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09.09.2009

"WIR statt ICH"

Rede von Olaf Scholz beim Festgottesdienst zum Jubiläum "125 Jahre Magdeburger Stadtmission 1884-2009" im Magdeburger Dom



Sehr geehrter Herr Domprediger,
meine sehr geehrten Damen und Herren,

die Magdeburger Stadtmission feiert Ihr 125-jähriges Bestehen und viele sind heute gekommen, um mitzufeiern und zu gratulieren.

Ich freue mich sehr, unter Ihnen zu sein, dabei zu sein, mitfeiern und Dank sagen zu dürfen.

Viele sind hier, denn ihnen liegt die Aufgabe der Stadtmission am Herzen.

Die Aufgabe, dem Nächsten beiseite zu stehen,
•    wenn es beispielsweise darum geht, psychisch Kranken ein Wohnen und Leben zu ermöglichen, das von Hilfen weitgehend unabhängig ist,
•    wenn es darum geht, Männer und Frauen mit Suchtproblemen zu betreuen, um sie bei ihren Schritten in ein von der Sucht befreites Leben zu begleiten,
•    oder wenn es darauf ankommt, Kindern und Jugendlichen zu helfen, die mit ihren Problemen mit den Eltern oder in der Schule allein nicht klarkommen.

Viele sind hier, weil es ihnen etwas bedeutet, für die Werte der Diakonie zu leben, weil sie sich einsetzen wollen für die Zukunft der Magdeburger Stadtmission, mit Herz und Hand, mit Zeit und auch Geld, mit gutem Willen und Sachverstand, viele, die sich wehren, wenn die Gesellschaft sich zu spalten droht.

Das ist nicht selbstverständlich. Es gab und gibt jene, die meinen, dass das soziale Miteinander heute eher hinderlich sei, wenn es heiße, den Staat und die Ökonomie zum Erfolg zu führen und die Eigenverantwortung des Einzelnen zu stärken.

Es gab und es gibt sie, die Apologeten des freien Marktes, die den Profit zum höchsten Prinzip erheben, die Zyniker, die lässig abwinken, wenn vom Wert der Solidarität die Rede ist, die Unbedachten, die nichts geben auf Hilfsbereitschaft, weil sie selbst keine Hilfe zu brauchen glauben.

Das aber sind nicht die, die für die Mitte unserer Gesellschaft stehen, nicht die, die wissen, dass ohne Fairness, Gerechtigkeit und soziales Engagement eine humane Gesellschaft nicht zu haben ist.

Das ist die Botschaft des Jubiläums, das wir heute gemeinsam feiern:

Solidarität und die Kraft des Gemeinsinns sind wesentliche und notwendige Kräfte unseres Landes. Sie tauchen in keiner Effizienzrechnung auf, bilden aber dennoch die Basis auch ökonomischer Dynamik. Sie sind der Antrieb, der eine Kultur des Miteinanders überhaupt erst zur Entfaltung bringt, und damit das Lebenselixier einer demokratischen Gesellschaft.

Auch deshalb verdienen diejenigen, die sich stark machen für die Sache der sozialen Verantwortung, eine besondere Würdigung in der Öffentlichkeit. Sie machen unser Land aus. Sie machen es lebens- und liebenswert.

Herzlichen Dank der Diakonie, dass sie dieser Botschaft eine starke Stimme gibt, herzlichen Dank der Magdeburger Stadtmission, dass sie sich diese Botschaft zur Aufgabe macht und sie auf vielfältige Weise ins Praktische überträgt.

Meine Damen und Herren,

es gibt in diesem Jahr viele wichtige Anlässe, sich zu erinnern und zurückzuschauen:

Vor 60 Jahren wurde mit dem Grundgesetz eine demokratische Verfassung verabschiedet, die seither ein festes Fundament unseres Landes ist. Das Grundgesetz schuf die Voraussetzung für den Wiederaufbau, für Wachstum und Wohlstand, für Freiheit, Frieden und soziale Gerechtigkeit. Es ist und bleibt unsere Basis für ein gutes Zusammenleben in Deutschland.

Vor 20 Jahren haben Frauen und Männer im Osten Deutschlands durch ihren mutigen Widerstand in Berlin, Leipzig, Dresden genauso wie hier auf den Straßen Magdeburgs die Einheit unseres Landes möglich gemacht.

Manches bleibt noch zu tun, damit auch die innere, die soziale Einheit als vollendet gelten darf. Die dafür notwendigen Schritte müssen wir entschlossen gehen, uns zugleich aber auch vor Augen halten,

•    dass die Zeit im vereinten Deutschland bereits wieder ein Drittel unserer Nachkriegsgeschichte ausmacht

•    und dass inzwischen vieles für das Zusammenwachsen von Ost und West erreicht worden ist.

Wer ohne Vorurteile Bilanz zieht, wird anerkennen: Wir sind vorangekommen. Wir haben schwierige Herausforderungen gemeistert und unser Land gemeinsam wieder auf die Höhe der Zeit gebracht.

Deutschland ist stark, weil sich Bürgerinnen und Bürger dieses Landes in millionenfacher Anstrengungen, in Unternehmen und Dienstleistungsbetrieben, in Verwaltungen und Hochschulen, in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Organisationen ins Zeug gelegt haben. Wir sind stark auch im Wandel, weil wir mit dem Sozialstaat Sicherheit geben und Solidarität im Land organisieren. Weil wir ein Land sind, in dem die Starken den Schwachen helfen, und in dem wir den Schwachen helfen, stark zu werden.

Das soll und das muss so bleiben und es kann nur so bleiben, wenn wir uns jetzt besinnen und bewusst für diesen Weg entscheiden.

Im 30. Kapitel des Jesajabuches kleidet der Prophet die Botschaft vom Verhängnis seines Volkes in das Bild eines Risses, der sich, zunächst kaum sichtbar, immer weiter in eine hohe Mauer frisst, bis der Mörtel rieselt, der die Steine hält, ja bis am Ende die ganze Mauer einstürzt. Dieses Bild nimmt alle, die in Politik und Wirtschaft Verantwortung tragen, in die Verantwortung. Es mahnt aber vor allem die, die man heute bereits wieder sagen hört: Diese Krise war ein Betriebsunfall. Lasst uns das ausbügeln, dann machen wir weiter wie bisher. Das kann unsere Haltung nicht sein. Wir wollen den Riss in der Mauer nicht notdürftig verkleistern, wir wollen ein solides ethisches Fundament neu gründen.

Die Antwort auf diese Krise muss in einer Politik liegen, die sich den Grundsätzen der Fairness und Solidarität verpflichtet fühlt. Eine Politik, die die Freiheit als verantwortete Freiheit versteht und den Kräften des Marktes tatsächlich klare Grenzen setzt. Die die Macht der Starken einhegt und die Schwachen stärkt.

Wir wollen wettbewerbsfähige Unternehmen und neue Arbeit in den Märkten der Zukunft. Wir sagen aber auch: Die Wirtschaft ist für die Menschen da, nicht umgekehrt. In eine gute Zukunft muss man investieren, man darf nicht mit ihr spekulieren. Darum muss Schluss sein mit den marktradikalen Ideologien.

 

Wir wissen, Arbeit ist mehr als nur Broterwerb, mehr als nur materielle Bedingung unserer Existenz. Arbeit, gute Arbeit vor allem, stiftet Sinn, sichert Teilhabe, schafft gemeinsame Werte. Auch darum schauen wir jetzt nicht tatenlos zu, das weg bricht, was zuvor erreicht wurde, auch darum kämpfen wir um jeden Arbeitsplatz. Bislang ist es uns gelungen, die Auswirkungen dieses konjunkturellen Einbruchs auf unseren Arbeitsmarkt im Griff zu behalten. Das ist keine Selbstverständlichkeit, sondern eine Folge beherzten politischen Anpackens. Vergleiche mit unseren europäischen Nachbarn machen das in beeindruckender Weise sichtbar.

Herzstück unseres Handelns ist die Kurzarbeit. Mit ihr haben wir all die düsteren Arbeitsmarkt-prognosen klar widerlegt und ein paar hunderttausend Arbeitsplätze gerettet. Gerade auch in der Krise sagen wir: Alle sollen Arbeit haben. Unser Ziel ist Vollbeschäftigung. Wir waren dabei auf einem guten Weg. Aber wir sagen auch: Wir wollen gute Arbeit für die Menschen. Arbeit, die nicht krank macht. Arbeit auch für Ältere.

Und vor allem auch Arbeit, von der man leben kann. Niemand, der Vollzeit arbeitet, darf gleichzeitig auf staatliche Sozialleistungen angewiesen sein müssen. Leistung muss sich lohnen diese Forderung ist richtig. Aber das bedeutet nicht, dass der Spitzensteuersatz sinken müsste, wie manche meinen, sondern dass in allen Berufen und Branchen ordentliche Löhne gezahlt werden. Dafür brauchen wir mehr Mindestlöhne zum Beispiel auch in der wachsenden Zeitarbeitsbranche.

Meine Damen und Herren,

in Deutschland sind seit fast drei Jahrzehnten Millionen Menschen ohne Arbeit.

Viele in Politik und Wirtschaft haben sich bis heute mit dieser Situation arrangiert, weil sie glauben, dass das unabänderlich sei.

Das ist ein Irrglaube, der verhängnisvoll auch deshalb ist, weil er die eigentliche Herausforderung verdeckt, vor der wir in den kommenden beiden Jahrzehnten stehen:

Überall werden qualifizierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer fehlen. Darum sind die Themen Bildung und Ausbildung Schlüsselthemen für Deutschland. Kein Jugendlicher darf ohne Berufsausbildung oder Abitur ins Arbeitsleben gehen!

60.000 junge Leute, die Jahr für Jahr ohne Schulabschluss die Schule verlassen, sind nicht naturgegeben. Hier müssen wir ran. Und zwar ohne Zuständigkeitsstreit! Ich will raus aus den Blockaden zwischen Bund, Ländern und Gemeinden. Für bessere Kindergärten, mit gezielter Schulvorbereitung und Sprachförderung, für mehr und bessere Ganztagsschulen, für mehr Sozialarbeit in den Schulen. Den Zusammenhang von Qualifikation und Arbeitsmarktchancen kann jeder aus den aktuellen Statistiken herauslesen:

Rund 500.000 Arbeitslose haben keinen Schulabschluss. Etwa ein Drittel der Langzeitarbeitslosen verfügt über keinen Berufsabschluss.

Und dann haben wir Hunderttausende von Jugendlichen, die oft über Jahre hinweg vergeblich einen Ausbildungsplatz suchen. Wir lassen zu, dass uns diese jungen Menschen verloren gehen. Dass sie resigniert feststellen müssen: Wir haben doch keine Chance.

Das kann man nicht einfach mit einem Schulterzucken zur Kenntnis nehmen. Um diese jungen Leute müssen wir uns kümmern, ihnen Lehrstellen anbieten, ihnen immer wieder neue Angebote machen, eine zweite und wenn notwendig auch dritte Chance geben. Das ist möglich, wenn die Unternehmen nicht vorschnell abwinken, wenn sie auch diejenigen unter ihre Fittiche nehmen, die nicht die besten Noten haben, wenn wir im Ausbildungspakt dazu zu festen Verabredungen kommen. Dafür setze ich mich weiter ein.

Meine Damen und Herren!

Eine neue Epoche des WIR statt des ICH das ist es, was wir anstreben.

WIR statt ICH, miteinander statt Ellbogen, das heißt: Niemand darf am Wegesrand zurückbleiben. Wir stehen solidarisch füreinander ein und helfen denen, die alleine nicht klar kommen.

WIR statt ICH, das heißt aber auch: Wir wollen, dass alle Bürgerinnen und Bürger ihr Leben selbstbestimmt und aus eigener Kraft meistern können.

Gute und gleiche Chancen auf Bildung und Ausbildung, gute und fair bezahlte Arbeit, das Versprechen, durch Anstrengung etwas erreichen zu können das alles gehört unbedingt dazu.

Nichts davon versteht sich von selbst. Immer brauchen wir die, die mit streiten und mit anpacken, wenn es gilt, aus dem ICH ein WIR zu machen.

Die Magdeburger Stadtmission ist ein solcher Mitstreiter mit ihrer Tradition verbunden, in der Gegenwart zu Hause, dem Dienst am Menschen und der Mitmenschlichkeit verpflichtet.

Gratulieren und vor allem von ganzem Herzen danken möchte ich heute all denjenigen, die sich dabei engagieren.

Ich danke Ihnen für Ihr vorbildliches Tun, mit dem Sie dazu beitragen, unser Land im Alltag gerechter und menschlicher zu machen.

Ich wünsche Ihnen weiterhin Mut und Zuversicht und auch Freude an Ihrem Engagement. Wir brauchen es dringender denn je!