Herr Bundeskanzler, sind Sie noch der Richtige, um Deutschland zu dienen?
Klar. Die Bundesregierung hat große Krisen gemeistert, insbesondere nach dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Wir haben sichergestellt, dass die Wohnungen warm bleiben und die Industrie weiter produzieren kann. Mehr als 300 Milliarden Euro haben wir aufgewandt, damit weder die Bürgerinnen und Bürger noch die Unternehmen von den rasant steigenden Energiepreisen überfordert werden. Inzwischen sind die Energiepreise gesunken. Die Inflation liegt wieder bei unter zwei Prozent. Gleichzeitig haben wir den Ausbau von Wind- und Solarenergie massiv beschleunigt und treiben die Modernisierung der Wirtschaft voran. Und wir gehören zu den stärksten Unterstützern der Ukraine. Trotz erheblichen Drucks ist es mir gelungen, einen besonnenen Kurs durchzusetzen und durchzuhalten – wir unterstützen die Ukraine militärisch, stellen aber sicher, dass Deutschland nicht zur Kriegspartei wird.
Nach knapp drei Jahren unter Ihrer Führung sieht die Lage Deutschlands so aus: stagnierende Wirtschaft, marode Infrastruktur, Dauerstreit in der Ampel, Vertrauensverlust der Bürgerinnen und Bürger und nie da gewesene Wahlerfolge von Rechtsextremen. Hat das alles mit Ihnen nichts zu tun?
Es wäre merkwürdig, wenn das jemand behauptete. Die Regierung muss sich vorhalten lassen, dass viele Entscheidungen von heftigem öffentlichem Streit begleitet wurden – vor lauter Pulverdampf konnte man manchmal nicht mehr sehen, was da eigentlich alles beschlossen wurde. Dabei sind viele dieser Beschlüsse richtungsweisend. Sie werden entscheidend dazu beitragen, dass wir in 10, 20, 30 Jahren weiterhin gute Arbeitsplätze in Deutschland haben. Ein Beispiel? Wir haben das Tempo bei den Planungen und Genehmigungen von Schienen, Straßen, Funkmasten, beim Ausbau des Strom- und Wasserstoffnetzes massiv erhöht. Es entstehen neue zusätzliche Halbleiter-Fabriken bei uns. Pharma-Unternehmen investieren hohe Summen, weil wir die nötigen Rahmenbedingungen dafür verbessert haben. Gerade in dieser Woche haben wir das Baugesetzbuch überarbeitet und werden mit dem Gesetz viele überflüssigen Vorschriften streichen, die den Wohnungsbau behindern.
Trotzdem wünscht sich nur jedes dritte SPD-Mitglied, dass Sie noch einmal Kanzlerkandidat werden. Ficht Sie das nicht an?
Vor langer Zeit habe ich mir vorgenommen, Umfragen nie zu kommentieren. Deswegen fange ich damit auch nicht an.
Aber Sie lesen Umfragen?
Ich nehme Sie natürlich zur Kenntnis. Politik an Umfragen zu orientieren, ist aber nie ein guter Einfall. Im Übrigen habe ich in meinem politischen Leben schon einige Wahlen gewonnen, obwohl Umfragen das nicht nahelegten. Daraus schöpfe ich Zuversicht.
Würden Sie die Kanzlerkandidatur Boris Pistorius überlassen, wenn Sie zum Schluss kämen, die SPD hätte mit ihm bei der Bundestagswahl bessere Chancen?
Auch Boris Pistorius will, wie viele andere, dass ich wieder als Kanzler antrete. Ich sehe das genau so.
Das ist keine Antwort auf unsere Frage.
Sie stellen Ihre Frage ja auch nur, um Schlagzeilen zu produzieren. Wozu ist das gut?
Erstmals seit 1945 ist eine rechtsextreme Partei stärkste Kraft in einem Landtag geworden. Ein Drittel der unter 30-Jährigen haben in Sachsen und Thüringen AfD gewählt. Verliert Deutschland eine ganze Generation an die Rechtsextremisten?
Nein, das glaube ich nicht. Aber wir sollten klar sagen: Das Wahlergebnis ist sehr bedrückend und alarmierend für unser ganzes Land. Eine Partei, die nur auf die Vergangenheit blickt, die Menschen gegeneinander aufwiegelt und Unfrieden stiften will, kann nicht für Zukunft und Zusammenhalt stehen. Und diese Partei sollte nie in die Lage geraten, über die Geschicke unseres Landes zu entscheiden.
Wie erklären Sie sich, dass die AfD bei jungen Menschen so beliebt ist?
Die Unsicherheiten sind in vielen traditionellen Industrieländern groß – auch bei uns. Viele fragen sich, ob sie zuversichtlich in die Zukunft blicken können oder ob sie und ihresgleichen eine ordentliche Perspektive haben. Genau das hat die Bundesregierung bei all ihren Entscheidungen zum Ziel. Wir haben den Reformstau der vergangenen Jahre beendet. Um eine Sache sollten wir aber auch nicht drum herumreden: Mancher Wähler hält es für falsch, dass Deutschland die Ukraine unterstützt. Ich sage klar: Unsere besonnene Unterstützung ist richtig.
Trägt die Ampel Mitverantwortung für den Vormarsch von Höcke und Co.?
Mit simplen Erklärungen kommen wir nicht weit. Auch wenn ich, wie gesagt, finde, dass zu viel öffentlich gestritten wurde, müssen wir genauer hinschauen: Wenn ich über den deutschen Tellerrand blicke, sehe ich, dass extreme Rechtsparteien gerade leider vielerorts Erfolge feiern. Und zur Wahrheit gehört: Die Zeiten sind vorbei, in denen in der Regel eine große und eine kleine Partei eine Regierung bilden. Unsere Gesellschaft und die politische Landschaft haben sich verändert. Immer öfter werden auch Parteien miteinander regieren, die das eigentlich nie vorhatten. Die Regierungsbildungen in Sachsen und Thüringen können dafür Beispiele werden. Im Bund scheiterten CDU/CSU, Grüne und FDP 2017 schon mit dem Versuch, eine Regierung zu bilden. Im Jahr 2021 ist uns das gelungen, auch wenn das mühselig war – und seither geblieben ist.
Man könnte auch sagen, die Koalition verspielt mit ihren endlosen Streitereien Vertrauen in Staat und Demokratie.
Ich habe schon gesagt, dass mir das nicht gefällt. Punkt.
Die Ampel hat sich erst nach der tödlichen Messerattacke von Solingen und angesichts des AfD-Höhenfluges zu neuen Maßnahmen gegen irreguläre Einwanderung und Islamismus sowie zu einem Abschiebeflug für Straftäter nach Afghanistan durchgerungen. Warum so spät?
Ich widerspreche Ihnen: Sie fragen, als ob es erst des schlimmen Terroranschlags von Solingen bedurft hätte, um zu handeln. Richtig wäre es gewesen zu fragen: Herr Scholz, Sie haben mit weitreichenden Gesetzen und durch Verabredungen mit den 16 Ländern die größte Wende im Umgang mit der irregulären Migration in den letzten 20 Jahren zustande gebracht, nun legen sie nochmal nach. Offenbar ist das nötig?
„Bundesregierung einigt sich auf Sicherheitspaket“ steht auf Ihrer Homepage mit dem Datum 29. August 2024. Das war nach Solingen.
Richtig, aber dieses Sicherheitspaket kommt zusätzlich zu all dem, was die Bundesregierung in den vergangenen 18 Monaten schon auf den Weg gebracht hat. Zu den weitreichenden Änderungen beim Thema Flucht und Migration gehört zum Beispiel, dass die Polizei sich nun in einer Asylbewerber-Unterkunft umschauen kann, wenn sie einen Asylbewerber sucht und nicht in seinem Zimmer trifft. Der Gewahrsam für Abzuschiebende wurde auf bis zu 28 Tage ausgeweitet. Die Klage-, Einspruch- und Widerspruchsmöglichkeiten, die Abzuschiebende missbräuchlich genutzt haben, sind beseitigt. Meine Regierung hat strikte Grenzkontrollen eingeführt. Wir haben die Leistungen für Asylbewerber abgesenkt, um Pull-Faktoren zu beseitigen. Das sind alles Entscheidungen, vor denen sich andere lange gedrückt haben. Nun sinkt die Zahl derjenigen, die bei uns Asyl beantragen – im Monat August zum Beispiel wohl um fast 46 Prozent im Vergleich zu August 2023. Und die Zahl der Rückführungen steigt – um ein Fünftel. Mit dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS), welches wir in Europa durchgesetzt haben, werden weitere Veränderungen kommen. Bei uns, wie in den anderen europäischen Staaten. Das Umsetzungsgesetz für Deutschland kommt jetzt sehr schnell. Das wird auch wirken. Verzeihen Sie, aber mich ärgert es, wenn die Betrachtung von Politik sich auf den Theaterdonner, der bei der Durchsetzung jeder entschiedenen Reform zu hören ist, konzentriert und bei der Berichterstattung die Inhalte kaum eine Rolle spielen. Manchmal so wenig, dass nicht mal Sie sich daran erinnern.
Produziert Ihre Regierung, Ihre Partei nicht genau diesen Theaterdonner, der etwa die Maßnahmen in der Migrationspolitik begleitet?
Den Schuh muss die Regierung sich, wie nun schon mehrfach gesagt, anziehen. Das Problem ist aber leider eben auch: Die Bürgerinnen und Bürger erfahren von politischen Diskussionen zu selten, worum es wirklich geht. Zu oft wird nur berichtet: Wer tritt wie auf? Wer benimmt sich daneben? Wer sieht hübsch aus oder formuliert besonders clever? Wir machen hier aber keine neue Folge von „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ – es geht doch um Politik.
In Sachsen und Thüringen hat Ihre Partei nur noch 7,3 und 6,1 Prozent erzielt. Danach schrieben Sie, „die düsteren Prognosen in Bezug auf die SPD sind nicht eingetreten“. Ist die Fünf-Prozent-Hürde für die SPD im Osten die neue Messlatte?
Nein, das wäre doch absurd. Die SPD stellt die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern und den Ministerpräsidenten von Brandenburg. Aber ein Journalismus, der ständig suggestive Fragen stellt, ist vielleicht auch Teil des Problems. Betrachten wir das ganze Zitat: Deutlich wird, dass ich gesagt habe, wie bitter das Ergebnis für unser Land ist, wegen des Ergebnisses der AfD und weil noch eine andere populistische Partei Aufwind verspürt. Ich hätte der SPD in Sachsen und Thüringen wegen ihrer guten Arbeit bessere Ergebnisse gewünscht. Worauf ich mich bezogen habe: Nicht wenige so genannte Experten waren überzeugt, dass die SPD aus beiden Landtagen fliegen würde – das ist nicht eingetreten. In Sachsen hat die SPD die Zahl ihrer Sitze im Landtag gehalten. In Thüringen hat die SPD dem Sturm getrotzt.
Ihr Parteifreund Ralf Stegner spricht von einem Debakel für die SPD als Kanzlerpartei und sorgt sich um die Existenz der Sozialdemokratie. Ist das übertrieben?
Meine Antwort habe ich ihnen gerade gegeben.
Schon bald könnte sich die SPD in Thüringen und Sachsen dazu gezwungen sehen, mit dem BSW, der Partei von Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine, zu koalieren. Bedrückt Sie das?
Wir hier begleiten die Politik in Deutschland schon länger. Daher wissen Sie, dass es nie hilfreich war, wenn Bundespolitiker Ratschläge für Koalitionsbildungen in den Ländern erteilt haben. Über eines sind wir uns gleichwohl alle einig: Die AfD darf nicht an einer Regierung beteiligt werden.
Braucht es auf Bundesebene eine Brandmauer zur Wagenknecht-Partei?
Ich habe ganz klare Prinzipien: Deutschland ist als das große Land im Zentrum der Europäischen Union pro-europäisch. Wir sind überzeugtes Mitglied der Nato und halten die transatlantische Zusammenarbeit für zentral. Wir wollen eine starke Bundeswehr, und wir hören nicht auf das Kommando von Herrn Putin.
Und auf das Kommando von Wagenknecht und Lafontaine?
Auch nicht.
Herr Bundeskanzler, es gibt Spekulationen, die FDP werde die Ampel-Koalition verlassen. Könnte Deutschland bis zur nächsten Bundestagswahl in einem Jahr von einer Minderheitsregierung gesteuert werden?
Wieder eine Frage, bei der ich die nächste Schlagzeile schon vor Augen sehe, egal, wie ich jetzt antworte. Ich rechne fest damit, dass die Regierung in dieser Konstellation die ganze Legislaturperiode zusammenbleibt. Und, damit Sie nicht erst nachfragen müssen, ich rechne auch fest damit, dass die SPD und ich 2025 ein so starkes Mandat bekommen, dass wir auch die nächste Regierung anführen werden.
Und bis dahin ist die Ampel handlungsfähig? Bekommen Sie das Rentenpaket II, das das Rentenniveau über 2025 hinaus bei 48 Prozent festschreiben will, mit der FDP noch in diesem Jahr durch den Bundestag?
Es gibt eine feste Verabredung, dass das Rentenpaket II zügig im Parlament beraten und noch vor dem Haushalt 2025 im November verabschiedet wird.
Die FDP meldet bereits Gesprächsbedarf an…
Das wir stabile Renten garantieren ist eines der zentralen Vorhaben, auf denen sich diese Koalition gründet. Das muss kommen. Das wissen alle.
Ist das eine rote Linie?
Die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland haben einen Anspruch auf stabile Renten. Wer mit 17 Jahren die Schule verlässt und dann fünf Jahrzehnte arbeiten und Beiträge zahlen muss, möchte Gewissheit haben, wie es um seine Rente steht.
Fachleute sagen, diese Reform belaste die jüngere Generation.
Das ist die Auffassung einer ausschließlich Establishment-orientierten Expertenlandschaft, die ihre Schäfchen im Trockenen hat. Das zeigt auch der Streit um die abschlagsfreie Rente nach 45 Beitragsjahren. Dagegen wenden sich lauter Akademiker, die frühestens mit 25, 26 Jahren anfangen zu arbeiten und Beiträge zu zahlen und selbst nie auf 45 Beitragsjahre kommen. Sie wollen aber jenen, die viel früher angefangen haben zu arbeiten und viel länger Beiträge zahlen, die Chance nehmen nach einem langen Arbeitsleben, zwei Jahre früher ohne Abschläge in Rente zu gehen. Für mich hat das einen fahlen Beigeschmack!
Die SPD nimmt einen neuen Anlauf zur Lockerung der Schuldenbremse. Gibt es irgendeine Chance, dass die FDP dem zustimmen könnte?
Kaum jemand stellt die Schuldenregel in Gänze in Frage. Es geht um eine zielführende Reform auf der Basis der Erfahrungen der vergangenen Jahre. Darüber wird es in der nächsten Legislaturperiode einen parteiübergreifenden Konsens brauchen; schließlich ist für eine solche Reform eine 2/3 Mehrheit in Bundestag und Bundesrat nötig.
Nun bekommt es Ihre Regierung auch noch mit einer veritablen Krise bei Volkswagen zu tun. Was werden Sie unternehmen, um tausende Jobs zu retten?
Ich stehe in engem Kontakt mit der Konzernbetriebsratsvorsitzenden Daniela Cavallo. Ich habe mit dem Vorstandsvorsitzenden und Aufsichtsräten gesprochen. Jetzt geht es darum, dass der Konzern gut durch diese Krise kommt und Standorte und Jobs gesichert werden.
Steht die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Automobilindustrie insgesamt infrage? Berufen Sie einen Auto-Gipfel ein?
Ich finde, die deutsche Automobilindustrie baut die besten Autos weltweit. Anders als viele geunkt haben, gilt das nun auch bei Elektrofahrzeugen. Deshalb wird sie ein bedeutender Zweig unseres Industrielandes bleiben; und auch die jetzt weltweit bevorstehenden Umbrüche meistern. Damit das gelingt, verbessern wir die steuerlichen Konditionen für E-Dienstfahrzeuge und die Abschreibungsmöglichkeiten von Unternehmen bei der Anschaffung solcher Wagen. Wir bauen die Zahl der Ladestationen aus und schreiben jetzt vor, dass in kurzer Zeit die meisten Tankstellen eine Schnelladesäule haben müssen. Als Bundesregierung stehen wir an der Seite der Beschäftigten und der Branche.
Sie haben Ende 2021 gesagt, Sie wollten mit der Ampel über eine Wahlperiode hinaus regieren. Gilt das noch?
Ich habe Ihnen ja schon mein Ziel für die nächste Bundestagswahl genannt: eine SPD-geführte Bundesregierung. Regieren wird nicht einfacher, also sollten wir es machen. Was mir Sorgen bereitet: Vor der nächsten Wahl wird es viele unplausible Vorschläge geben, was alles einfach ginge, wenn man nur wollte. Eine ehrliche und wahrhaftige Betrachtung der Wirklichkeit kann da schnell unter die Räder geraten. Es wird also um Charakter und Ehrlichkeit gehen. Der SPD und mir ist wichtig, pragmatische und realistische Vorstellungen zu formulieren, wie Deutschland wirklich vorankommt.
Macht Sie der Gedanke an vier weitere Jahre Ampel nicht mürbe?
Ich bin Läufer und habe eine gute Kondition. Die braucht man auch.
Sie sind ja Wahl-Brandenburger. Wenn Ministerpräsident Dietmar Woidke sein Amt im roten Stammland Brandenburg verliert, geht dann die Debatte über Ihre Kanzlerkandidatur erst richtig los?
Dietmar Woidke ist ein erstklassiger Ministerpräsident und wird das auch nach der Wahl bleiben. Das Wirtschaftswachstum in Brandenburg ist enorm und hat viel mit ihm und seiner Politik für Brandenburg zu tun.
Was hoffen Sie, wird eines Tages über die Kanzlerschaft von Olaf Scholz in den Geschichtsbüchern stehen?
Ich finde, man sollte sich hüten vor Politikern, die darüber vor oder während ihres Amtes nachdenken.