GA: Sie waren noch Bundestagsabgeordneter in Bonn, bevor Regierung und Parlament nach Berlin umzogen. Was verbinden Sie mit dieser Zeit?
Scholz: Ich fand das spannend und auch ein bisschen romantisch, vom Langen Eugen auf den Plenarsaal und den Rhein zu gucken und mich in die Geschichte der Bundesrepublik und den Wiederaufbau unserer Demokratie einzufühlen.
GA: Wenn ein Minister seinen ersten Dienstsitz in Berlin hat, sehnt er sich dann manchmal nach Bonn zurück?
Scholz: Ich bin ja Hamburger. Insofern verbinde ich die Frage, wie soll eine gute Stadt aussehen, am meisten mit meiner Heimatstadt. Ich glaube, dass der Teil-Umzug an die Spree eine richtige Entscheidung war. Aber ich bin auch gern ab und zu hier in meinem Bonner Büro.
GA: Deutschland ist bisher ganz gut durch die Wirtschaftskrise gekommen, auch Dank des Kurzarbeitergeldes. Sollte der Wähler das der SPD mehr danken?
Scholz: Solche Entscheidungen muss man treffen, weil man sie der Sache wegen richtig findet. Die Ausdehnung der Kurzarbeit auf 24 Monate war sehr mutig und in der Koalition keineswegs unumstritten. Ich bin sicher, dass die Arbeitslosigkeit sich weiterhin besser entwickeln wird, als die Prognosen vorgeben. Sie werden sehen: Die Kurzarbeit wird noch zum Standardrepertoire der Krisenreaktion werden und in die Lehrbücher einziehen.
GA: Glauben Sie, dass der SPD noch die Hartz-Reformen übel genommen werden?
Scholz: Die meisten Bürger haben verstanden, dass wir durch den Umbau der Arbeitsvermittlung und neue arbeitsmarktpolitische Instrumente die Arbeitslosigkeit von über fünf Millionen auf unter drei Millionen Menschen Ende 2008 haben senken können. Dann hat uns die weltweite Wirtschaftskrise allerdings einen Strich durch die Rechnung gemacht.
GA: Die Kanzlerin reklamiert die niedrige Arbeitslosigkeit aber für sich.
Scholz: Das hat sie früher auch schon einmal anders formuliert. Sie weiß, dass die Regierung Schröder die Weichen gestellt hat. Ich habe keinen Zweifel: Wir hätten heute eine wesentlich höhere Arbeitslosigkeit, wenn FDP oder CDU/CSU ihre Vorstellungen durchgesetzt hätten, also mehr befristete Arbeitsverhältnisse, mehr Leiharbeit, weniger Kündigungsschutz.
GA: Hätten Sie wie Ihr Amtsvorgänger Müntefering die Kraft aufgebracht, die Rente mit 67 durchzusetzen?
Scholz: Wir haben durch diese Reform und viele andere Reformen in den vergangenen 20 Jahren eine stabile Alterssicherung. Internationale Experten bescheinigen uns das. Wir stehen sogar so gut da, dass wir mit einer Rücklage von 16 Milliarden Euro in die Krise gestartet sind. Unser größtes Problem ist doch das Plakat, das jemand mal auf eine Litfaßsäule geklebt hat mit dem Satz: Die Rente ist sicher. Das hat Vertrauen zerstört, weil kaum dass der Kleister trocken war, mit dem das Plakat geklebt wurde, gleich mehrere Eingriffe ins Rentensystem erfolgten.
GA: Sie meinen den früheren Sozialminister Norbert Blüm. Trotzdem wollen Sie die geförderte Arbeitsteilzeit, die 2009 ausläuft, nochmals verlängern. Ist das Ihre Antwort auf die Rente mit 67?
Scholz: Es ist eine Antwort auf die aktuelle Krise. Ich will die geförderte Arbeitsteilzeit um fünf Jahre verlängern, allerdings mit der konkreten Auflage, dass die Unternehmen Auszubildende übernehmen. Damit schaffen wir eine echte Beschäftigungsbrücke zwischen Jung und Alt.
GA: Wie muss sich die Arbeitsorganisation in den Unternehmen ändern, damit ältere Beschäftigte bessere Chancen haben?
Scholz: Unternehmen müssen die Arbeitswelt so organisieren, dass die Arbeitnehmer nicht schon in jungen Jahren verschlissen werden. Viele Unternehmen haben begonnen, den Produktionsablauf entsprechend zu ändern. Sie wissen: In zehn Jahren wird vielleicht die Hälfte ihrer Beschäftigten älter als 50 sein. Aber die Personalabteilungen müssen auch ihr Einstellungsverhalten ändern. Nur wenn Unternehmen 61-Jährige einstellen, ist die Arbeitswelt so, wie wir sie uns gerechterweise vorstellen.
GA: Was wäre Ihr wichtigstes Vorhaben in der Rentenversicherung in der nächsten Legislaturperiode?
Scholz: Wir müssen verhindern, dass jemand, der immer wenig verdient hat und auch arbeitslos war, auf Grundsicherung angewiesen ist. Deshalb setzen wir uns dafür ein, dass die Rente nach Mindesteinkommen bis 2010 verlängert wird. Das heißt, dass bei niedrigem Lohn das Einkommen im Rentenrecht höher bewertet wird. Künftig soll es immer eine Höherbewertung für Zeiten der Arbeitslosigkeit geben. Niemand soll, weil er arbeitslos war, auf Grundsicherung angewiesen sein, Der wichtigste Beitrag, um Altersarmut zu verhindern, ist jedoch ein flächendeckender Mindestlohn. Würden wir von einem Jahr auf das andere den Mindestlohn auf 7,50 Euro anheben, würden die Renten um ein Prozent steigen.
GA: Hält die SPD am Ziel fest, die Sozialbeiträge in der Summe unter 40 Prozent zu halten?
Scholz: Es wäre ein großer Fehler, dieses Ziel aus den Augen zu verlieren.
GA: Wären Sie bereit, dafür noch mehr Steuerzuschüsse in die Sozialversicherungen umzuleiten?
Scholz: Wir müssen realistisch bleiben. Das vorrangige Ziel ist jetzt, den Bundeshaushalt zu stabilisieren, der durch die Krise aus dem Lot geraten ist. Zudem sollte man wissen: Anders als es die Partei Die Linke glauben macht, fließt der größte Anteil des Bundeshaushalts in die soziale Sicherung. Deshalb sind auch die Pläne von FDP und Union, die Steuern für Leute mit sehr hohen Einkommen zu senken, ein so großes Problem. Das ließe sich nur auf Kosten von Rentnern und Arbeitsuchenden bezahlen. Das zu verhindern, wird die wichtigste Herausforderung sein.
GA: Wie soll es mit den Jobcentern weitergehen, die in dieser Form vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt wurden?
Scholz: Wir hatten eine Lösung gefunden, die von allen 16 Ministerpräsidenten und mir getragen wurde. Ohne die mutwillige und unerklärliche Reaktion der Bundestagsfraktion der CDU/CSU hätten wir die umsetzen können. Ich bin sicher, dass die Unionsministerpräsidenten keine Gnade mit ihren Parteifreunden im Bundestag gefunden hätten, wenn nicht dieses Jahr Bundestagswahlen wären. Nach der Wahl werde ich meinen Vorschlag wieder vorlegen. Die Zusammenarbeit von Bund und Kommunen bei der Vermittlung und Betreuung der Langzeitarbeitslosen hat sich bewährt.
GA: Werden die Unternehmen im beginnenden Ausbildungsjahr Ihre Erwartung erfüllen, mindestens 600.000 Lehrstellen anzubieten?
Scholz: Ich fürchte nein, und das bedrückt mich sehr. Viele junge Menschen sitzen in langen Warteschleifen. Von den 20- bis 29-Jährigen sind 1,5 Millionen ohne Berufsabschluss. Das ist ein Skandal. Und es ist ein Fehler. Schon heute gehen mehr Menschen in Rente, als neue aus der Schule in das Berufsleben drängen. Wenn wir nicht aufpassen, wenn wir nicht allen jungen Menschen zu einem Berufsabschluss verhelfen, werden wir bald Millionen Arbeitssuchende haben und gleichzeitig in den Unternehmen einen Fachkräftemangel, dass es quietscht.
GA: Wollen Sie der Wirtschaft mit einer Ausbildungsabgabe drohen?
Scholz: Ich halte eine solche Abgabe nicht für das geeignete Instrument.
GA: Sie haben gesagt, man müsse verhindern, dass junge Menschen in der Versenkung verschwinden.
Scholz: Ich vertrete einen sehr strikten Ansatz. Uns darf das Schicksal dieser jungen Leute nicht egal sein. Wir müssen hinter ihnen her sein und darauf hinwirken, dass sie einen Schulabschluss und eine Ausbildung machen. Jeder junge Mensch mit Anfang 20 muss entweder Abitur oder eine Ausbildung haben.
GA: Wie verhindert man, dass beispielsweise so viele junge Frauen Friseurin werden wollen?
Scholz: Ich habe mit den Ländern beim Bildungsgipfel 2008 verabredet, dass wir in Hauptschulen in den Vorabgangsklassen eine Berufsorientierung etablieren. Die jungen Leute müssen ein besseres Bild von ihren beruflichen Möglichkeiten erhalten. Junge Frauen müssen sich mehr für technische Berufe interessieren. Und wir müssen den Weg in Berufe mit Zukunft wie die Alten- und Krankenpflege erleichtern. Das geht einher mit besserer Bezahlung, mehr Tariflöhnen und Aufstiegschancen, etwa durch ein Studium, um im Pflege- und Gesundheitsmanagement zu arbeiten.
GA: Wie führen Sie angesichts deprimierender Umfrageergebnisse für die SPD noch einen Wahlkampf mit Schwung?
Scholz: Unsere Chance sind die Bürger, die sich mit großem Ernst und verantwortungsvoll mit den inhaltlichen Angeboten der Parteien auseinandersetzen.
GA: Die Hoffnung der SPD ist, dass es mit den Grünen und der FDP für eine Ampelkoalition reicht. Was wäre in dieser Konstellation gewonnen gegenüber einer Fortführung der großen Koalition?
Scholz: Es ist doch so, dass sich Union und FDP in der Wirtschaftspolitik kaum unterscheiden. Da haben neoliberale Funktionärsmehrheiten das Sagen. Einen Koalitionsvertrag zu verhandeln, egal ob nun CDU/CSU oder FDP auf der anderen Seite des Tisches sitzen, ist, wenn es um Arbeitnehmerrechte geht, immer ein hartes Geschäft. Mit den Grünen und der FDP wäre wohl ein neuer Aufbruch in Fragen der Liberalität leichter als in einer großen Koalition. In der Union gibt es bestenfalls einen Bis-hierhin-und-nicht-weiter-Liberalismus, der für die Modernisierung des Landes zu wenig ist.