Interview mit dem SPIEGEL
SPIEGEL: Herr Scholz, Experten gehen davon aus, dass die Wirtschaftskrise im Herbst voll auf dem Arbeitsmarkt durchschlagen wird. Was erwarten Sie?
Scholz: Die Experten haben mit ihren Vorhersagen bisher ziemlich daneben gelegen. Sie haben nicht erkannt, wie wirksam unser Kurzarbeits-Programm ist. Damit haben wir ein paar hunderttausend Arbeitsplätze gerettet. Natürlich wird der konjunkturelle Einbruch dazu führen, dass die Arbeitslosigkeit auch in den nächsten Monaten steigt. Aber wir werden wohl in diesem Jahr unter der Marke von vier Millionen bleiben.
SPIEGEL: Die Arbeitgeber nehmen eben Rücksicht auf den Wahltermin. Wenn die neue Regierung im Amt ist, kommt womöglich die Entlassungswelle.
Scholz: Das ist Unsinn. Ich spreche regelmäßig mit den Personalchefs und Betriebsräten der wichtigsten Unternehmen. Dabei habe ich nicht den Eindruck gewonnen, dass die Kurzarbeiter von heute samt und sonders die Entlassenen von morgen sein werden. Im Gegenteil: Viele Firmen begreifen mittlerweile, dass sie schon in den nächsten Jahren der Fachkräftemangel mit unerbittlicher Härte treffen wird. In den kommenden zwei Jahrzehnten werden überall qualifizierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer fehlen. Das ist das eigentliche Thema der nächsten Legislaturperiode.
SPIEGEL: Das sagen alle Parteien, aber es tut sich wenig. Wie lautet Ihr Programm?
Scholz: Der Staat hat zwei Aufgaben. Er muss zum einen mehr Jugendliche zu Abitur und akademischen Abschlüssen, vor allem in den Bereichen Mathematik, Ingenieurs- und Naturwissenschaften, führen. Zum anderen hat er dafür zu sorgen, dass künftig kein Jugendlicher mit weniger als einer Berufsausbildung im Tornister in das Arbeitleben strebt. Dazu brauchen wir vor allem mehr Klarheit.
SPIEGEL: Was schwebt Ihnen vor?
Scholz: Jedes Jahr verschwinden Tausende von Jugendlichen nach der Schule von unserem Radarschirm. Manche brechen ihre Ausbildung ab und leben von irgendwelchen Gelegenheitsjobs. Andere absolvieren eine Bildungsmaßnahme, tauchen aber in keiner Statistik auf, und wir wissen nichts über sie. Wir sollten aber wissen, welchen Weg die Schulabgänger einschlagen.
SPIEGEL: Das klingt nach Überwachungsstaat. Wollen Sie eine Zentraldatei für alle 16- bis 20-Jährigen schaffen?
Scholz: Nein. Wir wollen nicht überwachen, sondern rechtzeitig helfen. Es nutzt doch nichts, wenn Jugendliche mit 16 Jahren die Schule verlassen, und wir sehen sie dann mit 22 Jahren ohne Ausbildung in einem Jobcenter wieder. Der Start ins Berufsleben ist die zentrale Station auf dem Lebensweg. Da dürfen wir niemanden allein lassen. Das überall in Deutschland zu erreichen, ist mein Ziel in der nächsten Legislaturperiode.
SPIEGEL: Bildung ist in Deutschland Ländersache. Die Regierungen in Düsseldorf oder München werden sich bedanken, wenn Sie ihnen neue Kontrollaufgaben zuweisen.
Scholz: Selbstverständlich müssen wir gemeinsam mit den Ländern agieren. Das geht auch. Schließlich gibt es überall Praxisbeispiele, die sich in diesem Sinne weiterentwickeln lassen. In Nordrhein-Westfalen zum Beispiel werden mit einem sogenannten Berufsbildungspass gute Erfahrungen gemacht. Etwas Vergleichbares brauchen wir bundesweit.
SPIEGEL: In Wahrheit schränken Sie ein Grundrecht ein. Gehört es nicht zu einer freiheitlichen Gesellschaft, dass die Berufswahl Sache des Einzelnen ist?
Scholz: Das bleibt auch so. aber wir dürfen auch nicht wegschauen. Eineinhalb Millionen Menschen zwischen 20 und 29 sind ohne Berufsausbildung. 15 Prozent eines Altersjahrgangs bleiben ohne Berufsabschluss. Wir können uns selbst ja weiterhin schöne Geschichten von der guten Bundesrepublik erzählen. Aber das ist ein Drama. Denn die Zahl der Jobs für Arbeitnehmer ohne berufliche Qualifikation nimmt permanent ab. Wir müssen handeln. Schnell.
SPIEGEL: Bildung ist ein Problem des Bildungssystems und nicht Aufgabe der Arbeitsverwaltung.
Scholz: Ich halte mehr als 60 000 junge Leute, die Jahr für Jahr ohne Abschluss die allgemeinbildenden Schulen verlassen, nicht für naturgegeben, sondern für ein Staatsversagen. Natürlich brauchen wir bessere Schulen, mehr Kindergärten und Ganztagsschulen. Aber ich kann mich nicht als verantwortlicher Politiker hinstellen und sagen, für die Folgen des Bildungsversagens bin ich nicht zuständig. Fast 500.000 Arbeitslose haben keinen Schulabschluß. Wer mit 16 Jahren die Schule verlässt, hat fünf Jahrzehnte auf dem Arbeitsmarkt vor sich. Ohne Schul- und Berufsabschluss, wird er immer wieder Kunde des Arbeitsministers sein.
SPIEGEL: Was wollen Sie mit Jugendlichen machen, die von Ausbildung einfach nichts wissen wollen?
Scholz: Wir müssen immer wieder neu mit Angeboten kommen. Auch nach Ende der Schulzeit: anrufen, Termine machen und im Zweifel an der Haustür klingeln. Zu diesem Geschäft gehört Ausdauer.
SPIEGEL: Sie wollen junge Menschen in staatliche Bildungsmaßnahmen zwingen, die ausweislich vieler Studien nur mäßigen Erfolg haben. Wirklich ein Fortschritt?
Scholz: Wer eine Ausbildung hat, ist für den Arbeitsmarkt besser gerüstet. Am besten natürlich mit einer Lehre, einer dualen Ausbildung. Wer keinen Schulabschluss und keine Berufsausbildung hat, wird sein ganzes Arbeitsleben lang riesige Probleme haben. Wir können doch nicht einerseits beklagen, dass heute ganze Hauptschulklassen ohne Berufsausbildung bleiben und andererseits achselzuckend nichts tun.
SPIEGEL: Für Ihren Plan benötigen Sie nicht nur eine neue Zentraldatei, sondern auch mehr Ausbildungsvermittler in den Jobcentern. Wo sollen die herkommen?
Scholz: Ich habe dafür gesorgt, dass es seit dem vergangenen Jahr noch einmal etwa 10000 neue Stellen für die Arbeitsagentur und die Jobcenter gab. Jetzt haben wir das erste Mal überhaupt die Chance, das seit 2005 versprochene Verhältnis von Vermittlern und jungen Leuten in den Jobcentern von 1:75 zu realisieren. Jetzt in der Krise darf der Personalbestand in den Job-Centern nicht wieder heruntergefahren wird. Umgekehrt: wir müssen den Ausbau der Vermittlung weiter voran treiben.
SPIEGEL: Ihr Parteifreund Heinz Buschkowsky, Bürgermeister im Berliner Problembezirk Neukölln, sieht das Problem woanders. Jugendliche könne man kaum für eine Ausbildung motivieren, wenn sie täglich erleben, dass man mit Stütze und ein bisschen Schwarzarbeit mehr verdienen kann als mit regulärer Beschäftigung.
Scholz: Das gilt aber nur für unqualifizierte Beschäftigung. Es gibt schlimme Löhne in Deutschland; das weiß ich nur zu genau. Wer besser ausgebildet ist, wird aber in der Regel auch besser bezahlt. Gerade deshalb müssen wir jedem Jugendlichen eine berufliche Perspektive bieten.
SPIEGEL: Und wenn er die nicht wahrnimmt: Wollen Sie ihm dann die Stütze streichen?
Scholz: Damit es kein Missverständnis gibt: Nur ein Teil der Jugendlichen, über die wir die ganze Zeit reden, erhält Grundsicherungsleistungen. Das ist nicht nur ein Hartz-IV-Problem, das reicht weit darüber hinaus. Ich habe auch keine Sanktionen im Blick. Ich will erreichen, dass wir überhaupt Angebote machen. Im Übrigen, wenn eine Familie Leistungen aus der Grundsicherung erhält, können wir schon vor dem Schulabschluss über die Berufsorientierung der Kinder sprechen. Wir benötigen nur genügend Personal in den Job-Centern.
SPIEGEL: Die Realität in der Krise sieht anders aus: Da erleben die Jugendlichen, dass sie die ersten sind, denen gekündigt wird oder dass sie erst gar keinen Ausbildungsplatz mehr finden.
Scholz: Deshalb ist jetzt Handeln gefordert. Es bedrückt mich, dass mir nun manche Arbeitgeber erzählen, man könne wegen des Rückgangs der Schülerzahlen auch die Zahl der Ausbildungsverträge runterfahren. Wir haben aber Hunderttausende von Jugendlichen, die bereits in den vergangenen Jahren keinen Ausbildungsplatz gefunden haben. Um die müssen wir uns kümmern.
SPIEGEL: Die Arbeitgeber behaupten, dass viele von denen einfach nicht die nötigen Fähigkeiten mitbringen.
Scholz: Ich verstehe die Klage, aber gerade deshalb müssen wir unsere Bemühungen steigern. Getanzt werden muss mit denen, die im Saal sind. Wenn die Wirtschaft die alle nimmt und dafür Forderungen stellt, werde ich die weiße Fahne hissen und fast alles tun, damit das klappt. Das ist die beste und effizienteste Arbeitsmarktpolitik, die wir machen können. Aber ich werde nicht mitmachen, wenn sich die deutsche Wirtschaft irgendwann beim Arbeitsminister meldet und sagt, dass sie für die Ausbildung zum Zimmermann engagierte junge Leute aus Vietnam bräuchte.
SPIEGEL: Fleischer sagen, sie finden kaum noch einen deutschen Bewerber für einen Ausbildungsplatz.
Scholz: Das Problem gibt es. Aber da muss die deutsche Wirtschaft eben auch lernen, dass sie für bestimmte Berufe vielleicht nicht immer die angemessene Lohnvorstellung hat. Junge Männer und Frauen erkundigen sich bei Bekannten, bevor sie einen bestimmten Beruf ergreifen. Wenn sie dann hören, dass man von seinem Lohn nicht leben kann, lassen sie es eben. Und die Unternehmen müssen auch diejenigen als Auszubildende akzeptieren, die nicht nicht die besten Zeugnisse haben. Wir geben zu viele junge Menschen auf. Wir lassen zu viele fallen, die es wert sind, dass man sich Mühe mit ihnen gibt.
SPIEGEL: Es gibt eine wachsende Zahl von Sozialpolitikern in Deutschland, die geben eine ganz andere Antwort: Wenn die Qualifikationsanforderungen des modernen Arbeitsmarktes nicht mehr von allen Bewerbern erfüllt werden können, müssen wir uns eben vom Ziel der Vollbeschäftigung verabschieden. Zahlen wir allen ein Grundeinkommen, dann haben wir die Probleme gelöst. Was halten Sie davon?
Scholz: Ich bin strikt dagegen. Zum einen löst das kein Problem, denn Armut ist eine relative Größenordnung. Wenn jeder 600 Euro bekommt, wird er sich trotzdem mit seinem Nachbarn vergleichen, der darüber hinaus noch ein Arbeitseinkommen hat. Er wird also nicht zufrieden sein. Zum anderen habe ich als Sozialdemokrat grundsätzlich eine andere Haltung. Ich bin der Auffassung, dass der Mensch arbeiten soll, und darin unterscheide ich mich von den Konservativen und Liberalen dies aber auch für jeden menschenwürdig möglich sein muss.
Interview: Markus Dettmer, Michael Sauga