"Hamburger Abendblatt": Herr Scholz, könnten wir dieses Gespräch auf Französisch führen?
Olaf Scholz: Nein, mein Französisch ist dafür nicht gut genug. In der Schule hatte ich Lateinunterricht.Ich habe in der Vergangenheit zwei Anläufe unternommen, die Sprache zu erlernen. Letztlich fehlte mir die Zeit für ein intensives Sprachtraining.
"Hamburger Abendblatt": Das kommt uns entgegen. Nun im Ernst: Sie sind seit zwei Jahren quasi der Frankreich-Minister der Bundesregierung und pflegen auch als Bürgermeister die engen Beziehungen Hamburgs zu dem Land. Wie groß sind Ihre Sorgen mit Blick auf die Wahl am Sonntag?
Olaf Scholz: Ich bin optimistisch, dass die Franzosen eine kluge Entscheidung treffen werden und Marine Le Pen keine Chance hat, die nächste Präsidentin zu werden. Mich bestärkt zudem, dass sich mit Emmanuel Macron und François Fillon zwei relevante Kandidaten für Europa und die Freundschaft zu Deutschland ausgesprochen haben.
"Hamburger Abendblatt": Was würde es auslösen, wenn mit Marine Le Pen erstmals eine Rechtsextreme Oberhaupt eines bedeutenden europäischen Staates werden würde?
Olaf Scholz: Es wird zu viel spekuliert. Ich erlaube mir den Hinweis, dass auch vor der Wahl in den Niederlanden lange so getan wurde, als ob ein rechtspopulistischer Kandidat vor einer alleinigen Mehrheit stünde, obwohl ihm lediglich Wahlergebnisse von 20 Prozent vorausgesagt wurden. Nicht einmal die hat er bekommen.
"Hamburger Abendblatt": Nehmen wir trotzdem an, Marine Le Pen wird künftige französische Präsidentin. Was bedeutete das für Europa?
Olaf Scholz: Das wäre sicherlich ein tiefer Einschnitt, und deshalb ist es gut, dass es wahrscheinlich nicht dazu kommen wird. Wir verdanken Frankreich die Ideen der Aufklärung, die Europäische Union wäre ohne die französische Nation nicht vorstellbar.
"Hamburger Abendblatt": Stimmen Sie also zu, dass die EU ohne die deutsch-französische Achse am Ende wäre?
Olaf Scholz: Deutschland und Frankreich sind zentral für das europäische Projekt, sozusagen ihre Anker. Deshalb ist meine Aufgabe als Bevollmächtigter der Bundesregierung für die kulturellen Beziehungen von so großer Bedeutung. Es gibt vielfältige und sehr enge Verbindungen zwischen beiden Ländern. Auch Hamburg und Marseille pflegen zum Beispiel schon seit 1958, meinem Geburtsjahr, eine Städtepartnerschaft.
"Hamburger Abendblatt": Frankreich ist in Euro gerechnet Hamburgs größter Handelspartner. Wäre der von Frau Le Pen angestrebte EU-Austritt des Landes für Hamburg eine Katastrophe?
Olaf Scholz: Ein EU-Austritt Frankreichs wäre nicht nur für Hamburg, sondern für ganz Europa schlecht. Ich sehe aber nicht, dass die Mehrheit der Franzosen die Europäische Union verlassen will. Auch viele jener Franzosen, die Frau Le Pen wählen wollen, sind für den Euro und die EU.
"Hamburger Abendblatt": Wie wird die Wahl am Ende ausgehen?
Olaf Scholz: Mit Blick auf meine Rolle als Bevollmächtigter möchte ich da keine Prognose abgeben. Aber ich verrate sicher kein Geheimnis, wenn ich sage, dass die Chancen von Herrn Macron groß sind. Wir kennen uns aus seiner Zeit als Minister: ein sehr freundlicher, aufgeschlossener und moderner Mann.
"Hamburger Abendblatt": Macron und andere Kandidaten kritisieren Deutschland massiv für seinen Handelsüberschuss. Zu Recht?
Olaf Scholz: Ich halte die Kritik zwar nicht für angebracht, aber wir werden ihr nicht ausweichen können. Der Außenhandelsüberschuss Deutschlands wird getragen von einem sehr breiten Mittelstand. Hierzulande gibt es Tausende kleinere Unternehmen, die auf dem Weltmarkt erfolgreich sind. Hinzu kommt eine leistungsfähige Großindustrie. Die eigentliche Ursache für den Überschuss ist also die hohe Wettbewerbsfähigkeit im globalen Maßstab und nicht so sehr, welche Rolle unser Land innerhalb der EU spielt.
"Hamburger Abendblatt": Ist denn der Außenhandelsüberschuss überhaupt staatlich regulierbar, wie in Frankreich, aber auch von US-Präsident Trump unterstellt wird?
Olaf Scholz: Ich halte das für wenig steuerbar. Die Möglichkeit einer politischen Einflussnahme auf den Außenhandel eines Landes, der ja die Summe der Erfolge seiner Unternehmen wiedergibt, ist gering. Nehmen Sie den Hamburger Hafen: Was hier an Konsumgütern aus China, Indien, Bangladesch oder Vietnam umgeschlagen wird, kann nirgendwo in Europa zu Preisen produziert werden, die die Kunden zu bezahlen bereit sind. Das als Staat verändern oder regulieren zu wollen, ist nicht möglich.
"Hamburger Abendblatt": Deutschland könnte seine Handelsbilanz auch ausgleichen, indem es selbst mehr investieren würde.
Olaf Scholz: Über solche Forderungen aus dem Ausland, dass wir als Staat mehr in unsere Infrastruktur investieren sollen, müssen wir uns nicht ärgern. Das würde ja auch unsere Leistungsfähigkeit verbessern. Richtig war es auch, den Mindestlohn einzuführen. Das hat sichergestellt, dass es nicht ausgerechnet aus Deutschland Billiglohnkonkurrenz für europäische Nachbarn gibt. Das gab es, darf aber nicht sein.
"Hamburger Abendblatt": Die wohl engste wirtschaftliche Verbindung zwischen Hamburg und Frankreich besteht über das Airbus-Werk. Könnte ein neues Staatsoberhaupt in Paris an dieser erfolgreichen Zusammenarbeit rütteln?
Olaf Scholz: Das glaube ich nicht, zumal ich ja mit einem Wahlausgang rechne, der das deutsch-französische Verhältnis eher stärken wird. Airbus ist ein wettbewerbsfähiger Konzern mit den größten Standorten in Toulouse und Hamburg. Das wird so bleiben.
"Hamburger Abendblatt": Was sind nach Ihrer Wahrnehmung aus Ihrer Sicht die Gründe für die wirtschaftlichen Probleme Frankreichs, die mit zum Aufstieg des Front National geführt haben?
Olaf Scholz: Wir sollten bei der Bewertung der Leistungsfähigkeit anderer Volkswirtschaften zurückhaltend sein. Ich erinnere daran, wie über Deutschland vor den Reformen von Kanzler Gerhard Schröder gesprochen wurde. Wir hatten keine gute Ausgangsposition. Wir haben mit seiner Reformpolitik etwas dagegen getan, was unsere Lage sehr schnell verbessert hat.
"Hamburger Abendblatt": Was jetzt in Frankreich zum Teil als Vorbild gilt ...
Olaf Scholz: Ich bin überzeugt, dass wir mit aller Kraft junge Leute in den Arbeitsmarkt integrieren müssen. Daher war ich bewegt, als die führenden Zeitungen und Fernsehsender Frankreichs uns hier in Hamburg besucht haben, um das deutsche Modell der dualen Berufsausbildung und die Hamburger Jugendberufsagentur kennenzulernen. Die französische Politik hat erkannt, dass so die Jugendarbeitslosigkeit und die Perspektivlosigkeit von Teilen der jungen Generation reduziert werden kann.
"Hamburger Abendblatt": Inwiefern sind die Entwicklungen in französischen Großstädten mit unseren Verhältnissen vergleichbar?
Olaf Scholz: Eine besondere Herausforderung in Frankreich sind die sozial abgehängten Vorstädte, die sogenannten Banlieues, die oft sehr weit draußen liegen. In den innerstädtischen Bereichen von Paris zu leben, ist für viele Menschen gar nicht möglich. Wir in Hamburg wollen dagegen eine Stadt sein, die wirtschaftlich boomt, in der aber das Wohnen und Leben dennoch bezahlbar bleiben. Wenn uns das gelingt, wäre es einmalig in Europa.
"Hamburger Abendblatt": In Frankreich ist ein großer Teil der Gesellschaft schon lange abgehängt. Auch bei uns greift die Angst vor sozialem Abstieg zunehmend um sich. Gleichzeitig erstarkt mit der AfD eine rechte Partei, die dem FN ähnelt.
Olaf Scholz: Die AfD hat ihren Zenit wohl überschritten.
"Hamburger Abendblatt": Liegen dem denn die gleichen Probleme zugrunde?
Olaf Scholz: Die Bedingungen in unseren beiden Ländern sind unterschiedlich. Aber es gibt eine Gemeinsamkeit in allen klassischen Industriestaaten, sonst könnte man sich weder den Brexit noch die Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der USA erklären: Wir erleben seit den achtziger Jahren eine Wachstumsschwäche. Das Gefühl, dass es für alle stetig besser wird, ist abhandengekommen. Dass wir in Deutschland Mindestlöhne einführen mussten, was für vier Millionen Arbeitnehmer eine Lohnerhöhung bedeutete, ist ein Beleg dafür, dass auch bei uns nicht alles gut ist. Wir müssen uns dafür verantwortlich fühlen, dass alle Bürgerinnen und Bürgern klarkommen.
"Hamburger Abendblatt": Was bedeutet der Verzicht von Frau Frauke Petry auf eine Spitzenkandidatur für die AfD?
Olaf Scholz: Schwer zu sagen. Machtkämpfe in rechtspopulistischen Parteien sind nicht ungewöhnlich. Das gilt auch für die Unversöhnlichkeit, mit der sie ausgefochten werden. Es kann schon sein, dass die AfD den nächsten Bundestag nicht erreicht. Schlecht für Deutschland wäre das nicht.
"Hamburger Abendblatt": Verstehen Ihre Freunde in Frankreich, wenn Sie sagen: Macht keine Fisimatenten?
Olaf Scholz: Glaube ich nicht. Das ist ein so hamburgisches Wort, obwohl es vom Französischen abstammt. (Anm. d. Red: Visite ma tente sollen französische Soldaten Anfang des 19. Jahrhunderts gerufen haben, um die Hamburgerinnen in ihr Zelt zu locken) Aber vielleicht werde ich es mal versuchen schließlich waren wir zur Zeit der napoleonischen Besetzung mal ein französisches Département.
Das Interview führten Andreas Dey und Oliver Schirg.