Grußwort: Besuch der Vorstellung Les Troyens anlässlich des Beginns der Intendanz von Kent Nagano und Georges Delnon mit anschließendem Senatsempfang
Sehr geehrter Herr Generalmusikdirektor Nagano,
Sehr geehrter Herr Ehrenbürger Professor Neumeier,
Sehr geehrter Herr Meierjohann,
Sehr geehrte Mitglieder des Deutschen Bundestages,
Sehr geehrter Herr Vizepräsident der Hamburgischen Bürgerschaft,
Sehr geehrter Herr Ehrenbürger Otto,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
es heißt, dass jeder noch lange nach Ende eines Liedes, den Takt in sich trägt. Aber nach einer solchen Aufführung, bleibt viel mehr.
Und doch: das Konzert ist zu Ende und es fehlen die Stimmen des Orchesters. Die Nähe, die ein Dirigent wie Kent Nagano und hervorragende Musiker herstellen können, die unmittelbare Kommunikation der klassischen Instrumente, sie fehlt plötzlich. Sehr gute Musik berührt. Musik, wie die, die wir eben gehört haben, ist wie eine Aura: unmittelbar, echt und sehr nah. Wer sie kennt weiß, wie es ist, wenn sie fehlt.
Sie erreicht die Seele, sagt man von der musikalischen Kommunikation, die als zart gilt, obwohl sie immer auch laut, kräftig und schnell ist. Und weil sie berührt, gilt gerade Opernmusik vielen als emotionale Ansprache.
Aber das eben war keine Ansprache. Les Troyens, das ist eine mitreißende Musik mit einer beeindruckenden Inszenierung.
Wo bleibt das Subjekt?, will man fragen, hoffend, dass jemand die Sache in die Hand nimmt und die Story zu einem guten Ende führt. Die Schönheit und Einzigartigkeit von Gesang und Musik ziehen einen fort wie die traurige Logik der Geschichte. Wer vielleicht hoffte, sich heute Abend von der Kunst umschmeicheln zu lassen, findet sich in Themen von Flucht, Krieg und Vertreibung wieder.
Trojaner flüchten, Dido ist eine Geflüchtete und Äneas ist auf der Flucht nach Rom, um einen besseren Ort zu finden. Täuschung und Beistand, Verlust und Hoffnung, Selbstbestimmung und Gewalt, schon die Premiere zur ersten Spielzeit macht deutlich: Kent Nagano und Georges Delnon verstehen die Oper als gesellschaftspolitische Instanz.
Aber der Abstand, den ich nun als Sprechender zu meinem vorigen Platz als Hörender habe, und die Distanz, die die Reflektion schafft, erinneren mich auch noch an etwas anderes: Den Weg, den Platon im Buch Politeia beschreibt. Ich meine, die Fabel vom mühsamen Weg der Erkenntnis, die zugleich die Frage beantwortet, wie das Wesen der Welt zu verstehen ist: das Höhlengleichnis.
Platon sieht den Weg der Subjektwerdung als Befreiung von Täuschung und Erkennen der abstrakten Formen. Den Aufstieg aus der Höhle muss jeder für sich vollziehen, aber man braucht dafür Lehrer.
Viele Philosophen haben der klassischen Musik und der großen Oper die Aufgabe des Lehrers zugeschrieben. So spricht Nietzsche vom innigen Verhältnis, das die Musik zum wahren Wesen aller Dinge hat. Er ist sich sicher, dass Musik in der Lage ist, den geheimsten Sinn von Vorgängen zu erschließen. Und es ist, als hätte er eben neben uns gesessen, wenn er schreibt, dass demjenigen, der sich dem Eindruck einer Symphonie ganz hingibt, (so) ist, als sähe er alle möglichen Vorgänge des Lebens und der Welt an sich vorüberziehen.
Die Welt an sich. Haben wir eben die Welt an sich gesehen? Das muss ich natürlich schon aus professioneller Redlichkeit als Bürgermeister verneinen. Die Welt an sich, da sind wir Hamburger eher bei Kant als bei Nietzsche, die Welt an sich ist die, in der wir leben.
Aber das andere kommt doch gut hin: Denn die musikalische Berührung der Seele, die Nietzsche beschreibt, ist die Rührung aus Erkenntnis. Das ist jenseits des Schemas von Kopf- und Bauchgefühl. Theorien berühren, historische Ereignisse und gute Texte. Musikalische Erkenntnis haben Kent Nagano und George Delnon versprochen. Eine Unterbrechung der Effizienzketten, eine Pause zum Erkennen. Die Oper soll relevant sein.
Meine Damen und Herren,
Trojaner - die Digital Natives kennen dieses Wort. Sie nutzen Foren im Internet, um zu lernen, wie die nach dem Trojanischen Pferd, dem Danaergeschenk, der griechischen Kriegslist benannte Schadsoftware zu entfernen ist. Sie wissen vermutlich auch, dass solche Trojaner im Bundestag waren. Die Wenigsten werden an die Trojaner von Berlioz denken.
Aber das ist gar nicht schlimm. Der Weg zur klassischen Musik muss nicht über Faktenwissen aus dem Kanon altsprachlicher Bildung laufen. Es gibt viele Zugänge und überall Orte, die einladen, mehr von der klassischen Musik zu entdecken: In der klassischen Musik ist für alle Platz, deshalb spricht man ja auch von ihr als einer Welt. Und wo hört man das lieber als in der weltoffenen Stadt Hamburg?
Hamburgs klassische Welt beginnt zum Beispiel in Sasel, Barmbek, Osdorf oder Wilhelmsburg, mit Konzerten für Babys von Elbphilharmonie Kompass. Und die Hochschule für Musik und Theater lädt im Kulturpalast Kinder unter sechs Jahren zu den Billstedt Classics" ein. Wer zwischen neun und 19 ist, kann auch schon auf die große Bühne: Opera Piccola heißt die Reihe der Hamburger Staatsoper, in der Kinder und Jugendlich für Gleichaltrige singen und spielen. Klassische Musik für Kinder von Kindern gibt es auch als Festival, als nationalen Wettbewerb und in allen traditionellen Konzertsälen der Stadt. Wir wollen, dass immer mehr Kinder die Chance haben, sich in dieser Welt bewegen zu können.
Meine Damen und Herren,
Kent Nagano kommt nach Hamburg mit einer These: Klassische Musik und gerade Opern, sagt er, sind wichtig für das 21. Jahrhundert. Aber klassische Musik ist derzeit ein Minderheitenthema. Konzertbesucher sind wie eine Elite. Das kann man als Ausdruck finanzieller Verhältnisse sehen, aber das greift zu kurz. Karten für die Oper gibt es schon für einen einstelligen Eurobetrag. Und weniger als 5 Prozent der Radiohörenden lauschen Konzerten, wenn sie in den öffentlich rechtlichen Sendern übertragen werden. Vielen fehlt einfach das Verständnis für klassische Musik.
Dafür braucht es aber nicht so viel: In seiner bemerkenswerten Biografie hat Kent Nagano geschildert, wie sein Musiklehrer, Wachtang Korisheli, den Dorfkindern die Grundzüge der Harmonielehre auf einer einfachen Holztreppe vermittelte. Es wurden Konzerte organisiert und jeder, unabhängig von Herkunft, Beruf und Status lernte zu musizieren. Eltern verwandelten sich in begeisterte Assistenten, klassische Musik war Teil der sozialen Infrastruktur. Wer das Buch liest oder seine Musik hört, glaubt ihm sofort: Musikalische Erziehung ist Erziehung zu Empathie, Humanismus und Konsens.
Vor diesem Hintergrund greifen Kent Nagano und George Delnon die Tradition der bürgerlichen Hamburger Oper auf. Sie sind sich einig, sie werden die Oper für die Stadt öffnen, sie wollen die klassische Musik demokratisieren. Schon die Premiere zeigt, wie das gehen kann: die Aufführung wurde in Zusammenarbeit mit dem Filmfest Hamburg live auf dem Jungfernstieg übertragen.
Die Hamburgerinnen und Hamburger sind stolz über die neue künstlerische Leitung der Staatsoper. Es ist eine große Freude, dass beide auch die Leitung des Philharmonischen Staatsorchesters übernehmen. Es ist für die Stadt eine riesige Auszeichnung mit Kent Nagano einen weltweit anerkannten Künstler gewinnen zu können. Die musikalische Welt hat mit Hamburg eine neue Hauptstadt.
Erwarten Sie Wunder, heißt die Biografie von Nagano. Was für eine glückliche Stadt wir sind.
Such Dir einen Lehrer", heißt es in der Mischna, und erwirb Dir einen Freund."
Mit Delnon und Nagano haben wir zwei neue Lehrer; Lehrer für das Erkennen von Musik und für die Lust, vielleicht irgendwann mal eine Partitur zu lesen.
Hamburg ist voller Freude. Und ich bin sicher, dass wir auch Freunde werden.
Vielen Dank!
Es gilt das gesprochene Wort.