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07.11.2015

Interview mit der FAZ

 
FAZ: Die große Koalition hat ihren Streit über die Transitzonen beigelegt. War der Streit im Lichte dieser Einigung überhaupt nötig, Herr Scholz?
 
Olaf Scholz: Nein.
 
FAZ: Sind wir dadurch einer Bewältigung der Flüchtlingskrise näher gekommen?
 
Olaf Scholz: Wir haben weitere Fortschritte gemacht. Das gilt neben der geplanten zügigen Verhandlung der Asylanträge aus sicheren Herkunftsländern vor allem für die neue Organisationseinheit des Bundes zur Passbeschaffung und für die einheitliche IT und den Ausweis für Flüchtlinge.
 
FAZ: Was verunsichert die Menschen derzeit mehr: Die Tatsache der Zuwanderung oder die Sorge, dass die Politik die Herausforderung nicht in den Griff bekommt?
 
Olaf Scholz: Beides. Die Bürgerinnen und Bürger wollen schon wissen, wie es mit den Zuwanderungszahlen weitergeht. Sie schauen aber ebenfalls darauf, ob die Verantwortlichen im Land in der schwierigen Lage die Kontrolle behalten oder wiederherstellen. Wir haben es allerdings mit Verfahren zu tun, die eigentlich nicht dafür gemacht sind, dass es schnell geht. Das ist ja die große Herausforderung. Wir haben die erforderlichen Gesetze und Vorschriften, aber wir müssen schneller handeln als sonst. Übrigens: am besten wäre es, wenn wir ohne allzu viel parteipolitischen Zank vorankommen. Sowohl im August als auch jetzt ist uns das ja mit wichtigen Gesetzespaketen gelungen, an denen in Bund und Ländern nicht nur Union und Sozialdemokraten beteiligt waren, sondern auch Grüne und die Partei Die Linke. Es wäre schön, wenn es bei dieser Disziplin bleiben würde. 
 
FAZ: Warum haben Deutschland und Europa die Brisanz des Themas nicht früher gesehen?
 
Olaf Scholz: Haben wir das nicht? Die meisten wussten doch, dass wir große Flüchtlingsströme in der Welt haben, dass die weltweiten Krisen uns alle angehen. Es ist aber nicht plausibel, dass man hätte vorhersehen können, welch große Zahl von Flüchtlingen sich plötzlich nach Europa aufmacht. Schon gar nicht, dass sie sich insbesondere auf drei Zielländer konzentrieren würden, wie das jetzt der Fall ist.
 
FAZ: Haben wir das Thema nicht zu lange als griechisches oder italienisches Problem angesehen? Hätten wir nicht schon früher sagen können: Das Dublin-System funktioniert nicht mehr?
 
Olaf Scholz: Das ist richtig. Ich habe vor mehr als einem Jahr in einer Rede im Hamburger Thalia-Theater gesagt, damals noch unter dem Stichwort Lampedusa, das Dublin-III-Verfahren werde keinen Bestand haben auch wenn noch nicht sicher sei, wie ein Dublin IV aussehen werde. Schon damals war klar: Europa muss gemeinsam Verantwortung für die Flüchtlinge übernehmen und wie in Deutschland ein System einführen, das die Flüchtlinge nach Bevölkerungszahl und Wirtschaftskraft unter den Ländern verteilt. Man muss allerdings zugeben, dass es schwieriger ist, einem Flüchtling in Amsterdam zu vermitteln, dass sein Verfahren in Bukarest laufen wird, als einen Flüchtling, der in Bremen ankommt, nach Augsburg zu verweisen. Mein Vorschlag lautet daher: Wir sollten darüber nachdenken, ob wir die geltenden Prinzipien der Freizügigkeit, von denen 500 Millionen EU-Bürger profitieren, dafür nutzen, eine gemeinsame Verantwortlichkeit aller EU-Staaten zu entwickeln. Unser Ziel muss es sein, mehr Staaten dafür zu gewinnen, mehr Flüchtlinge im eigenen Land zu akzeptieren, und auch mehr Flüchtlinge zu überzeugen, in Länder zu gehen, die nicht ihr eigentliches Wunschland sind.
 
FAZ: Wie soll das gehen?
 
Olaf Scholz: Um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir den Flüchtlingen Folgendes sagen: Ihr müsst zwar das Asylverfahren in dem Land durchführen, dass euch zugewiesen wurde. Im Gegenzug erhaltet ihr aber im Fall eurer Anerkennung als Flüchtling ähnliche Freizügigkeitsrechte wie ein EU-Bürger. Das heißt, ein anerkannter Flüchtling kann sich anderswo nach Arbeit umsehen. Hat er dort Erfolg, kommt er in das angestrebte Land. Wenn nicht, bekommt er dort auch keine Leistung. So funktioniert es ja für 500 Millionen EU-Bürger. Nicht völlig problemlos, aber ohne allzu große Schwierigkeiten. Bisher geht das nicht, da müssten die Flüchtlinge fünf Jahre warten.
 
FAZ: Wann werden wir eine gemeinsame Asylpolitik haben?
 
Olaf Scholz: Ich empfehle uns ein bisschen Demut: Als die Zahl der Flüchtlinge in Spanien und Italien sehr hoch war, stand Deutschland auch nicht in der ersten Reihe bei der Problemlösung.
 
FAZ: Die Kanzlerin sagte: Scheitert der Euro, scheitert Europa. Sagen Sie: Scheitert Schengen, scheitert Europa?
 
Olaf Scholz: Schengen ist eine der ganz großen Errungenschaften. Genau wie den Euro, müssen wir Schengen zukunftsfähig machen und verteidigen. Ich zähle nicht zu den Leuten, die in pessimistischen Formulierungen reden.
 
FAZ: Wie stellen Sie sich denn die deutsche Außengrenze zukünftig vor, etwa die zu Österreich?
 
Olaf Scholz: So wie bisher. Niemand will doch die Freizügigkeit missen. Wenn wir nach Österreich fahren wollen oder zurück, dann wollen wir ohne Grenzkontrollen durchfahren.
 
FAZ: Also keine Zäune und auch keine Zurückweisungen in das sichere Drittland Österreich?
 
Olaf Scholz: Keine Zäune. Ansonsten gilt das europäische Regelwerk. Dazu gehört die Möglichkeit der Zurückweisung eines Asylsuchenden in das sichere Drittland, aus dem er kommt, wenn er die Bedingungen für eine Einreise nach Deutschland nicht erfüllt. Das sieht das Dublin-Verfahren vor, und das ist nach wie vor geltendes Recht. Allerdings wird auf Dublin III bald ein Dublin IV folgen müssen, weil wir die große Herausforderung gemeinsam bewältigen müssen. Wenn wir jetzt alle Flüchtlinge zurückweisen und Österreich weist sie ebenfalls zurück, dann bleiben alle Menschen, die über die Balkanroute kommen, in dem kleinen Land Slowenien, nur weil sie dort den Schengen-Raum betreten haben. Das geht doch nicht.
 
FAZ: Und wie sieht künftig die europäische Außengrenze aus?
 
Olaf Scholz: Es handelt sich um sichtbare Grenzen, deshalb gibt es dort auch schon mal Zäune und Grenzpolizei. Die Grenze muss sicher sein mal mit, mal ohne Zaun. Die Grenze muss aber legal überwindbar sein, auch für Leute, die Schutz vor Verfolgung und Krieg suchen. 
 
FAZ: Dabei wird auch die Türkei eine große Rolle spielen müssen. Was sind Sie bereit, Ankara  im Gegenzug zu geben?
 
Olaf Scholz: Die Türkei hat eine Beitrittsperspektive. Auch wenn es nicht um heute oder morgen geht. Deshalb ist es vernünftig, mit Ankara darüber zu sprechen, wie man manche Dinge, etwa Visaerleichterungen, jetzt schneller vorabringen kann.
 
FAZ: Sie sind 2011 zum Ersten Hamburger Bürgermeister gewählt worden, in dem Jahr, als in Syrien der Bürgerkrieg ausbrach. Welche Rolle spielte damals das Thema Asyl in ihrer täglichen Arbeit?
 
Olaf Scholz: Eine sehr kleine. Wir hatten eine Erstaufnahmeeinrichtung, in der Platz für 400 Asylsuchende war. Das war vor vier Jahren genug. Wir diskutierten darüber, ob es ein Problem sei, dass wir eine Unterkunft außerhalb Hamburgs zusammen mit Mecklenburg-Vorpommern betrieben. Aus heutiger Sicht eine unvorstellbare Diskussion.
 
FAZ: Wie viele Erstaufnahmeplätze hat Hamburg heute?
 
Olaf Scholz: Mehr als 18.500. Und in der Folgeunterbringung haben wir noch einmal über 15.000 Plätze. Da kann man sehen, was die Stadt mit ihren Mitarbeitern und den Bürgerinnen und Bürgern auf die Beine gestellt hat. Ganz einfach ist das nicht, gänzlich ohne Friktionen geht es auch nicht. 
 
FAZ: Sie sind Chefunterhändler der sozialdemokratischen Seite für die Neuordnung der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern. Beschleunigt die Diskussion über die Flüchtlingskrise die Reform des Länderfinanzausgleichs? 
 
Olaf Scholz: Es ist unverändert so, dass eine Einigung auf die Neuordnung der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern möglich ist. Das kann sehr bald geschehen. 
 
FAZ: Was heißt sehr bald?
 
Olaf Scholz: Jedenfalls nicht erst in ein oder zwei Jahren. Es kann sofort sein, die Lösung ist sichtbar. Aber es kann auch noch eine Weile dauern, wenn wir uns verhaken.
 
Das Interview führten Eckart Lohse und Majid Sattar.