Sehr geehrte Damen und Herren,
zu unserer Konferenz Kinder und Familien stärken begrüße ich Sie alle hier im Willy-Brandt-Haus sehr herzlich.
Ein besonders herzliches Willkommen an unsere internationalen Gäste, insbesondere
die schwedische Ministerin für Kinder und Familie Frau Berit Andnor.
Einen Tag lang wollen wir heute mit Ihnen allen über das zentrale familienpolitische Reformprojekt dieses Jahrzehnts diskutieren und Strategien zu seiner Verwirklichung entwickeln: den bedarfsgerechten Ausbau der Bildungs- und Betreuungsmöglichkeiten für Kinder.
Familie als Schwerpunkt unserer Politik
Familie ist, wo Kinder sind. Die Familie ist und bleibt für die allermeisten Menschen die gewünschte Lebensform und der wichtigste Bereich in ihrem Leben. Wie Umfragen immer wieder belegen, gewinnt sie gerade für die junge Generation eindrucksvoll an Bedeutung.
In der Familie übernehmen Eltern und Großeltern, Kinder und Geschwister Verantwortung füreinander. Familie gibt Geborgenheit, Zusammenhalt und privates Glück. Und die Familie ist nicht nur trotz allen gesellschaftlichen Veränderungen an sich erfreulich stabil. Sie stabilisiert auch die Gesellschaft und sorgt in hohem Maße für den sozialen Zusammenhalt.
Wer für seine Familie Verantwortung und Verpflichtung übernimmt, sich insbesondere für Kinder entscheidet, hat Anspruch auf unsere Unterstützung.
Wir müssen Deutschland kinderfreundlicher machen. Das gilt trotz all der Verbesserungen, die wir durchgesetzt haben.
Was haben wir seit 1998 auf den Weg gebracht?
a) Wir haben die finanzielle Lage der Familien verbessert
Seit 1998 haben wir den Umfang der familienpolitischen Leistungen des Bundes von rund 40 Mrd. auf rund 60 Mrd. in 2003 erhöht. Dies entspricht einer Steigerung um 50 %, unter anderem durch die
- Erhöhung des Kindergeldes für das 1. und 2. Kind in drei Stufen auf 154 im Monat (= Erhöhung um jährlich knapp 500 pro Kind),
- Anhebung des steuerlichen Kinderfreibetrages auf 3.648 ,
- Neueinführung eines Betreuungsfreibetrages,
- Zusätzliche Absetzbarkeit erwerbsbedingter Betreuungskosten.
- die Einführung eines Kinderzuschlag für Eltern mit geringem Einkommen im Rahmen der Hartz-Reformen ab 2004.
b) Wir haben für mehr Anerkennung von Erziehungsleistungen bei
der Alterssicherung gesorgt
Seit 1998 haben wir Eltern, die ihre Erwerbstätigkeit zugunsten der Erziehung ihrer Kinder zeitweise aufgeben oder einschränken, bei der Rente besser gestellt durch die
- Ausweitung der Kindererziehungszeiten auf 3 Jahre,
- Aufwertung von Rentenansprüchen, die in den ersten 10 Lebensjahren eines Kindes durch Teilzeitarbeit erworben werden,
- Einführung einer Kinderkomponente bei der Riester-Rente.
Wir haben wichtige Schritte für die Balance von Familie und Beruf eingeleitet
- Wir haben den Erziehungsurlaub zu einer flexiblen Elternzeit umgestaltet: Mütter und Väter können gemeinsam bis zu 3 Jahre in Elternzeit gehen und gleichzeitig in Teilzeit arbeiten oder sich untereinander bei Erziehung und Erwerbstätigkeit abwechseln.
- Wir haben den Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit eingeführt.
Förderung von Infrastruktur statt finanzieller Transfers
Was wir jetzt brauchen, ist eine wirkliche Trendwende für ein kinder- und familienfreundliches Land.
Wir sind nicht schlechter als andere Länder, was den Umfang der familienpolitischen Leistungen angeht.
Mit 2,7% des BIP liegt Deutschland hier international gesehen im oberen Mittelfeld.
Aber wir sind schlechter als andere Länder, was den Umfang der Betreuungsmöglichkeiten angeht.
Bei der Versorgung mit Kinderbetreuung nimmt Deutschland nur einen der mittleren bzw. hinteren Plätze ein.
Bei den Kindern von 0-3 Jahren haben wir im Bundesdurchschnitt eine Versorgungsquote von 7%. 3,4% in den alten Bundesländern und 34% in den neuen Bundesländern.
Für die 3-6jährigen sieht die Sache seit einigen Jahren etwas besser aus: Kindergartenplätze stehen für 90% der Kinder zur Verfügung. Ganztagsplätze jedoch gibt es in den alten Bundesländern nur für rund 17% der Kinder.
Wir haben den Schwerpunkt jahrelang auf Transferleistungen an Familien gesetzt und nicht wie andere europäische Länder auf Investitionen in Betreuungsdienstleistungen.
Die Folgen kennen wir alle: Die Zahl der Geburten in Deutschland nimmt ab, obwohl sich junge Leute in Deutschland genauso viele Kinder wünschen wie junge Menschen anderswo.
Für die überwiegende Mehrheit junger Frauen und Männer gehören Kinder selbstverständlich zu ihrem Lebensentwurf. Aber ebenso selbstverständlich ist es für sie, nach Berufsausbildung oder Studium einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Insbesondere junge Frauen sind heute besser denn je qualifiziert und wollen diese Qualifikationen auch nutzen. Davon profitieren sie selbst, ihre Familien und die ganze Gesellschaft.
Derzeit haben wir aber eine der niedrigsten Erwerbsquoten von Frauen in Europa. Das können wir uns nicht länger leisten. Dass insbesondere Frauen mit Kindern in Deutschland zu großen Teilen nicht erwerbstätig sein können, obwohl sie es wollen, behindert nicht nur die Entfaltung persönlicher Lebenswünsche, es ist auch ein Grund für Familienarmut.
In kaum einem anderen europäischen Land klaffen derzeit die Erwerbswünsche von Paaren mit Kindern unter 6 Jahren und die tatsächlich gelebten Erwerbsmuster so weit auseinander wie in Deutschland. In fast 60% dieser Familien arbeitet der Mann in Vollzeit, die Frau ist nicht erwerbstätig. Tatsächlich gewünscht wird dieses Lebensmodell aber nur von rund 7% der Paare mit kleinen Kindern.
Um es ganz klar zu sagen: Es geht nicht nur darum, dass allein Frauen sich Zeit für Familie UND Beruf wünschen. Es geht ebenso darum, dass Männer beide Bereiche miteinander vereinbaren wollen.
Die Rolle des Alleinernährers, in der sie sich heute nach der Geburt eines Kindes für mehr oder weniger lange Zeit wiederfinden, ist nicht mehr das Ideal der jungen Väter.
Familien in Deutschland sollen ihr Leben so organisieren können, wie sie das wollen. Deshalb machen wir Politik aus der Perpektive der Eltern und ihrer Kinder.
Der berufstätige Single ist aus Sicht der Wettbewerbsgesellschaft das Idealbild vom Menschen. Aus der Perspektive der Menschen ist er das nicht.
Wir wollen dafür sorgen, dass bis zum Jahr 2010 für alle Kinder im Vorschulalter und auch für Schulkinder flächendeckend ein ganztägiges Betreuungsangebot vorhanden ist.
Dabei geht es nicht um Verwahrung. Es geht um gute Betreuung und Förderung. Eltern, die ihre Kinder in Krippen, Kitas oder Ganztagsschulen gehen lassen, sind keine Rabeneltern. Das ist so ein Ausdruck, den es überhaupt nur im Deutschen gibt. Sie sind der Meinung, dass ihre Kinder unter anderen Kindern und pädagogischer Betreuung mehr lernen als zuhause in einer kinderarmen Nachbarschaft, in privaten Betreuungsnotlösungen oder gar vor dem Fernseher.
Nun höre ich das Argument, das Ganze sei ja nicht finanzierbar. Natürlich sind die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, in denen wir uns zur Zeit befinden, nicht zu leugnen. Aber nach wie vor ist die Bundesrepublik Deutschland das leistungsfähigste und erfolgreichste Wirtschaftsland Europas. Wenn Länder, die ähnlich aufgestellt sind wie wir, es schaffen, eine solche Ganztagsbetreuung zu organisieren, dann kann es kein Naturgesetz geben, nach dem das in Deutschland in den Kommunen, in den Ländern und im Bund nicht organisierbar ist.
Hier müssen die Prioritäten verschoben werden.
Bei manchen Diskussionen habe ich heute den Eindruck: Hätten damals die Finanzminister in allen Bundesländern und von allen Parteien genauso geredet wie heute, dann wäre die allgemeine Schulpflicht in Deutschland niemals eingeführt worden.
Aus Sicht der Familien hat die vorschulische Betreuung längst den gleichen Stellenwert wie die Schule. Unterrichtsausfall oder kranke Tagesmutter, sechswöchige Kita- oder Schulferien bringen gleichermaßen mühevoll ausgetüftelte Tagespläne zum Einsturz.
Manche Landesregierung ist bereits wegen ihrer Schulpolitik abgewählt worden, weil Eltern jedes Defizit jeden Tag unmittelbar erlebten. Das gleiche gilt, wie wir gerade in Hamburg gesehen haben, für politische Versäumnisse bei Krippen und Kitas. Der zuständige Senator musste zurücktreten, nachdem er in einer kurzen Amtszeit ein unterfinanziertes Gutscheinsystem eingeführt hatte, das tausende Eltern leer ausgehen ließ.
Jetzt sind innerhalb von zwei Wochen mehr als 160.000 Unterschriften von Hamburgerinnen und Hamburgern für ein neues Kita-Gesetz zusammengekommen. Per Volksentscheid könnte im nächsten Jahr eine Betreuungsplatzgarantie für alle Kinder beschlossen werden, deren Eltern berufstätig oder in der Ausbildung sind. In Zahlen ausgedrückt bedeutet dies, dass in Hamburg für rund 35% der Kinder - statt der derzeitigen 19% - Krippen- und Kita-Plätze zur Verfügung stehen müssten.
Ich halte das zumindest in den alten Bundesländern für wegweisend.
Und dennoch ist die massive Ausweitung des Angebots an Betreuungsplätzen nur ein Teil dessen, was wir organisieren müssen.
Gerade erst wieder haben sich Experten der OECD sehr verwundert darüber gezeigt, dass es in Deutschland keine Lehrerausbildung für Kindergärten gibt. Und auch der Direktor des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung hat vor wenigen Tagen eine akademische Ausbildung für Erzieherinnen und Erzieher gefordert, weil die ersten vier Lebensjahre eine zentrale Rolle bei der kindlichen Entwicklung spielen.
Auch hier liegen wir im europäischen Vergleich deutlich zurück.
Die Schaffung eines ganztägigen Betreuungs- und Bildungsangebots ist keine Aufgabe, die die Länder und Kommunen alleine bewältigen sollen.
Renate Schmidt, die darüber gleich selbst noch näher berichten wird, hat bei den Verhandlungen zur Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe durchgesetzt, dass Einspargewinne in beträchtlicher Höhe bei den Kommunen verbleiben. Ein Teil davon soll in den Betreuungsausbau, insbesondere für die unter 3jährigen, fließen.
Und Edelgard Bulmahn hat mit ihrem 4-Milliarden-Investitionsprogramm Zukunft Bildung und Betreuung dafür gesorgt, dass bereits in diesem Schuljahr neue Ganztagsschulen in den Ländern an den Start gehen konnten. Dafür stehen bis zum Jahr 2006 Mittel des Bundes bereit.
Kommunen und auch Unternehmen handeln in ihrem ureigensten Interesse, wenn sie auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten ihren Beitrag zu einer Infrastruktur für Familien leisten.
Es gibt sie ja bereits, die Gemeinden wie Bad Laer im Münsterland oder Emstek im Oldenburgischen, die gezielt in Kindergärten und Schulen investieren und dafür belohnt werden, in dem sich junge Familien dort ansiedeln und mehr Kinder haben als anderswo. Und es gibt die familienfreundlichen Unternehmen, die flexible Arbeitsplätze anbieten und Betreuungsplätze bereit stellen mit dem Ergebnis eines niedrigeren Krankenstandes und einer geringen personellen Fluktuation. Das muss selbstverständlich werden.
Zu der gemeinsamen Kraftanstrengung für Kinder und Familien, die ich beschrieben habe, gibt es keine Alternative. Es gibt sie nicht in Form eines Familiengeldes oder durch Renten-Boni für Eltern.
Diese Vorschläge scheitern, weil sie nicht zu finanzieren sind. Oder weil sie selbst in der Union höchst umstritten sind.
Darin stimmen, so ist mein Eindruck, die meisten Menschen mit uns überein.
Die Aussicht auf eine höhere Rente in 30 Jahren kann die Entscheidung für junge Menschen, eine Familie zu gründen, nicht wirklich positiv beeinflussen. Letztlich sollen mit solchen Maßnahmen entgegen den vorhandenen Erwerbswünschen Anreize zum Berufsausstieg gesetzt werden. Eine solche Politik ist nicht seriös.
Die heutige Konferenz ist der Auftakt eines intensiven Dialogs, den wir mit Wissenschaft und Praxis führen wollen.
Wir wollen nicht nur Betreuungsangebote ausbauen, wir wollen sie auch zu einem GUTEN Betreuungs- und Bildungsangebot machen. Dazu brauchen wir Ihre Hilfe.