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19.01.2005

Interview - Politik & Gesellschaft: Studentisches Journal der Bucerius Law School

Interview - Politik & Gesellschaft: Studentisches Journal der Bucerius Law School

PuG: Heute äußerte sich UN-Generalsekretär Kofi Annan erstmals eindeutig zum Irakkrieg aus völkerrechtlicher Perspektive: Er erklärte den Feldzug der durch die USA angeführten Koalition der Willigen als eindeutig völkerrechtswidrig. Die erste Frage daher an Sie als Juristen: Brach Herr Bush mit dem Angriff des Iraks geltendes Recht?
 
Olaf Scholz: In Deutschland waren die meisten der Ansicht, dass der Krieg gegen den Irak mit den Traditionen des Völkerrechts nicht zu vereinbaren war. Ich drücke mich deshalb so vorsichtig aus, weil anders als viele meinen - das Völkerrecht ja nicht einen Normgesetzgeber kennt, sondern sich auch durch faktisches Handeln ständig ändert. Wir waren in Deutschland davon ausgegangen, dass das Ziel des Regierungswechsels, des regime change, nach bisherigem völkerrechtlichen Verständnis nicht akzeptiert werden kann. Für diese Ansicht gibt es nach wie vor gute Gründe. Zwar haben die demokratischen Staaten der Welt gegenwärtig sehr viel wirtschaftliche und militärische Macht. Sie könnten ihr Verständnis von dem, was gute Regierung bedeutet, deshalb mit großem Nachdruck vertreten. Aber trotzdem bleibt es zu gefährlich für den Weltfrieden, den regime change für einen zulässigen Kriegsgrund zu halten. Wir hatten, als die Frage zu entscheiden war, ob wir im Kosovo-Konflikt intervenieren, gesagt, Völkermord ist ein Eingriffsgrund. Deshalb war auch eine out-of-area-Aktivität der Bundesrepublik Deutschland gerechtfertigt. Gerechtfertigt war auch unsere Unterstützung der USA in Afghanistan, denn es ging um eine Reaktion auf einen Angriff, der mit Deckung der damaligen afghanischen Regierung auf die Vereinigten Staaten von Amerika stattgefunden hatte. Dort mussten und wollten wir unserem Bündnispartner selbstverständlich beistehen. Nur im Fall Irak lagen Gründe, die eine militärische Aktion hätten rechtfertigen können, nicht vor. Regime change war aus den erwähnten Gründen für uns nicht akzeptabel. Der zweite zur Begründung des militärischen Eingreifens damals herangezogene Grund, nämlich dass der Weltfrieden oder die Nachbarn durch Massenvernichtungswaffen des Irak bedroht gewesen wären, war nach unseren Erkenntnissen nicht gegeben. Unsere Erkenntnisse haben sich ja auch bewahrheitet.

PuG: Aber eben dies ließ sich doch so von vornherein gar nicht ausschließen. Schließlich gab es Berichte auch des deutschen Nachrichtendienstes, denen zufolge sehr wohl eine, wenn auch nicht akute, Gefahr durch Massenvernichtungswaffen vom Irak ausging. Zudem: War der Eingriffsgrund Völkermord nicht auch im Fall des Iraks erfüllt? Tausende Kurden wurden dort 1988 durch Giftgas ermordet.

Olaf Scholz: Es ist schwierig, sich über geheime Berichte des BND zu unterhalten, die der Natur der Sache nach ja eigentlich nicht öffentlich bekannt sein können. Das macht es aber auch so leicht Behauptungen über das aufzustellen, was da wohl angeblich alles drinsteht. Ich bin ziemlich sicher, dass der deutschen Regierung auch von ihren Nachrichtendiensten keinerlei Erkenntnisse vorlagen, wonach es Anfang 2003 Massenvernichtungswaffen oder größere Potentiale dieser Art im Irak gab. Selbstverständlich gibt der deutsche Nachrichtendienst Hinweise, die er bekommt, an befreundete Dienste weiter. Aber Hinweise sind noch etwas ganz anderes als eine gesicherte Erkenntnis. So ein Hinweis war es wohl, der in der Öffentlichkeit als Erkenntnis aufgebauscht wurde. Jeder, der sich ein bisschen mit der irakischen Situation vor dem Krieg beschäftigt hatte, konnte jedenfalls nicht von einem großen Potential an Massenvernichtungswaffen ausgehen. Wir wussten, dass in dem vorhergehenden, so genannten Zweiten Golfkrieg der größte Teil des Potenzials an Massenvernichtungswaffen zerstört worden war. Das lange, anschließende UN-Regime und die Flugverbotszone bewirkten das Ihrige, um den neuen Aufbau derartiger militärischer Kapazitäten zu behindern. Schlussendlich lagen auch den Vereinten Nationen, trotz der Tätigkeit ihrer Inspektoren, solche Erkenntnisse nicht vor. Es war immer angebracht, zutiefst misstrauisch gegenüber der irakischen Regierung zu sein. Aber es gab keinerlei Erkenntnisse über Massenvernichtungswaffen. Ich will trotzdem gerne zugeben, dass es mich überrascht hat, dass seit dem Ende des Krieges bisher gar keine Massenvernichtungswaffen gefunden wurden.

PuG: Aber selbst wenn man gerechtfertigt davon ausgehen konnte, dass eine Intervention im Irak völkerrechtswidrig ist und dies ablehnt, bleibt die, insbesondere seitens der CDU gestellte, These im Raum, das Verhalten der Bundesregierung in den Vormonaten des Angriffs habe den Eintritt des Kriegs letztlich wahrscheinlicher gemacht. Schließlich könnte man der Logik folgen, dass eine nicht ausreichende Konsultation mit den Partnern Uneinigkeit in den Reihen des Westen hervorgerufen hat, die zusammen mit dem kategorische Ausschluss eines Waffengangs unter deutscher Beteiligung die Drohkulisse des Westens geschwächt, und damit die Wahrscheinlichkeit eines Einlenkens der irakischen Regierung verringert hat. Wie beurteilen Sie einen solchen Vorwurf?

Olaf Scholz: Ich halte ihn für völlig absurd. Die dem Kriegsbeginn vorhergehenden Diskussionen zum Irakkonflikt haben mir allerdings erneut gezeigt, wie wenig entwickelt die außenpolitische Debatte in der Bundesrepublik Deutschland ist. Ähnlich war es mir im Übrigen auch schon im Vorfeld zu den Entscheidungen über die Entsendung deutscher Soldaten  in den Kosovo, nach Mazedonien und Afghanistan gegangen. Letztendlich diskutieren wir alle immer sehr grundsätzlich und nicht sehr konkret; dies ist aber einer entwickelten Demokratie nicht würdig. Demokratie heißt auch abwägen. Gegen die Afghanistan Entscheidung wurde von den damaligen Kritikern des damaligen Bundeswehreinsatzes angeführt, Deutschland dürfe sich niemals wieder mit seinen Soldaten außerhalb des NATO-Gebiets betätigen und seine Armee ausschließlich zur Landesverteidigung einsetzen. Gegen die Haltung der Bundesregierung im letzten Irak Konflikt argumentierten ihre Kritiker, schon immer hätte sich Deutschland an den militärischen Aktivitäten der USA beteiligt. Diese Kritik war ein Zeichen für ein historisches Kurzzeitgedächtnis, weil das vor 1998/ 99 und der Entscheidung für die Intervention im Kosovo seit der Gründung der Bundesrepublik niemals der Fall war. Genauso irritierend ist übrigens das gerne angeführte Argument, dass wir, wenn die Vereinten Nationen einen Militäreinsatz empfehlen, dem folgen müssten. Das entspricht weder dem Völkerrecht noch den Vorstellungen, die sich irgendein anderer Staat von seinem Verhältnis zu den Vereinten Nationen macht. Wir führen da eine Debatte, die keinem unserer Freunde einfiele. Ob wir unsere Soldaten einsetzen, müssen wir schon selber entscheiden. Nur: Gegen den Willen der Vereinten Nationen oder das Völkerrecht wollen wir unsere Soldaten nicht einsetzen. Deshalb spielt ein UN-Mandat für uns eine so große Rolle.

PuG: Bliebe aber zwischen den beiden von Ihnen gezeichneten Extremen, also der totalen Verweigerung auf der einen Seite und der Verkündung wir machen machen mit, egal was was komme, nicht auch ein Mittelweg möglich, der den tatsächlichen wie taktischen Interessen Deutschlands und des Westens eher entsprochen hätte,  z.B., indem man sich mit dem transatlantischen Partner zuvor kurzgeschlossen hätte?

Olaf Scholz: Wir haben uns mit unserem transatlantischen Partner kurzgeschlossen. Die Position der deutschen Regierung war immer eindeutig. Die außenpolitische Community Frankreichs, Großbritanniens und der Vereinigten Staaten von Amerika empfindet Aussagen, wie sie der deutsche Bundesaußenminister im Februar 2002 auf der Münchner Sicherheitskonferenz machte, nach dem Motto I am not convinced (was ja doch sehr höflich ausgedrückt ist) immer als eine ganz klare Aussage, die heißt: Wir finden das falsch und bitte lasst davon. Allerdings entstand in unserem Land eine Debatte, in deren Verlauf ständig unterstellt wurde, dass diese freundliche Aussage, nicht ein kluges diplomatisches nein sei, sondern ein verkapptes ja, was sich spätestens nach der Bundestagswahl 2002 herausstellen würde. Das ist der typisch deutsche Fall einer unterentwickelten außenpolitischen Diskussion. Das würde nirgendwo sonst auf der Welt so geschehen. Deshalb wurden die Aussagen notwendigerweise immer präziser, auch um Missverständnisse zu vermeiden.

PuG: Sie sprachen bereits vom Kosovokrieg. Im Zusammenhang mit dem Krieg im Irak stellt sich doch die Frage, welche Rolle für die Bundesregierung ein UN-Mandat, deren Fehlen als ein Argument für ein Absehen von einer Kriegsbeteiligung genannt wurde, bei der Befehlung von Militäreinsatzen eigentlich spielt. Der Einsatz 1999 wurde ja auch allein durch die NATO autorisiert.

Olaf Scholz: Beim Irakkrieg hatten wir auch gesagt, dass wir im Falle, dass die Vereinten Nationen ein Mandat für ein militärisches Vorgehen erteilten, trotzdem bei einem solchen nicht mitmachten, weil wir die Intervention nicht für richtig hielten. Wie bereits dargestellt, liegt auch dann, wenn die Vereinten Nationen ein militärisches Vorgehen legitimieren, die letzte Entscheidung über den Einsatz der eigenen Soldaten, bei jeder einzelnen Nation. Richtig ist: Wir hängen den Grundsatz, dass militärische Aktionen von den Vereinten Nationen unterstützt werden müssen, ganz hoch. Deshalb ist es bitter schwer gefallen im Falle der notwendigen Unterstützung der bedrohten Menschen im Kosovo, eine Verständigung innerhalb der NATO und unter den demokratischen Staaten und eine Berufung auf wesentliche Grundelemente der UN-Charta, genügen zu lassen. Immerhin befanden wir uns bei der Intervention im Einklang mit dem materiellen Völkerrecht. Wegen unserer Grundsätze war es ein Ziel deutscher Außenpolitik, bald eine Unterstützung der Vereinten Nationen zu erreichen. Erfolgreich, wie wir wissen.

PuG: Die Bundesregierung schließt die Entsendung deutscher Soldaten in den Irak weiterhin aus. Gleichzeitig wurde jedoch vereinbart, irakische Sicherheitskräfte in den Arabischen Emiraten auszubilden. In die gleiche Richtung gingen zuvor weitere Zusicherungen wie die Nutzung deutscher Luftbasen sowie die Gewährung von Überflugrechten. Liegt hierin nicht eine mittelbare Beteiligung an der von den USA geführten militärischen Allianz im Irak? Wo verläuft hier nach Ansicht der Bundesregierung die Trennlinie?

Olaf Scholz: Die Gewährung von Überflugrechten stand stets außer Frage. Die USA sind unsere besten Freunde, sie sind unsere Bündnispartner. Im Übrigen halte ich dies auch juristisch nicht für eine Form der mittelbaren Beteiligung. Auch wenn wir in der Frage des Vorgehens im Irak mit unseren amerikanischen Freunden nicht einer Meinung waren, wollten wir unseren Bündnispflichten immer nachkommen.
In Bezug auf unser Vorgehen seit dem Ende des Krieges im Irak verfolgt Deutschland eine sorgfältig bedachte, ausgewogene Linie: Wir hatten gesagt:  Wir beteiligen uns nicht an dem Krieg, wir finden ihn auch nicht richtig. Deshalb wollen wir uns auch nicht hinterher in diesen Krieg verwickeln lassen. So wie im Zweiten Golfkrieg, wo sich Deutschland zunächst nicht beteiligte, später jedoch sehr viel Geld überwies, werden wir nie wieder vorgehen. Die neue außenpolitische Positionierung der Bundesrepublik Deutschland bedeutet, dass wir konsequent sein müssen. Halb mitmachen, halb nicht-mitmachen, geht nicht mehr. Allerdings gebietet schon unser eigenes Selbstverständnis, dass wir humanitäre Hilfe leisten. Dazu gehören auch bestimmte Aktivitäten, die für den Aufbau einer Zivilgesellschaft vonnöten sind, wie die Ausbildung von Sicherheitskräften.

PuG: Im letzten Europawahlkampf warb die SPD mit dem selbst auferlegten Etikett Friedensmacht. Ist die vorherige Ausschöpfung von diplomatischen und wirtschaftspolitischen Mitteln auch common sense, bleibt die Effektivität deren Einsatzes doch fraglich, wenn nicht auch militärische Mittel als ultima ratio in Betracht kommen. Stimmen Sie dem zu und, falls ja, glauben Sie Europa bzw. Deutschland unterhalten die dafür notwendigen militärischen Kapazitäten?

Olaf Scholz: Zunächst mal war es keineswegs common sense im Sinne einer gemeinsamen Haltung, zunächst alle nicht-militärischen Druckmöglichkeiten auszuschöpfen. Damit auch zurück zu der Frage, ob man nicht stärker mit einer Drohkulisse im Vorfeld des Irakkriegs hätte agieren sollen. Wenn das Kontrollregime der Vereinten Nationen wirklich hätte durchgesetzt werden sollen, dann wäre wahrscheinlich bis heute noch kein Krieg ausgebrochen. Diese gemeinsame Haltung gab es gar nicht so sehr, wie das aus unserer Sicht richtig gewesen wäre. Ich will aber noch einmal ausdrücklich deutlich machen: Es war völlig in Ordnung, dass die Bundesrepublik Deutschland ihre ablehnende Haltung zu einem Krieg und ihre fehlende Bereitschaft, eine Intervention zu unterstützen, klar zum Ausdruck brachte. Die Außenpolitik demokratischer Staaten findet auch in der Öffentlichkeit statt und folgt nicht den Geheimnisregeln der Kabinettsdiplomatie des 19. Jahrhunderts.
Im Übrigen: Die Unterstellung, ein militärischer Einsatz werde von der Bundesregierung generell ausgeschlossen, ist komisch, weil es gerade diese Bundesregierung war, die überhaupt erst Einsätze out of area wie im Kosovo, in Mazedonien und in Afghanistan verantwortet hat. Im Übrigen ist es der jetzige Verteidigungsminister Peter Struck, der diese Strategie in dem populären Spruch zusammengefasst hat Deutschland wird am Hindukusch verteidigt. Er setzt auch eine Reform der militärischen Strukturen der Bundeswehr durch. Sie hat unter anderem zum Ziel, fernab von den logistischen Verbindungen mit Deutschland militärische Operationen durchführen zu können.

PuG: Und trotzdem bleibt die Tatsache, dass sich eine militärische Drohkulisse des Westens zum weitaus überwiegenden Teil auf die Kräfte der USA stützt. Innerhalb der EU bleiben militärische Synergien aus politischen Gründen oftmals ungenutzt. Erschweren die eklatanten Unterschiede in militärischer Hinsicht nicht ein gemeinsames außenpolitisches Agieren?

Olaf Scholz:  Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass es kein erstrebenswertes europäisches Ziel sein kann, das gleiche Ausmaß an Interventionsfähigkeit zu besitzen, wie es die USA militärisch unterhalten; die politische Perspektive Europas liegt sicherlich mehr in seinen diplomatischen und wirtschaftlichen und präventiven Möglichkeiten. Selbstverständlich brauchen wir auch vernünftige militärische Strukturen. Neben einer Umstrukturierung der Bundeswehr zu einer Armee, die auch technisch in der Lage ist, die Aufgaben, die ihr das Volk und der Gesetzgeber überträgt, zu erfüllen, gehört dazu aber auch eine Verbesserung der Integration der Militärstrukturen in Europa. In diese Richtung wies auch die Initiative Deutschlands und Frankreichs für die Etablierung einer engeren militärischen Zusammenarbeit. Auch wenn das noch nicht allseits auf Konsens stieß, bin ich doch der Ansicht, dass wir dazu kommen müssen, dass das, was an militärischen Möglichkeiten in Europa besteht, besser koordiniert und zusammengeführt wird. Wir müssen als Europäer in der Lage sein, einen Einsatz wie im Kosovo eigenständig durchzuführen. Allerdings sollten wir uns im klaren darüber sein, dass da noch eine längere Wegstrecke vor uns liegt: Militärische Souveränität ist wohl das letzte, was Staaten ohne weiteres hergeben. Das wird  bestimmt der komplizierteste Teil der Integration Europas werden.

PuG: Kommen wir von den konkreten militärischen Eingriffen zu deren Ursache. Herr Scholz, in sämtlichen arabischen Ländern werden pro Jahr nur 300 Bücher übersetzt und das BSP aller arabischer Staaten ist kleiner als dasjenige Spaniens. Könnten Sie sich angesichts dieser Zahlen  vorstellen, dass bei den Geschehnissen im Irak und den jüngsten Terroranschläge ein gewisser Neidfaktor eine Rolle spielt, der Teil eines Clash of Civilizations ist, den wir in letzter Zeit erleben?

Olaf Scholz: Wie - jedenfalls den Worten nach - sämtliche Teilnehmer der Podiumsdiskussion der Bucerius Summer School, glaube auch ich nicht an einen Clash of Civilizations. Das halte ich für ein ideologisches Konstrukt. Ich glaube, dass Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft ein sehr attraktives Programm für alle Menschen und alle Staaten dieser Welt sind. Deshalb bin ich der Ansicht, dass wir nicht einen Zivilisationskonflikt herbeireden sollten. Vielmehr sollten wir mithelfen, dass Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft das typische Gesellschaftsmodell der Völker dieser Welt werden. Ich bin auch sicher, dass die meisten arabischen Länder einen solchen generellen Konflikt nicht wollen und schon gar nicht die Völker Arabiens. Und wir sollten auch die Theorie ablehnen, dass derjenige, der arm ist, notwendigerweise ein Gegner von Demokratie wäre. Es handelt sich bei Demokratie und Rechtsstaat um überragende, allgemein die Menschheit prägende Wertvorstellungen, die weder an eine bestimmte Religion, noch eine bestimmte geographische Region gebunden sind. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass diese Werte, die wir mühselig erkämpft haben, auch anderen Völkern zustehen.

PuG: Was kann und sollte der Westen tun, um einen solchen Prozess zu unterstützen?

Olaf Scholz: Es muss ein Kommunikationsprozess zwischen denjenigen in Gang gesetzt werden, die einen Clash of Civilizations ebenfalls nicht akzeptieren wollen. Zudem wird die Haltung Deutschlands und Europas zu der Frage einer Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union immer wichtiger. Das ist das zentrale politische Instrument, um der Theorie eines Zivilisationskonflikts ein ganz praktisches Gegenbeispiel entgegenzusetzen. Die Türkei hat das Potenzial - an dem sie noch arbeiten muss - ein demokratischer, marktwirtschaftlicher Rechtsstaat zu werden, der die Wertvorstellungen der Menschenrechtskonvention und der Europäischen Union akzeptiert. Gelänge das den Menschen in der Türkei und Europa, wäre das glaube ich der wichtigste Beitrag zur Friedenssicherung.
Unsere Politik muss schließlich darauf ausgerichtet sein, dass sie anderen Staaten eine vernünftige wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung ermöglicht. So verstehe ich auch die Außenpolitik Deutschlands und der EU. Ich bin zwar auf der einen Seite der Meinung, dass eine Unterstützung für die Entwicklung anderer Länder erforderlich ist; auf der anderen Seite bin ich aber auch der Ansicht, dass es letztendlich nicht in Ordnung ist, dass Argument zu akzeptieren, dass Unterentwicklung auch Gewalt produziert. Das ist eine Beleidigung vieler Menschen und vieler Staaten, die arm sind und nicht daran denken, gewalttätig zu werden. Deshalb ist die Verurteilung des Terrorismus eine selbstverständliche und richtige Haltung der Welt und der Völkergemeinschaft.

PuG: Aber gerade hieran mangelt es doch oftmals. Auch Innenminister Schily hat sich kritisch dazu geäußert, dass eine eindeutige Verurteilung von Terroranschlägen ausbleibt.

Olaf Scholz: Ich wüsste auch Beispiele zu nennen, die das Gegenteil belegen. Ich will aber gar nicht bestreiten, dass es wünschenswert wäre, dass manche nicht so zurückhaltend blieben. Aber ein Blick auf die Regierung der Türkei und auf mehrere arabische Staaten zeigt, dass auch dort der Terrorismus scharf kritisiert wird.

PuG: Neben den Auswirkungen des Irakkriegs auf die arabische Welt hat der Konflikt auch  zu einer Belastung des transatlantischen Verhältnisses geführt. Uneinigkeiten zeigten sich beispielsweise hinsichtlich des Umgangs mit den Gefangenen aus über 40 Ländern, die in dem US-amerikanischen Militärstützpunkt Guantanamo Bay untergebracht sind. Auf der anderen Seite fällt die Kritik der Bundesregierung an Russland beispielsweise hinsichtlich des Vorgehens gegenüber Tschetschenien weitaus verhaltener aus. Wird hier nicht mit doppeltem Maß gemessen?

Olaf Scholz: Ich bin ganz sicher, dass die amerikanische Regierung die Beurteilung der deutschen Äußerungen gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerika, die in Ihrer Frage mitschwingt, nicht teilt. Die Bundesrepublik Deutschland ist mit den Vereinigten Staaten von Amerika befreundet. Das Gefühl, dass es die Amerikaner sind, die es uns ermöglicht haben, eine demokratische Entwicklung zu nehmen, ist sehr weit verbreitet. Wir sind wie Habermas formuliert hat von der amerikanischen Kultur des Westens geprägt, und das weiß auch jeder von uns. Ich glaube, dass die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika sehr vernünftig und dass sie von Freundschaft getragen sind, von gegenseitigem Respekt. Zudem glaube ich, dass niemand in Deutschland irgendeinen Zweifel an der demokratischen Qualität der USA äußert. Dass z.B. die britische Regierung wie viele andere, in Guantanamo ein anderes Vorgehen wünschen, ist kein Geheimnis. Das ist wahrscheinlich ein gesamteuropäischer Standpunkt.
Was Russland betrifft, muss als Ziel stets die weitere Herausbildung der demokratischen Gesellschaft im Vordergrund stehen. Das ist nicht einfach. Ich bin wie der Bundeskanzler überzeugt, dass der russische Präsident einer der Führer des demokratischen Lagers in Russlands ist.
Wir sind uns sicher einig, dass der Terrorismus unabhängig von dem Ort, wo er zuschlägt, bekämpft werden muss. 
Und: Darüber, dass das Regieren in einem Land wie Russland, das viel mehr ein Vielvölkerstaat ist als das hierzulande in der Vergangenheit wahrgenommen wurde, ausgesprochen kompliziert sein kann, besteht im übrigen kein Zweifel. Das Verlangen nach einem eigenen Staat, dass einige Rebellengruppen formulieren, ist jedenfalls nicht selbstverständlich. Es kann sehr gefährlich sein, überall neue Staaten auf der Basis oft gemischter Bevölkerungsgruppen entstehen zu lassen. In diesem Dilemma stehen alle, die sich ein Urteil zum Tschetschenien-Konflikt bilden; nicht nur die russische Regierung. Die territoriale Integrität Russlands darf nicht gefährdet werden.
Man kann jedoch sicher sein, dass die Haltung, die Deutschland in dieser Frage entwickelt, von den rechtsstaatlichen und demokratischen Vorstellungen, die wir hier alle gemeinsam teilen, getragen ist. Ich will aber trotzdem sagen, dass wir uns damit nicht zu eigen machen müssen, was uns nicht gefällt - und das tut auch niemand. Ich glaube, dass hier mit gutem Maß gemessen wird und versucht wird, das Beste für die Entwicklung der Demokratie in Russland zu tun.

PuG: Herr Scholz, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Das Interview führten Moritz Holzgraefe und Benjamin Lotz