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Symbolfoto: Olaf Scholz
Photothek
17.02.2024

Olaf Scholz im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung

Herr Bundeskanzler, Sie haben jüngst den US-Präsidenten getroffen. Welchen Eindruck hat er auf Sie gemacht?

Joe Biden wirkt sehr konzentriert und entschlossen. Der US-Präsident will alles dafür tun, dass sich die Ukraine weiter gegen den russischen Angriff verteidigen kann und die dafür nötige Hilfe aus den USA erhält.

Wirkte Biden wie ein freundlicher älterer Herr mit Erinnerungslücken?

Nein, das ist eine böswillige parteipolitische Zuschreibung. Wir haben uns lange und ausführlich miteinander unterhalten. Präsident Biden ist ein Kenner der internationalen Beziehungen. Er zählt wohl zu den US-Politikern mit der meisten Erfahrung in der Weltpolitik. Und er hat eine klare Vorstellung von den Entwicklungen im eigenen Land.

Offensichtlich möchten Sie lieber mit Biden zusammenarbeiten als mit Donald Trump. Ist das Verhältnis zu Trump schon belastet, bevor dieser möglicherweise als US-Präsident zurückkehrt?

Alle wissen: Ich bin Sozialdemokrat. Klar ist aber auch: Wenn man ein Land führt, muss man mit den gewählten Regierungen anderer Länder zusammenarbeiten – ungeachtet der Frage, ob man deren politischen Ansichten teilt oder nicht. Das ist auch Alltag in Europa. In den vergangenen Monaten beispielsweise habe ich viel Aufwand betrieben, damit wir trotz aller Unterschiede gemeinsam handeln in der EU und die Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine und Moldau und den 50-Milliarden-Hilfe für Kiew beschließen. Um das hinzukriegen, habe ich unter anderem ausführlich mit dem ungarischen Premier Orbàn gesprochen, dem ich politisch nicht unbedingt nahestehe.

In den USA wird neue Hilfe für die Ukraine gerade vom Kongress blockiert. Kann sich die Ukraine auch ohne die USA behaupten?

Ohne US-Hilfe würde es ganz schwer werden. Die USA sind eine militärische Großmacht mit dem größten Verteidigungsetat weltweit. Deutschland ist, um es mit Helmut Schmidt zu sagen, eine Mittelmacht. Dennoch haben wir allein in diesem Jahr mehr als sieben Milliarden Euro an Waffenhilfen für die Ukraine vorgesehen, weitere sechs Milliarden Euro für die nächsten Jahre kommen hinzu.  Auch Polen, Dänemark und die Niederlande tun viel in diese Richtung. Insgesamt bleibt es aber in Europa zu wenig. Mein Appell an die anderen EU-Staaten ist deshalb klar: Schaut, ob ihr eure Hilfen für die Ukraine nicht auch erhöhen könnt.

Was würde es für Europa bedeuten, wenn Putin in der Ukraine gewinnen sollte?

Die freie und unabhängige Ukraine wäre am Ende und der Frieden in ganz Europa akut gefährdet. Putin hat die jahrzehntealte Verständigung aufgekündigt, dass Grenzen nicht mehr mit Gewalt verschoben werden dürfen. Setzt er sich durch, wäre das die schwerste Erschütterung der UN-Charta seit 1945 und könnte weitere Autokraten ermuntern.

Was ist Putins Ziel? Russland in den Grenzen der Sowjetunion oder sogar noch darüber hinaus?

Putin hat mehrfach klar formuliert, dass er findet, die Ukraine und Belarus sollten keine eigenständigen Staaten sein. Er will die Rückkehr zu einem russischen Imperium mit allen Auswirkungen, die das für andere Staaten hat.

Ist es wahrscheinlich, dass er auch ein Nato-Land angreift?

Davon kann man ihm nur abraten. Die Nato ist das größte Militärbündnis der Welt – ein Angriff auf ein Nato-Land ist ein Angriff auf alle Nato-Länder. Wir werden jeden Quadratzentimeter Nato-Territorium gemeinsam verteidigen.

Ist die Nato stark genug?

Wir müssen stark genug sein. Deshalb streben alle Nato-Staaten an, zwei Prozent ihrer Wirtschaftsleistung für Verteidigung aufzuwenden. Deutschland hat das in diesem Jahr erreicht und wird es fortan immer tun. Gemeinsam werden wir in Europa mehr Geld für Verteidigung und Sicherheit aufwenden als Russland. Auch das ist eine klare Botschaft.

Begreifen die Deutschen den Ernst der Lage?

Das glaube ich schon. Viele machen sich gleichwohl Sorgen vor einer weiteren Eskalation des Krieges. Deshalb ist es wichtig zu sagen: Wir unterstützen die Ukraine, weil das auch unsere Sicherheit erhöht. Gleichzeitig werden wir es nicht zu einem Krieg zwischen der Nato und Russland kommen lassen. Und wir stimmen uns ganz eng mit unseren Verbündeten ab, allen voran mit den USA. Dass wir jetzt dauerhaft mehr Geld ausgeben müssen für unsere Verteidigung, das verstehen die allermeisten Deutschen.

Eine Minderheit sieht das anders: Die AfD und die Wagenknecht-Partei fordern ein Ende der Sanktionen und einen Ausgleich mit Russland. Reicht Putins Einfluss bis nach Deutschland?

Zunächst einmal möchte ich klar sagen, dass es Bürgerinnen und Bürger gibt, die nie auf die Idee kämen, die AfD oder Sahra Wagenknecht zu wählen, und dennoch skeptisch auf den Krieg und unsere Unterstützung blicken. Darüber müssen wir offen sprechen. Auch auf vielen Bürgerversammlungen höre ich häufig die Frage, ob es richtig ist, dass wir die Ukraine unterstützen. Meine Antwort darauf lautet: Ja, denn es geht auch um unsere Sicherheit, um unser Land und die Zukunft unserer Demokratie. All das wird bedroht durch den russischen Überfall auf die Ukraine. Wir dürfen nicht akzeptieren, dass ein Land sich einfach ein anderes einverleibt.

Und gibt es Putins Einfluss?

Na klar, in den sozialen Medien gibt es russische Beeinflussungsversuche, es gibt russische Propaganda. Und manche AfD-Abgeordneten klingen im Bundestag so, als hätten sie ihre Reden in Moskau abgeschrieben.

Es gibt immer wieder die Forderungen, mit Russland zu verhandeln, um den Krieg zu beenden. Sehen Sie darin derzeit einen Sinn?

Diplomatische Bemühungen laufen seit langem. Es hat Gespräche mit Vertretern aus aller Welt gegeben in mehreren Runden in Kopenhagen, Dschidda, Malta und Davos. Allerdings allein nach „Verhandlungen“ zu rufen, löst nicht das Problem. Wenn Verhandlungen bedeuten, dass die Ukraine einfach kapitulieren soll, sind sie sinnlos. Der russische Präsident hat das Land überfallen, um es sich einzuverleiben. Von diesem Ziel muss er abrücken. Putin kann den Krieg jederzeit beenden, indem er den Befehl erteilt, die Angriffe abzubrechen und Truppen abzuziehen.

Verteidigungsminister Boris Pistorius sagt, Deutschland müsse „kriegstüchtig“ werden. Warum meiden Sie diesen Begriff?

Klar ist: Die Bedrohung Europas durch Russland ist real – und daraus müssen wir Konsequenzen ziehen. Um genügend Munition und Waffen für die Landesverteidigung zur Verfügung zu haben, müssen wir die Verteidigungswirtschaft ausbauen. Am Montag dieser Woche haben wir deshalb in der Lüneburger Heide den Spatenstich für eine neue Munitionsfabrik gesetzt. Und nicht nur bei uns, auch anderswo in Europa weiten Unternehmen wie Rheinmetall ihre Produktion aus. Darum geht es jetzt.

Was muss die Verteidigungswirtschaft leisten?

Sie muss uns in die Lage versetzen, uns dauerhaft mit den nötigen Waffensystemen, mit Munition und Ersatzteilen zu versorgen. Dafür braucht es eine laufende Produktion, die in Krisenlagen dann auch jederzeit ausgeweitet werden kann – vom Ein-Schicht-Betrieb zum Drei-Schicht-Betrieb zum Beispiel.

Ist Verteidigungswirtschaft ein anderes Wort für Kriegswirtschaft?

Das Ziel ist doch klar: Wir wollen die Bundeswehr und die Nato so stark machen wie möglich. Wir wollen so stark sein, dass niemand uns angreift.

Früher war Sicherheit mit Russland die Devise, dann Sicherheit ohne Russland. Brauchen wir eine neue Doktrin, die sagt: Sicherheit vor Russland?

Auf absehbare Zeit sollten wir jedenfalls nicht auf ein friedlicheres Russland hoffen. Putins Russland hegt imperiale Träume, vor denen sich Europa schützen muss. Sicherheit in der Welt ist eigentlich nur miteinander zu gewährleisten, das ist die Erkenntnis aus dem 20. Jahrhundert – und sie bleibt im Grundsatz richtig. Sie funktioniert allerdings nur so lange, wie niemand eigene Eroberungspläne verfolgt.

Also Sicherheit gegen Russland, aber auch Sicherheit ohne Amerika?

Ich bin überzeugter Transatlantiker, ein entschiedener Anhänger der Nato und fest davon überzeugt, dass die Nato unsere Sicherheit auch in den nächsten Jahrzehnten gewährleisten wird. Wir müssen alles dafür tun, dass die transatlantische Zusammenarbeit, die uns 75 Jahre geschützt hat, stabil bleibt. Und wir sollten – ganz unabhängig von den Wahlen in den USA – den europäischen Pfeiler der NATO deutlich stärken. Daran arbeite ich ganz konkret, insbesondere mit Emmanuel Macron.

Hat Donald Trump nicht recht damit, dass die Europäer Trittbrettfahrer sind, die sich ihre Sicherheit von den USA bezahlen lassen?

Nein, denn es verkennt völlig, was die Nordatlantische Allianz nun ein dreiviertel Jahrhundert miteinander verbindet: Wir sind liberale Demokratien, Rechtsstaaten und soziale Marktwirtschaften. Wir folgen gemeinsamen Prinzipien, haben einen ähnlichen Blick auf die Welt und stellen den Menschen in den Mittelpunkt unserer Politik. Durch die Nato hat die Supermacht USA zugleich Einfluss in Europa gewonnen und Sicherheit garantiert. Richtig und wichtig ist, dass alle Nato-Partner ihren Teil dazu beitragen, dass das Bündnis so stark wie möglich ist – dafür gibt es das Zwei-Prozent-Ziel.

Aber es hat sich ja etwas geändert in Amerika. Trump möchte Nato-Länder, die nicht genug zahlen, Russland ausliefern. Das haben Sie scharf kritisiert. Müssen sich die Europäer darauf einstellen, ohne den US-Atomschutzschirm zu leben?

Von dieser Debatte halte ich gar nichts. Wir sollten übrigens auch nicht so tun, als sei die US-Wahl entschieden. Ich habe vergangene Woche jedenfalls einen US-Amtsinhaber getroffen, der sehr überzeugt wirkt, die Wahl im Herbst zu gewinnen. Unabhängig davon bleiben die Nato und die transatlantische Zusammenarbeit der zentrale Pfeiler unserer Sicherheit. Gleich zu Beginn meiner Kanzlerschaft habe ich entschieden, die nukleare Teilhabe Deutschlands im Rahmen der Nato weiterhin sicherzustellen. Deshalb schaffen wir gerade modernste amerikanische F-35-Kampfflugzeuge an.

Die Diskussion ist aber in vollem Gange. Ihr Finanzminister Christian Lindner verlangt, mit Frankreich über nuklearen Schutz zu reden.

Der nukleare Schutzschirm der Nato speist sich tatsächlich ja nicht nur aus US-Waffen. Und mit unseren französischen Freunden haben wir einen engen und kontinuierlichen strategischen Dialog. Ich warne aber ausdrücklich davor, in quasi vorauseilender Sorge den amerikanischen Schutz fahrlässig infrage zu stellen. Richtig ist doch: Die transatlantische Zusammenarbeit ist im Augenblick so eng wie seit vielen Jahren nicht.

Aber wir haben ja nur begrenzten Einfluss auf die USA. Emmanuel Macron hat deswegen schon vor Jahren versucht, eine Diskussion anzustoßen. Ist es nicht sinnvoll, mit ihm über eine europäische nukleare Abschreckung zu sprechen für den Fall, dass uns die USA abhandenkommen?

Jetzt geht es doch darum, dass die USA an unserer Seite bleiben.

Es klingt, als sei dieses Thema tabu. Wollen Sie die USA nicht verärgern, indem Sie über andere Schutzmächte nachdenken – oder sorgen Sie sich um das geltende Völkerrecht, das es Deutschland ja untersagt, nach Kernwaffen zu streben?

Deutschland hat vor langer Zeit entschieden, keine eigenen Atomwaffen anzustreben. Gleichzeitig sind wir aber eingebunden in die atomare Abschreckung der Nato. Alle Verantwortlichen in der Nato fänden es am besten, wenn es dabei bliebe. Im Fokus unserer Bemühungen sollte jetzt stehen, unsere konventionelle Verteidigungskraft zu stärken. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine findet mit konventionellen Waffensystemen statt.

Der Bundeswehr fehlt es auch an Personal. Unterstützen sie die Idee Ihres Verteidigungsministers nach einer Wehrpflicht „light“, wonach alle jungen Menschen zumindest gemustert werden?

Der Verteidigungsminister hat den Finger in eine Wunde gelegt: Der Bundeswehr gelingt es derzeit nicht, wie geplant auf 200.000 Soldaten zu kommen. Eine Rückkehr zur klassischen Wehrpflicht wird es aber nicht geben, dafür fehlt uns schlichtweg die Infrastruktur. Jetzt diskutiert das Verteidigungsministerium verschiedene Modelle anderer Länder. Wir müssen abwarten, ob dabei auch eine Idee für Deutschland dabei ist.

Ist Deutschland finanziell am Limit oder könnten wir für die Ukraine noch mehr leisten, wenn es die Lage erfordern sollte?

Wir geben allein in diesem Jahr 15 Milliarden Euro aus, um die Ukraine zu unterstützen. Das ist ein großer Kraftakt.

Werden Sie der Ukraine doch noch den Marschflugkörper „Taurus“ liefern?

Deutschland liefert die Waffen, auf die es jetzt ankommt. Wir sind nach den USA der größte Unterstützer der Ukraine und liefern, was der Verteidigung der Ukraine dient.

Das Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr wird bald aufgebraucht sein. Gibt es dann ein weiteres Sondervermögen oder werden die Verteidigungsausgaben zu Lasten anderer Ressorts erhöht?

Mein Ziel ist es, dass wir nach dem Auslaufen des Sondervermögens die Ausgaben für die Bundeswehr aus dem allgemeinen Haushalt finanzieren.

Das bedeutet, dass dann für andere Dinge kein Geld da ist. Mit dieser Botschaft wollen Sie in den Wahlkampf ziehen?

Wir brauchen eine starke Bundeswehr. Wenn wir zwei Prozent der Wirtschaftsleistung für Verteidigung ausgeben, um unsere Sicherheit zu bewahren, Frieden, Demokratie, Rechtsstaat und unseren Wohlstand zu sichern, verstehen das die allermeisten, davon bin ich überzeugt. Deutschland ist ein starkes Land, wir werden auch Geld für andere wichtigen Aufgaben aufbringen.

Aus der CDU kam der Vorschlag, das Sondervermögen zu verdreifachen. Können Sie sich vorstellen, mit der Union darüber zu verhandeln?

Noch weiß ich nicht, wie ernst dieser Vorschlag gemeint ist. Das bisherige Sondervermögen sollte den Anstoß geben für eine Stärkung der Bundeswehr. Von 2028 an wollen wir aus dem allgemeinen Haushalt bestreiten, was nötig ist, um das Zwei-Prozent-Ziel zu erreichen. Das ist nicht einfach, wir können das aber bewältigen.

Zum Krieg im Nahen Osten: Die israelische Kriegsführung stößt auch in den USA und Deutschland zunehmend auf Kritik. Wie lange nehmen Sie die Zerstörung und das Sterben im Gaza-Streifen noch hin?

Deutschland und die USA waren immer sehr klar. Nach dem brutalen Überfall der Hamas am 7. Oktober hat Israel das Recht, sich gegen den Terror der Hamas zu verteidigen. Diesen Standpunkt verteidigen wir auch in internationalen Gremien, wenn es Kritik an Israel gibt. Richtig ist, dass sich Israel dabei an die Regeln des Völkerrechts halten muss. Mit Blick auf Rafah bin ich gerade sehr besorgt über die möglichen Folgen der geplanten Bodenoffensive. Denn erst wurde die palästinensische Zivilbevölkerung aufgefordert, in den Süden zu fliehen, um Sicherheit zu finden. Und jetzt gibt es keine guten Fluchtalternativen in Gaza mehr. Und die humanitäre Lage ist katastrophal. Mehr als eine Million Menschen müssen versorgt werden. Ich habe Premier Netanyahu mehrfach aufgefordert, die humanitäre Lage erheblich zu verbessern – nach wie vor gibt es aber zu wenige Hilfslieferungen. Langfristig, davon sind wir überzeugt, kann nur eine Zwei-Staaten-Lösung echten Frieden in der Region bringen.

Aber Israels Regierung will jetzt, dass die Menschen Rafah verlassen, viele Menschen, die vorher schon aus anderen Orten geflohen sind. Wird die israelische Kriegsführung dem eigenen Anspruch noch gerecht?

Der US-Präsident hat dazu sehr mahnende Worte gesprochen, denen ich mich vorbehaltlos anschließe.