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06.11.2015

Grußwort: Verleihung des Journalistenpreises des Weißen Ringes e.V.

 

Sehr geehrte Frau Müller-Piepenkötter,
sehr geehrte Preisträgerinnen und Preisträger,
meine sehr geehrten Damen und Herren,

Menschen können Musik machen und Brücken bauen aber sie sind auch gewalttätig und begehen Verbrechen. Auch wenn wir es bedauern, es hilft nicht zu leugnen, dass der Mensch, anthropologisch gesehen, die mentale Fähigkeit hat, anderen Menschen Gewalt anzutun. Jan Philipp Reemtsma, der die Grundzüge einer Theorie der Gewalt entwickelt hat, unterscheidet drei Formen der Gewalt: Gewalt, um etwas zu erreichen, Gewalt um die andere Person zu erniedrigen (und sich zu erhöhen) und Gewalt, die darauf zielt, die andere Person zu benutzen. In allen drei Formen verletzt Gewalt das Gebot, das Immanuel Kant in der Selbstzweckformel ausgedrückt hat: Die Menschheit sowohl in der eigenen Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel zu betrachten.

Es gehört zu den großen zivilisatorischen Errungenschaften der Moderne, die Gewalt reduziert und in friedliche Formen der Kommunikation überführt zu haben. Gewalt als Interaktion der Obrigkeit mit den Bürgern, Gewalt als Erziehungsmittel der Erwachsenen gegenüber Kindern und Gewalt von Männern gegenüber Frauen ist sukzessive eingehegt und reduziert worden.

Wir leben in einem Land mit einem weitgehend sicheren Gemeinwesen, unsere Institutionen funktionieren. In der Regel ist der öffentliche Raum weder von Angst noch von Gewalt geprägt. Wer viel reist oder ab und zu Besuch aus dem Ausland hat, weiß, wie es in anderen Ländern aussieht. Dennoch, auch bei uns in Deutschland gibt es unzählige Gewaltverbrechen und kriminelle Übergriffe. Darf man die Hoffnung haben, die Gewalt weiter zu reduzieren? Ja, man muss: Wir müssen am Gewaltmonopol des Staates festhalten, das moderne Strafrecht weiter entwickeln und den Opferschutz stärken. Opferschutz ist das dritte Element im zivilisatorischen Bemühen um die Reduzierung von Gewalt. Die Arbeit des Weißen Rings zeigt das seit vielen Jahren, in ganz Deutschland und in hervorragender Weise.

Opfer von Gewalt können auf den Weißen Ring zählen. Die Leistungen des Vereins und der Mitarbeiter sind bemerkenswert: Sie werfen den Rettungsring aus, bieten Beratung, Trost und materielle Hilfe. Das war meine Rettung, heißt eine Serie im Magazin der Wochenzeitschrift Die Zeit. Das war meine Rettung, das sagen in Deutschland Tausende über den Weißen Ring.

Die meisten der rund 3.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind ehrenamtlich tätig, sind einfach da, wenn sie gebraucht werden. Rechtsanwälte, Psychologen, Sozialpädagogen und ehemalige Polizeibeamte schenken dem Verein ihre Kompetenzen und der Verein hilft auch seinerseits stets unentgeltlich. Der Gewinn der Arbeit des Weißen Rings gilt der Gesellschaft.

Zu dem Gewinn, den wir Ihnen zu verdanken haben, gehört auch die Antwort auf die Frage, die wir von Plakaten auf der Straße oder in U-Bahnen kennen: Wenn alle den Verbrecher jagen, wer bleibt dann eigentlich beim Opfer? Sie mahnt an, die Opferperspektive nicht zu vergessen. An die Unterstützung der Opfer nicht weniger zu denken, als an die Verfolgung der Täter, das ist ein Gebot der Gerechtigkeit. Diese Perspektive hat der Weiße Ring wiederholt mit Erfolg eingefordert. Sie sind eine starke Stimme für die Opfer. Tage wie heute sind eine gute Gelegenheit, denen, die sich im Weißen Ring engagieren, ein Stück Dank zurück zu geben. Ihre Arbeit verdient große Anerkennung!

Ich freue mich, dass Sie nach Hamburg gekommen sind. Zum fünften Mal findet hier die Verleihung des Journalistenpreises des Weißen Rings statt. Sehr gerne habe ich die Schirmherrschaft für diese wichtige Veranstaltung übernommen. Hamburg ist ein guter Ort für dieses Thema. Denn wir sind eine Medienhauptstadt und wir haben ein sowohl breites als auch differenziertes Opferberatungs- und Opferschutzsystem. Auf allen Ebenen arbeiten behördliche Dienststellen und Träger eng zusammen. Allein die Tatsache, dass unter Federführung der Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration mehrere Ressorts Opferschutz und Opferhilfe begleiten, spiegelt die Bedeutung dieser Aufgabe für die Stadt wider.

Und wir haben einen sehr aktiven Landesverband des Weißen Rings. Die gute Vernetzung mit allen Fachgremien und die kurzen Wege der Hilfssysteme tragen dazu bei, dass der Hamburger Landesverband besonders aktiv ist und viele Projekte angestoßen hat. So etwa das zur Gewaltprävention aus der Opferperspektive, das vor zwei Jahren beim Wettbewerb Aktiv für Demokratie und Toleranz prämiert wurde.

Meine Damen und Herren,
Frauen, Männern und Kinder, die Opfer von Gewalttaten wurden, stehen umfassende Hilfen zu. Trotzdem scheuen sich viele, diese in Anspruch zu nehmen. Ja, dass es Unterstützung gibt und dass jedes Opfer einen Rechtsanspruch auf professionelle Prozessbegleitung hat, ist vielen gar nicht bekannt. Eine öffentliche Aufmerksamkeit für die Opferperspektive heißt, auch darüber aufzuklären: Zu zeigen, dass sich niemand schämen muss, professionelle Hilfen in Anspruch zu nehmen, egal welches Geschlecht, egal welches Alter, egal wie es passiert ist.

Die Opferperspektive ist auch in der Gesetzgebung wichtig. Hier gab es in den letzten Jahren weitere Fortschritte im Strafverfahren. Und der Täter-Opfer-Ausgleich ist ein wichtiges Instrument, um Opfern bei der schwierigen Verarbeitung des Erlebten zu helfen. Durch das Opferentschädigungsgesetz ist es möglich, dass auch die Personen Schmerzensgeld und materielle Entschädigung bekommen, die das nicht gegenüber den Tätern einfordern können.

Im kommenden Monat tritt die EU-Richtlinie über die Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten in Kraft. Das sich daran anschließende Opferrechtsreformgesetz wird gerade im Bundestag beraten und voraussichtlich noch in diesem Herbst verabschiedet. Für die Opfer von Straftaten ist diese Reform mit enormen Verbesserungen verbunden: Sie werden mehr Rechte haben und noch mehr Unterstützung durch die Strafverfolgungsbehörden, Dolmetscher und Prozessbegleiter erhalten.

Meine Damen und Herren,
Gewalt ist mit einer starken Faszination verbunden. Über Jahrhunderte wurden private und staatliche Gewalt öffentlich zelebriert. Auch im friedlichen und modernen Rechtsstaat löst Gewalt Interesse aus. Journalisten horchen auf, wenn die Gewaltstatistik steigende Zahlen meldet. Sinkende Zahlen scheinen weniger interessant zu sein. Es gehört zu den besonderen Verdiensten des Weißen Rings, die Bedeutung der Opferperspektive in der Berichterstattung auf die Agenda gesetzt zu haben.

Journalistinnen und Journalisten wollen aufklären. Bei Berichten über Verbrechen ist personal touch gefragt. Das ist eine ambivalente Situation. Denn der Kampf um die Aufmerksamkeit für die Situation der Betroffenen ist wichtig. Opfer brauchen ein klares Signal der Solidarität, dazu gehört, dass Taten und Daten nicht verschwiegen werden. Aber die mediale Aufmerksamkeit ist nicht immer sensibel. Je spektakulärer das Verbrechen, desto mehr löst die Geschichte den Drang aus, mehr zu erfahren und weiter in die Privatsphäre einzudringen. Schnell besteht die Gefahr, dass Bilder oder Namen veröffentlicht werden und das Leid der Betroffenen brachial ins Licht der Öffentlichkeit gezogen wird. Eine Berichterstattung kann eine erneute Verletzung, ja sogar wie ein zweiter Überfall sein.

Die Hamburger Polizei kennt das: Immer wieder sind die Beamten vor Ort mit Anfragen konfrontiert, für Medien den Kontakt zu Opfern herzustellen. Die Polizei Hamburg geht mit diesen Ansinnen sehr restriktiv um, verweist auf Opferhilfeeinrichtungen wie den Weißen Ring und stellt sicher, dass sowohl dem Informationsbedürfnis der Allgemeinheit als auch dem Schutz der Opfer Rechnung getragen wird.

Gewalt macht sprachlos heißt es oft. Sprachlos, das sind vor allem die, die Gewalt erlebt haben. Sie sprechen ungern darüber, weil sie das Erlebte ungeschehen machen wollen. Scham und Zweifel machen einsam, für viele scheint Verdrängung das Mittel der Wahl. Gewalt zeichnet die Opfer: Oft begleiten Angst, Depressionen oder der Drang nach Rache die Betroffenen über Jahre.

Meine Damen und Herren,
Carolin Emcke gehört zu den Journalistinnen, die den Zusammenhang von Gewalt und Sprachlosigkeit schreibend erforschen. Weil es sagbar ist, hat sie ihr jüngstes Buch, eine Essaysammlung, überschrieben. Weil es sagbar ist ist die Aufforderung, nicht zu schweigen und sich die Mühe zu machen, die richtigen Worte zu finden. Es ist schwer - schwer für die Betroffenen, für die Schreibenden und für die, die es lesen. Dennoch ist das Schreiben und das Berichten über die, die Gewalt erfahren haben, notwendig. Es ist ein Teil der Aufklärung. Es gehört zum Beitrag des Journalismus für Frieden und Gewaltlosigkeit.

Sensible Berichterstattung ist nicht einfach. Für die Opfer wäre es oft besser, wenn mit zeitlicher und räumlicher Distanz erzählt wird. Aber News wollen tagesaktuell sein. Wichtig wären einfühlsame Berichte: Was braucht ein älterer Herr, der Opfer einer Gewalttat geworden ist? Können Nachbarn dazu beitragen, dass häusliche Konflikte nicht eskalieren? Wie finden Frauen, die Opfer von Stalking geworden sind, wieder in einen normalen Alltag? Öffentliche Aufmerksamkeit kann helfen. Aber das gelingt nur, wenn die Berichte die Perspektive des Opfers aufnehmen und sie dann auch wieder verlassen: Personen müssen in ihrer Vielfalt und Einzigartigkeit gesehen werden sie dürfen nicht als Opfer festgeschrieben werden.

Journalistinnen und Journalisten müssen mit Worten und Bildern dem Unrecht zu Leibe rücken. Sie sind gefordert, die Würde derer, die Opfer von Gewalt geworden sind, wiederherzustellen.


Der Journalistenpreis des Weißen Rings ist ein Ansporn für Medien, die Gewalt und die Geschichten derer, die darunter leiden, mit den Mitteln des aufgeklärten Journalismus aufzuspüren.

Das zu schaffen ist im eigentlichen Wortsinn eine gute Story.

Vielen Dank!

 

Es gilt das gesprochene Wort.