Das Nebeneinander von privaten Krankenversicherungen und gesetzlichen Krankenkassen ist unvernünftig. Das geht nicht mehr lange gut. Die gesetzliche Krankenversicherung wirkt wie eine zweite Einkommensteuer. Allerdings kann sich ein Teil der Bürger trotz hoher Leistungsfähigkeit dieser Quasibesteuerung entziehen. Mit den steigenden Kosten des Gesundheitssystems und dem Beitragsanstieg wird diese Missachtung der weithin akzeptierten Gerechtigkeitsvorstellungen immer ärgerlicher.
Die meisten Befürworter einer neuen Bürgerversicherung raten nun dazu, die Prinzipien der gesetzlichen Krankenversicherung auf alle Versicherten auszudehnen während die Anhänger einer Kopfpauschale den solidarischen Ausgleich aus dem System der gesetzlichen Krankenkassen verbannen wollen. Der solidarische Ausgleich soll dann nicht, wie bisher bei den Krankenkassen, durch Beitragserhebung, sondern durch das Steuersystem erfolgen. Der Wirtschaftsweise Bert Rürup will deshalb den Arbeitgeberbeitrag zu einem Bestandteil des Bruttogehaltes werden lassen und besteuern - zulasten der Arbeitnehmer. Der zentrale Einwand gegen einen pauschalen Krankenkassenbeitrag ist dessen unvermeidbare Höhe. Viele der versicherten Arbeitnehmer- und Rentnerhaushalte könnten sich aus eigenem Einkommen eine so teure Krankenversicherung nicht leisten; sie wären auf Unterstützung angewiesen.
Der von Rürup entwickelte Vorschlag bedeutet einen Beitrag von 210 Euro pro Monat für jeden erwachsenen Versicherten. Die Herzog-Kommission schlug einen Beitrag von 264 Euro vor. Die Aussicht auf 420 Euro oder gar 528 Euro Krankenkassenbeitrag für ein Ehepaar hat viele erschreckt, auch in der Union. Der CDU-Parteitag einigte sich deshalb auf einen Pro-Kopf-Beitrag von 180 Euro (plus Vorsorgebeitrag von 20 Euro), für Kinder von 90 Euro.
Auch dies wäre vielen Bürgern nicht zu vermitteln. Heute können sich alle Arbeitnehmer und Rentner den Beitrag zur Krankenkasse leisten. Wären sie auf öffentliche Unterstützung durch einen steuerfinanzierten Zuschuss angewiesen, wäre nicht nur der Stolz der Betroffenen verletzt. Das Lebensgefühl der ganzen Nation wäre angeschlagen. Unser Land sollte sich für die Weiterentwicklung von Krankenkassen und privaten Krankenversicherungen zu einer Bürgerversicherung entscheiden. Das muss nicht auf eine Einheitskasse hinauslaufen. Werden bestimmte Regelungen, die heute nur für die gesetzlichen Krankenkassen gelten, auch für die privaten Versicherungen vorgeschrieben, könnten beide Systeme so zusammenwachsen, dass am Ende eines allmählichen Reformprozesses von einer integrierten Bürgerversicherung zu sprechen wäre. Diese Reform besteht aus drei Komponenten:
Erstens sollten die privaten Versicherungen jede Antragstellerin und jeden Antragsteller akzeptieren müssen. Umgekehrt sollte sich jeder Bürger nicht nur die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gegen Krankheit versichern müssen. Sogar die radikalen Privatisierungspläne der FDP laufen darauf hinaus, wenn auch auf Basis eines Pauschaltarifs.
Zweitens wäre auf jede Beitragsdifferenzierung nach Risikomerkmalen zu verzichten. Diese Differenzierung funktioniert ohnehin nicht mehr, sobald sich jeder versichern muss und die Versicherungen jeden akzeptieren müssen. Auch die Befürworter der Kopfpauschale - ob Rürup, Herzog oder die Union -verzichten deshalb darauf. Wie die Kassen könnten die privaten Versicherungen die unterschiedlichen Risiken, die mit Alter, Geschlecht und Morbidität verbunden sind, untereinander ausgleichen, um einen fairen Wettbewerb zu garantieren.
Drittens wäre auch für die privat Versicherten ein Mindestschutz vorzuschreiben - zum Beispiel auf dem Niveau, das in der gesetzlichen Krankenversicherung paritätisch finanziert wird.
Allein diese Maßnahmen näherten private Versicherungen und gesetzliche Krankenkassen einander an obwohl die gesetzlichen weiter einen einkommensabhängigen Beitrag erhöben und die privaten Kopfbeiträge. Das Nebeneinander zweier Krankenversicherungssysteme ließe sich schließlich vollends entdramatisieren, wenn die privaten Versicherungen ein Pendant für den einkommensbezogenen Risikostrukturausgleich bei den Krankenkassen etablierten.
Der heute am prominentesten diskutierte Vorschlag zur Bürgerversicherung bedeutet, dass neben Lohn und Gehalt weitere Einkunftsarten bei der Beitragsbemessung zugrunde gelegt werden. Allerdings geht Andrea Nahles politisch klug vor, wenn sie jetzt für die SPD-Kommission zur Bürgerversicherung verschiedene Modelle durchrechnen lässt. Nur anhand konkreter Modelle lässt sich nämlich beurteilen, ob das Krankenversicherungssystem mit dieser Aufgabe überfordert wäre.
Womöglich wäre es eleganter, bestimmte Leistungen der Versicherungsträger direkt aus Steuermitteln zu refinanzieren. Naheliegend wäre es, die Mitversicherung von Kindern beitragsfrei zu stellen - und zwar sowohl bei Krankenkassen wie auch bei privaten Krankenversicherungen. Alle, Spitzenverdiener, Vermögende, Beamte, Singles, Selbstständige und Rentner mit hohen Alterseinkünften, wären an der Finanzierung beteiligt, während die Familien profitierten und die Kassenbeiträge sänken. Da auch die Vorschläge von CDU und FDP eine Steuerfinanzierung der Leistungen für Kinder vorsehen, könnte dieser Weg sogar konsensfähig sein.
Die Zeit, Hamburg, 15.07.2004
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15.07.2004