FR: Herr Scholz, ist die SPD beim Thema Mindestlohn jetzt mitten in einem Positionswandel?
Scholz: Es ist ja so, dass neun der bislang 15 EU-Staaten und neun der zehn Beitrittsländer Mindestlöhne haben. Meine Prognose ist, dass es in ein paar Jahren auch in Deutschland Mindestlöhne geben wird. Man muss sich vor einer solchen Reform aber Zeit zur Diskussion nehmen.
FR: Liegt die Alternative denn nicht auf der Hand? Wozu diese lange Debatte?
Scholz: Schauen Sie auf Großbritannien eines der Länder, die erst vor kurzem Mindestlöhne eingeführt haben. Dort wurde vorher jahrelang diskutiert. Die neue sozialdemokratische Regierung hatte die Reform 1997 beschlossen und 1999 wurde der Mindestlohn dann eingeführt. Deutschland hat bei diesem Thema jetzt also eine Sonderstellung. Deshalb macht es in einer veränderten Welt schon Sinn, zu klären, ob wir die Menschen, die hart arbeiten, so vor ganz unanständigen Löhnen schützen können.
FR: Das zentrale Argument ist also die Entwicklung in den Nachbarländern?
Scholz: Das gibt es Erfahrungen, die man zur Kenntnis nehmen muss. Dabei ist es übrigens interessant, sie sich näher anzuschauen. Es gibt nämlich zwei berechtigte Einwände, die sich so überprüfen lassen. Der eine, von den Gewerkschaften formuliert, befürchtet, dass von Mindestlöhnen ein Druck auf die Löhne nach unten ausgeht. Alle internationalen Untersuchungen widerlegen das. Umgekehrt befürchten die Unternehmensverbände, Mindestlöhne könnten Arbeitsplätze kosten. Auch da zeigt der Blick auf die internationalen Fakten, dass das nicht so ist. Die Debatte ist also etwas paradox. Die einen Skeptiker halten Mindestlöhne für Neoliberalismus, die anderen für eine Form von Sozialismus. Beide können nicht zugleich Recht haben.
FR: Man könnte es vielleicht auch anders herum ausdrücken: Weil die SPD selbst dazu beiträgt, dass schlecht bezahlte Jobs entstehen, muss sie jetzt über Untergrenzen der Bezahlung reden...
Scholz: Das ist ein falscher Zusammenhang. Mit größerer Mobilität auf dem Arbeitsmarkt und besserer Vermittlung werden wir etwas gegen die Langzeitarbeitslosigkeit tun. Aber auch in Zukunft gilt: Wir müssen die Menschen beschützen können vor unanständigen Zumutungen. Das sind Löhne, von denen man sich nicht mehr ernähren kann. Auch da hilft übrigens wieder der Blick auf die mit uns vergleichbaren Nachbarländer. Fast überall liegt dort der Mindestlohn für Vollzeitarbeit jetzt zwischen tausend und zwölfhundert Euro monatlich. Das ist der Orientierungsmaßstab.
FR: Wie wollen Sie die Gewerkschaften überzeugen?
Scholz: Das geht nur, indem wir uns Zeit lassen für die Diskussion. Da darf niemandem etwas übergestülpt werden. Aber die Diskussion hat jetzt ja erst begonnen. Ich glaube übrigens generell, dass die Sicherung von Mindestarbeitsbedingungen in den kommenden Jahrzehnten eine der wichtigsten Aufgaben der Sozialdemokratie in Europa sein wird.
FR: Wann kann es in Deutschland eine konkrete Initiative geben?
Scholz: Da sollten wir uns jetzt noch nicht festlegen. Die Erfahrungen anderer Länder zeigen doch, dass wir über die Lage in den Branchen längst nicht genug wissen, in denen so geringe Löhne gezahlt werden, dass eine Grenze gezogen werden muss. Aber es erweist sich auch: Überall, wo Mindestlöhne existieren, sind sie inzwischen weithin akzeptiert. Bei Gewerkschaften und Unternehmern übrigens und sie sind sehr populär in der Bevölkerung.
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27.08.2004