Interview mit der Wirtschaftswoche
Wirtschaftswoche: Herr Scholz, warum sollte ein Mittelständler heute noch SPD wählen?
Olaf Scholz: Wir sind auch eine pragmatische Partei für den Mittelstand; als solche kümmern wir uns darum, dass Unternehmen sich gut entwickeln können. Wir haben schon in unserer Regierungszeit dafür gesorgt, dass die steuerliche Belastung der Unternehmen in Deutschland im europäischen Maßstab im Mittelfeld liegt, und wir trotzdem unser Gemeinwesen vernünftig finanzieren können. Beispielsweise bessere Bildung.
Auf Ihrem Parteitag wollen Sie am
Wochenende aber festschreiben, den
Spitzensteuersatz auf 49 Prozent zu
erhöhen, die Rente mit 67 zu verschieben und die Hartz-Reformen zu korrigieren. Das soll Unternehmer begeistern?
Unternehmer bewegen sich wie wir eher pragmatisch durchs Leben und wissen deshalb, dass sie mit unseren Vorschlägen gut leben können. Man zeichnete ein Zerrbild, wenn man davon ausginge, die deutschen Unternehmer wollten nur, dass ihre Mitarbeiter möglichst wenig verdienen, wenig Rechte haben und im Alter allein sehen sollen, wie sie klarkommen. Unser Parteitag will und wird kluge Positionen der linken Mitte beschließen.
Es wäre auch ein Zerrbild zu unterstellen, der Mittelstand zahlte gern höhere
Steuern. Die Einkommensteuer gilt auch für alle Personengesellschaften.
Niemand zahlt gerne Steuern. Ich habe noch von wenigen Anfragen bei Finanzämtern gehört: Ich möchte gern mehr zahlen wie geht das? Wir brauchen leider Steuereinnahmen, um die Staatsaufgaben zu finanzieren. Es geht um das richtige Maß. Wir schlagen vor, dass Ehepaare, die über 200 000 Euro verdienen, für darüber liegendes Einkommen den Spitzensatz von 49 Prozent zahlen. Das ist weniger als zu Zeiten der Regierung Kohl und im internationalen Maßstab moderat. Niemand von uns fordert einen Spitzensteuersatz von über 50 Prozent.
Aber zusammen mit dem Soli addiert sich die Belastung auf über 50 Prozent, ganz unabhängig von der Kirchensteuer. Ist es gerecht und leistungsfördernd, wenn der Staat die Hälfte des Einkommens nimmt?
Vor allem muss der Staat die Belastungsgerechtigkeit beachten und darf sich die Masse des Aufkommens nicht von jenen holen, die am allerwenigsten verdienen. Das ist in Deutschland besonders wichtig, weil bei uns ein großer Teil des Sozialstaats über die Sozialversicherungen läuft. Da zahlen die unteren Einkommen im Vergleich zu steuerfinanzierten Sozialstaaten ohnehin überproportional viel.
Wenn der Spitzensatz der Einkommensteuer steigt, soll nach dem Willen der SPD-Spitze die Reichensteuer wegfallen. Die Linke in Ihrer Partei hätte gern beides.
Wir sind nicht maßlos. Es geht nur eines. Und bei der Debatte geht es nur um den Grenzsteuersatz, nicht um die durchschnittliche Belastung. Das können Ihre Leser sicher unterscheiden. Haushaltskonsolidierung funktioniert heute nur mit klugem Sparen. Aber es geht auch nicht ohne eine gerechte, für einige Wenige auch etwas höhere Steuerlast.
Die zusätzlichen Einnahmen sollen in die Bildung fließen, sagt die SPD. Aber wie wollen Sie das sicherstellen? Steuern darf man keiner Verwendung fest zuordnen.
Aber es ist unser unbedingter politischer Wille, mehr für die Bildung zu tun. Das lässt sich nicht ohne zusätzliches Geld bewerkstelligen. Deutschland hat die große Chance, mit dem Rückgang der Zahl der Erwerbstätigen auch die Arbeitslosigkeit zu reduzieren. Am Ende dieses Jahrzehnts werden uns zwei Millionen Fachkräfte fehlen, zehn Jahre später bereits fünf bis sechs Millionen. Bund, Länder und Gemeinden müssen alles dafür tun, dass wir möglichst wenige junge Leute haben, die auf dem Arbeitsmarkt keine Chance haben. Denn das wäre das schlimmste Szenario: Millionen Arbeitslose ohne ausreichende Fähigkeiten und gleichzeitig millionenfacher Fachkräftemangel in Unternehmen.
Fachkräftemangel führt dazu, dass Ältere wieder gefragt sind. Warum will die SPD dann die Rente mit 67 verschieben?
Ältere werden heute eher aussortiert als in den Arbeitsprozess integriert. Deshalb schauen wir auf die Beschäftigungsquote der über 60-Jährigen und stellen einvernehmlich mit der Bundesregierung fest, dass heute nur knapp ein Fünftel sozialversicherungspflichtig beschäftigt ist. Erst wenn die Hälfte in Arbeit ist, können wir die Regelaltersgrenze anheben.
Wird diese Schwelle 2015 erreicht sein?
Ich hoffe nach wie vor, dass in Zukunft mehr Ältere Beschäftigung finden. Da bin ich Optimist. Was ich nicht verstehe, sind Verbandsvertreter, die klagen, die Rente mit 67 reiche noch lange nicht aus, während die Betriebe der Branche kaum Über-60-Jährige beschäftigen. Ich fordere ein Umdenken: Wer höhere Altersgrenzen richtig findet, der muss Leute über 60 beschäftigen und zwar nicht nur im Forschungsbereich, sondern auch unten am Band. Und übrigens sollte sich jeder Arbeitgeber fragen, wann er das letzte Mal einen 61-Jährigen eingestellt hat. Wenn das in vielen Unternehmen geschähe, wäre viel gewonnen. Aber diese Schritte brauchen wir zuerst.
Mit der Vertagung der Rente mit 67 schiebt die SPD das Problem der Rentenfinanzen doch weiter in die Zukunft...
...solche Kommentare bin ich leid. In den vergangenen 30 Jahren hat und das sage ich parteiübergreifend die Politik für die Stabilität der Rentenfinanzen viel Streit und Ärger riskiert.
Reden wir gerade über dasselbe Land?
Alle Rentenreformen kamen zu spät.
Berufsmäßige Miesepeter reden gern schlecht über die Rentenpolitik. Schauen Sie sich an, welche Beitragshöhen noch in den achtziger Jahren für heute prophezeit wurden! Keine Regierung hat sich vor dem Problem gedrückt. Es gab viele unpopuläre Entscheidungen von der CDU/FDP-Regierung über Rot-Grün bis zur großen Koalition. Deswegen sagen alle internationalen Vergleiche heute, dass das deutsche Rentensystem auf die Alterung unserer Gesellschaft besser eingestellt ist als andere. Unsere Nachbarländer haben das noch vor sich, was wir schon hinter uns haben.
Nur dass keine Regierung es wagt, ihre Reformen wirken zu lassen. Der Riester- und der Nachhaltigkeitsfaktor werden fast schon regelmäßig jedes Jahr ausgesetzt.
Die Faktoren haben einen Stabilisierungsbeitrag geleistet, den die Rentner hautnah zu spüren bekommen haben. Von den Steigerungen der Rente konnte in den letzten Jahren niemand große Sprünge machen. Und was die Rentenfinanzen betrifft: Gerade jetzt startet die Bundesregierung einen unverfrorenen Raubzug in die Kassen der Rentenversicherung. Sie hat beschlossen, den Beitrag des Bundes für Arbeitslosengeld-II-Empfänger zu streichen. Sie entzieht rund zwei Milliarden Euro Liquidität das würde sie nicht wagen, ginge es der Rentenkasse schlecht.
Bis Jahresende soll die Bundesregierung die Hartz-IV-Regelsätze neu berechnen. Muss die Grundsicherung erhöht werden?
Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes erzwingt das. Wir haben ein System, in dem alle paar Jahre mit einer Stichprobe das Verbrauchsverhalten der unteren Einkommensgruppe überprüft wird, um die Regelsätze anzupassen. Diese Daten wurden 2008 erhoben, sorgfältig ausgewertet...
...und werden vermutlich in der nächsten Woche veröffentlicht.
Dazu kommt nun noch die Aufforderung des Verfassungsgerichtes, diese Berechnung und etwaige Abschläge davon im Gesetz transparent zu machen. Beides zusammen wird zu einer substanziellen
Erhöhung der Regelsätze führen.
Nirgendwo können Zuwanderer so schnell integriert werden wie auf dem Arbeitsmarkt. Was ist schief gelaufen, wenn zwei Drittel aller türkischstämmigen Migranten keinen Berufsabschluss haben?
Wir müssen in Deutschland lernen, dass wir uns für junge Menschen am Anfang ihres Lebens verantwortlicher fühlen müssen vielleicht gerade dann, wenn sie einen Migrationshintergrund haben. Kein einziger darf ohne Schulabschluss oder eine ordentliche Berufsausbildung bleiben. Da brauchen wir ein bisschen mehr Staat. Mich bedrückt allerdings, dass die Rezepte längst bekannt sind, aber viel zu oft nicht beachtet werden.
Was meinen Sie konkret?
Alle sagen, dass wir ein flächendeckendes Angebot von Krippen und Kitas brauchen, in denen alle Kinder Deutsch lernen. Aber wo ist es? Alle sagen, dass wir flächendeckend Ganztags-Grundschulen brauchen. Wo sind sie? Ich selbst habe eingeführt, dass jeder Arbeitslosengeld-II-Empfänger, der kein Deutsch kann, einen Deutschkurs bekommt. Inzwischen sorge ich mich um diese Angebote, schließlich muss dafür genügend Geld da sein. Wir müssen das auch tun, was wir als richtig ansehen.
Ist es denn auch richtig, den Ausschluss
Thilo Sarrazins aus der SPD zu betreiben?
Manche Fragen dürfen nicht taktisch entschieden werden. Manchmal geht es schlicht um Grundsätze. Die sozialdemokratische Partei ist vor beinahe 150 Jahren gegründet worden, mit der Vorstellung, dass in den unteren Schichten enormes Potenzial steckt. Das haben wir bewiesen. Die meisten Leser Ihrer Zeitung wären heute nicht da, wo sie sind, wenn die SPD nicht Recht gehabt hätte mit dieser Gründungsidee. Wer vor diesem Hintergrund die These vertritt, dass man die Fesseln der Herkunft nicht abstreifen kann, der widerspricht einer Grundüberzeugung der SPD.
Das Interview führten Cornelia Schmergal und Henning Krumrey.