkindliche Entwicklung schon in den Kitas. Aber wir haben durch die Neurowissenschaften auch die Erkenntnis gewonnen, dass das Gehirn - anders als früher gedacht - ein Leben lang formbar und lernfähig bleibt. Abitur mit 70, wie im letzten Jahrgang der Abendschule - dies könnte demnächst öfter vorkommen. Auch darauf müssen sich die Bildungseinrichtungen einstellen.
Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Schülerinnen und Schüler,
die Anforderungen Vor dem Holstentor sind hoch. Für den Lehrplan und die Prüfungen gelten dieselben Standards wie bei Abschlüssen, die auf dem ersten Bildungsweg erworben werden. Aber wir alle wissen: Die Bedingungen des Lernens sind an der Abendschule ganz andere. Trotzdem ist es richtig, an einem Standard festzuhalten, denn wer will schon einen Abschluss geringerer Qualität?
Gerade deshalb aber möchte ich den Schülerinnen und Schülern sagen, welch großen Respekt ich vor ihrer Leistung habe. Man muss sich nur einmal den typischen Tagesablauf vergegenwärtigen: Wenn die Abendkurse beginnen, haben viele von ihnen bereits einen vollen Arbeitstag hinter sich - und wenn ich Arbeitstag sage, dann schließe ich neben der Erwerbstätigkeit die Familienarbeit ausdrücklich mit ein. Der Abendunterricht kann dann noch einmal bis 21.30 Uhr dauern. Für Abendschülerinnen und -schüler sind die Tage wirklich lang. Ein solches Pensum erwartet man in Unternehmen nur von Führungskräften.
Nicht weniger Respekt habe ich vor jenen, die den Mut und die Energie haben, in den Vormittagskursen ihren Allgemeinen Schulabschluss nachzuholen. Dass Sie sich hier über manche Widerstände hinweggesetzt und noch einmal aufgemacht haben, finde ich wirklich toll. Wie ich höre, ist auch die sogenannte Mütterklasse gut angelaufen. Die Teilnehmerinnen möchte ich besonders ermutigen: Bleiben Sie dran, trotz aller Widrigkeiten im Alltag.
Dass die Abendschule plant, demnächst zwei internationale Vorbereitungsklassen anzubieten und diese mit dem Deutschen Sprachdiplom abzuschließen, ist für Hamburg eine gute Nachricht. Sie alle wissen, wie viele aus Kriegs- und Krisengebieten in diesem Sommer zu uns kommen in der Hoffnung, hier eine berufliche und private Perspektive zu finden. Auch für Migrantinnen und Migranten bedeutet die deutsche Sprache oft eine Hürde. Aber wer bleiben will und kann, muss Deutsch lernen - das ist das Nadelöhr, durch welches alle hindurch müssen. Ich bin sicher, die Mühe lohnt sich. Die Sprache ist nun einmal der Weg zur Bildung, zum Arbeitsmarkt und zu den Nachbarn im Haus.
Sehr geehrtes Kollegium,
auch allen, die hier lehren und arbeiten, möchte ich noch einmal besonders meinen Glückwunsch aussprechen. Ich denke, Sie dürfen wirklich zufrieden sein mit dem, was Sie erreicht haben. 70 Jahre - für eine Schule ist das offenbar kein Alter. Ich habe das Gefühl: Die Abendschule Vor dem Holstentor ist gerade in den besten Jahren. Ich wünsche Ihnen alles Gute für die Zukunft.
Vielen Dank!
Es gilt das gesprochene Wort.