349 Tage Bundeskanzler sind 8376 Stunden Politik – Stand heute 15 Uhr. Wann, Herr Scholz, haben Sie das letzte Mal an die Wand gestarrt und über den Sinn von Politik gegrübelt?
Das ist schon sehr lange her. In der heutigen Zeit ist doch offensichtlich, dass demokratische Politik sinnvoll ist. Sie kann dazu beitragen, inmitten von Gefahren den Frieden zu sichern und die nötigen Entscheidungen herbeizuführen, damit unser Land nicht in eine große wirtschaftliche Krise gerät, weil kein Gas mehr aus Russland zu uns kommt.
Gab es in diesen 8376 Stunden Momente, in denen Sie dachten: Bin doch nicht der Richtige für diesen Höllenjob?
Nein.
Was war Ihre größte Leistung in diesem Jahr?
Das mögen andere beurteilen. Wenn ich mit ausländischen Staats- und Regierungschefs spreche, höre ich öfter, dass uns die wenigsten zugetraut hatten, ohne die Gaslieferungen aus Russland zurechtkommen zu können. Sie äußern sich beeindruckt, wie zügig und entschlossen wir umgesteuert haben. Oft fällt der Satz: Wenn ein Land so etwas schafft, dann Deutschland. Das gleiche höre ich übrigens auch auf die Frage, ob es uns gelingen wird, unsere Volkswirtschaft innerhalb von gerade einmal 25 Jahren klimaneutral aufzustellen.
Was war die schmerzhafteste Lehre?
Dass der Krieg zurück nach Europa gekommen ist. Der brutale Bruch des internationalen Rechts durch den russischen Machthaber, der sich Territorium seines Nachbarn unter den Nagel reißen will, ist schmerzhaft.
Am 27. Februar prägten Sie in der Sondersitzung des Bundestags den Begriff: „Zeitenwende“. Er sollte zur Überschrift des ganzen Jahres werden. War Ihnen an jenem Sonntag schon bewusst, wie tief und umfassend diese „Zeitenwende“ sein würde?
Ich habe bewusst von einer Zeitenwende gesprochen, weil mir der dramatische Bruch mit allem, was wir in den Jahrzehnten zuvor gekannt haben, offensichtlich schien. Russland versucht, wie in den früheren Jahrhunderten, als die Mächte Europas miteinander gewalttätig um die Macht stritten, mit Gewalt sein Territorium zu vergrößern. Krieg und Imperialismus sind zurück.
Stand die Ampel in diesem Jahr eher auf rot, gelb oder grün für Deutschland?
Sie stand auf grün – und es ist gut, dass sie von einem roten Kanzler geführt wird.
Wie anstrengend war das Jahr auf einer Skala von 1 bis 10?
Es ist ein sehr anstrengendes Jahr für alle Bürgerinnen und Bürger dieses Landes gewesen. Allerdings, und das sollten wir nicht vergessen, noch viel anstrengender für diejenigen, die in der Ukraine dem brutalen Bombenterror ausgesetzt sind und um ihr Leben und ihre Liebsten fürchten müssen. Die erleben müssen, wie Städte und Dörfer zerstört werden. Die Angst haben müssen vor einem sehr kalten Winter, weil die Gas- und Stromversorgung rücksichtslos zerstört wird.
Und wie anstrengend war Ihr Job?
Das waren schon intensive zwölf Monate. Ein Jahr, in dem es galt, mit Entschiedenheit und Besonnenheit zu handeln. Jede falsche oder übereilte Entscheidung hätte zu schrecklichen Konsequenzen für unser Land führen können.
Wer war anstrengender: Kollege Lindner oder Kollege Habeck?
Beide nicht. Ich schätze sie sehr.
Immerhin mussten Sie im Oktober den Atom-Streit der beiden mit einem Machtwort beenden: Seit Konrad Adenauer hat sich kein Kanzler mehr auf die Richtlinienkompetenz berufen...
Als die Entscheidung im Konsens nicht zu erreichen war, habe ich das in die Hand genommen. Das ist meine Aufgabe.
Sprachen Sie das ultimative Machtwort, um die Energieversorgung oder um die Koalition zu retten?
Die Entscheidung musste fallen, so oder so.
Im Hamburger Rathaus galt gerüchteweise nach Ihrem Amtsantritt 2011 die Abkürzung: OWD, wissen Sie, wofür das stand?
Ich habe es in Zeitungen gelesen, ja.
Es steht für „Olaf will das“.
(lacht).
Will Olaf Fracking in Niedersachsen zulassen?
Fracking ergibt bei uns wenig Sinn und ist im Übrigen mehrfach in Deutschland diskutiert und verworfen worden. Viele konservative Politiker haben Fracking immer wieder abgelehnt und auch Investoren zeigten kaum Interesse an diesem Geschäft: Bis das Gas aus den tiefen Schichten herausgepresst werden würde, werden wir mit dem Ausbau regenerativer Energien so weit sein, dass Aufwand, Risiko und Ertrag in einem viel zu schlechten Verhältnis stehen.
Also lieber abhängig von Anderen, als Verantwortung für sich selbst zu übernehmen?
Nein, aber verantwortlich handeln bedeutet, keinen Schimären nachzujagen. Deutschland steigt bis 2045 aus der Nutzung fossiler Ressourcen aus, um das Klima zu schützen. Wir wollen eine Zukunft ohne Kohle, Gas und Öl. Für die Prozesse in der hiesigen Industrie bedeutet das massive Veränderungen, für die es gewaltiger Investitionen bedarf.
Aber Gas bleibt die Brückentechnologie.
Übergangsweise ja. Aber Erdgas wollen wir zügig durch das Gas der Zukunft ersetzen: Wasserstoff. Wir sollten unsere Bemühungen darauf konzentrieren, Wasserstoff zu importieren und auch hierzulande durch Elektrolyse herzustellen.
8376 Stunden Kanzlerschaft bedeuten im Jahr 2022 auch: fast 50 Wochen im Krisenmodus. Wie viele Stunden hat Ihre Arbeitswoche?
Es gehört zu meinen persönlichen Schutzmechanismen, dass ich sie nicht zähle.
Vor welchem internationalen Treffen hatten Sie am meisten Respekt?
Als Kanzler sollte man alle diese Termine ernst nehmen und da nicht zu lässig rangehen. Ich bin gerne gut vorbereitet.
Denkt man nicht manchmal im Flieger auf dem Weg nach Irgendwo: Wäre schön, wenn dieser Kelch schon an mir vorüber gegangen wäre?
Nein. Jetzt ist es Zeit, offen in die Welt zu blicken und zu verstehen, dass die Länder der G7 in den kommenden Jahrzehnten an relativer Bedeutung verlieren werden. Wir müssen erkennen, dass viele aufstrebende Länder in Asien, Afrika und Südamerika politische Mitsprache einfordern – nicht nur wegen ihres wachsenden demographischen, sondern auch wegen ihres wirtschaftlichen Gewichts. Deshalb war es wichtig, die demokratischen Repräsentanten aus diesen Regionen der Welt zum G7-Gipfel nach Elmau einzuladen. Dass dann auf dem G 20-Gipfel in Bali ein Beschluss der Weltgemeinschaft zustande kommen konnte, der Russland sehr alleine hat dastehen lassen, liegt an genau diesem Engagement. Das erreicht man nur, wenn man mit vielen internationalen Partnerinnen und Partnern auf Augenhöhe spricht.
Auf Bali entstand ein ziemlich selbstbewusstes Bild von Ihnen: Die Mächtigen der Welt schauen auf den deutschen Kanzler. Was haben Sie vor diesem Moment gesagt oder getan?
Mehrere Raketen waren in Polen eingeschlagen und haben zwei Menschen getötet, das war eine sehr ernste Situation. Darüber haben wir an dem Morgen gesprochen – da ging es hin und her.
Auf dem Bild gab es aber nur das Hin zum Bundeskanzler. Ist dieses Bild ein bewusst gesetztes Symbol, dass Deutschland jetzt eine Führungsmacht ist?
Deutschland ist die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt und das größte Land in der Europäischen Union. Deshalb haben wir eine Aufgabe wahrzunehmen – und dieser Aufgabe stelle ich mich als Kanzler unseres Landes.
„Aufgabe“ klingt bescheiden. Was ist mit: Führung?
Man muss schon eine Idee haben, wohin man will, aber sie ist immer auf ein Zusammenspiel mit anderen ausgerichtet. Niemand ist allein auf der Welt. Das gilt für die Europäische Union, in der wir dafür sorgen müssen, dass Europa gemeinsam vorankommt, um geopolitisch einflussreich zu bleiben. Und das gilt noch stärker für die Welt: Wir brauchen ein gutes Miteinander mit den Ländern in Asien, Afrika und Südamerikas – und müssen zugleich unsere transatlantische Freundschaft mit den USA und Kanada pflegen.
Wer hat auf der Weltbühne der G20 das netteste Lächeln?
Meistens die Gastgeber.
Wer sitzt am längsten an der Bar?
Da fragen Sie den Falschen. Ehrlich gesagt, gab es keine gemeinsame Sitzung an der Bar.
… nicht mal auf eine Cola?
Das ist mit der einen oder dem anderen schon mal drin – die Delegationen wohnen aber oft weit verstreut in unterschiedlichen Hotels.
Auf Bali pflanzten Sie eine Mangrove, in Vietnam wurden Sie Namenspate einer Orchidee. Haben Sie eine „Renanthera Olaf Scholz“ nach Berlin mitgebracht?
Die Orchidee wird nachgeschickt.
Bringen Sie Ihrer Frau Britta Ernst von Ihren Reisen was mit? Wenigstens eine Hotel-Seife aus Beijing?
Ich bringe meiner Frau öfter mal was mit, aber keine Seife.
Wer hat den härteren Händedruck: Putin, Xi oder Erdogan?
Weiß ich nicht, darauf achte ich gar nicht.
Im Februar saßen Sie vier Stunden mit Putin an dieser bizarr langen Corona-Tafel. Hat Putin Sie auf Deutsch begrüßt? Und gab es in den vier Stunden wenigstens was zu essen?
Er wechselt zwischen Deutsch und Russisch. Meine Russisch-Kenntnisse beschränken sich auf acht Stunden Volkshochschulkurs. Und es gab etwas zu essen, die Verpflegung bei diesem Treffen ist mir allerdings nicht in Erinnerung geblieben.
Meistens telefonieren Sie – man hört: gern über Stunden: Bei wem ist die Stille in der Leitung schwerer zu ertragen, bei Xi oder bei Putin?
In diesen Gesprächen gibt es keine Zeit für Schweigen.
Es wird die ganze Zeit gesprochen?
... und übersetzt, ja.
War das Telefonat im September das letzte, das Sie mit Putin geführt haben?
Seither haben wir noch nicht wieder miteinander gesprochen.
Zeigen Sie ihm dann die roten Linien auf? Etwa: beim Einsatz von Nuklearwaffen wird der Westen …
In diesen Gesprächen ist es wichtig, die Dinge ganz klar anzusprechen. Drumherum zu reden hilft niemandem weiter. Natürlich habe ich Putin in den Gesprächen wiederholt aufgefordert, den Krieg zu beenden, seine Truppen zurückzuzuziehen und so den Weg für Friedensgespräche zu ebnen.
Glauben Sie, dass der Krieg eher noch Monate oder doch eher Jahre dauern wird?
Die Schrecken und die Grausamkeit des Krieges verbieten es, darüber zu spekulieren. Die Ukraine kann sich darauf verlassen, dass wir sie weiterhin umfangreich finanziell, humanitär und auch mit Waffen unterstützen werden, und zwar so lange, wie es nötig sein wird.
Wie wird dieser Krieg enden?
Russland darf diesen Krieg nicht gewinnen. Deshalb war es so wichtig, dass die internationale Staatengemeinschaft mit Blick auf Russland unmissverständlich formuliert hat: Es darf keinen Einsatz von Nuklearwaffen geben! Darauf habe ich mich bei meinem China-Besuch mit Staatschef Xi Jinping verständigt, und das haben auch Xi und US-Präsident Joe Biden wenige Tage später bei ihrem Treffen auf Bali miteinander bekräftigt.
Aber noch mal: Wie endet dieser Krieg? Mit einem Rückzug Russlands auf die Grenzen von 2014, also Ukraine minus Krim, wie es Henry Kissinger schon kurz nach Kriegsbeginn prognostizierte?
Der Krieg verläuft für Russland jedenfalls ganz anders, als Moskau das geplant hatte. Irgendwann muss der Zeitpunkt kommen, an dem auch Russland nach einem Weg aus dieser fatalen Lage sucht. Zentral ist der Rückzug der Truppen.
Wird die Bundesrepublik Deutschland bis zum Ende des Kriegs definitiv keine Panzer oder Flugzeuge liefern?
Wir handeln eng abgestimmt mit unseren Verbündeten. Immer. Und alle wissen, dass wir mittlerweile zu denen zählen, die die Ukraine am stärksten unterstützen. Übrigens auch mit Blick auf gelieferte Waffen, vor allem Artillerie und Luftverteidigung: Unsere Panzerhaubitzen und Flak-Panzer Gepard sind sehr wirkungsvoll und neben den USA und Großbritannien sind wir die einzigen, die Mehrfachraketenwerfer liefern. Sie gehören zu dem Leistungsfähigsten, was eingesetzt wird. Hinzu kommt das extrem effiziente deutsche Flugabwehrsystem IRIS-T, das noch nicht einmal die Bundeswehr besitzt – damit lässt sich eine Großstadt vor Angriffen schützen.
Joe Biden nennt Wladimir Putin einen Kriegsverbrecher – ist er das auch aus Ihrer Sicht?
Der Krieg in der Ukraine verletzt alle völkerrechtlichen Regeln und Wladimir Putin ist für diesen Krieg verantwortlich. Es sind dort unglaublich grausame Kriegsverbrechen verübt worden. Wir werden dabei helfen, die Verbrechen aufzuklären, die Verantwortlichen zu identifizieren und zur Verantwortung zu ziehen.
In vier Wochen ist Weihnachten, das Fest des Friedens. Sehen Sie eine Chance für eine Waffenruhe wenigstens für die Feiertage?
Das weiß ich nicht. Das russische Militär versucht gerade, mit schweren Raketenangriffen den ukrainischen Widerstandsgeist zu brechen, aber das gelingt erkennbar nicht. Trotz all der furchtbaren Zerstörung. Auch die Hoffnung Russlands, eine neue Fluchtbewegung aus der Ukraine könnte die Unterstützung der europäischen Länder gefährden, erweist sich als Irrtum. Wir wissen aber nicht, welche Schlüsse Russland aus seinem Scheitern zieht. Gerade jetzt kann man keine verlässlichen Vorhersagen machen.
Warum bitten Sie Angela Merkel nicht, eine Vermittlerrolle zu übernehmen?
Ich tausche mich mit meiner Vorgängerin aus. Aber machen wir uns nichts vor: Es gibt keine Kommunikationsprobleme mit dem russischen Machthaber. Putin verfolgt rücksichtslos Ziele, die wir nicht akzeptieren können.
Wolfgang Schäuble sagte kürzlich, er sehe Angela Merkel nicht als große Kanzlerin. Sehen Sie sie in einer Reihe mit Adenauer, Brandt, Kohl?
Angela Merkel kann ganz zuversichtlich auf das Urteil der Geschichtsbücher setzen.
Herr Bundeskanzler, in einem solch dramatischen Jahr können sich auch eigene Maßstäbe verschieben. Wie schaltet man um zwischen Weltpolitik und Bürgergeld?
Man tut es.
Ein Kompromiss mit der Union zum Bürgergeld wurde nun gefunden. Aber mal ehrlich: Ging es am Ende nicht vor allem darum, endlich den Hass- Begriff Hartz IV loszuwerden?
Diese Reform ist ein Meilenstein der Sozialpolitik in Deutschland. Es geht darum, die Bürgerinnen und Bürger, die ihren Job verloren haben, bei der Suche nach einem neuen Arbeitsplatz zu unterstützen. Diese Reform stellt die Hilfe für ungelernte Langzeitarbeitslose in den Vordergrund. Und trotz der komplizierten Gesetzgebungsanforderungen, die sich aus dem Zusammenspiel des Bundestags mit drei Koalitionsparteien und 16 Ländern mit sehr unterschiedlichen Regierungskonstellationen ergibt, war ich stets zuversichtlich, dass wir diese Reform durchsetzen werden.
Sie haben gutes Regieren versprochen, verantwortungsvoll, solide. Doch nach Tankrabatt, Bundeswehr-Milliarden, diversen Hilfspaketen und Gaspreisdeckelungen wird die Neuverschuldung Deutschlands 2023 erheblich höher ausfallen als erwartet: Laut neuester Berechnungen reißt Finanzminister Christian Lindner die vorgeschriebene Defizit-Obergrenze von drei Prozent. Leben wir auf zu großem Fuß?
Ich bin überzeugt, wie alle wissen, dass wir mit unserem Geld gut haushalten müssen. Die Schuldenbremse halte ich deshalb grundsätzlich für richtig. Die Regeln des Grundgesetzes bieten gleichzeitig die nötige Flexibilität, in einer Krisensituation angemessen zu agieren. So haben wir es während der Pandemie gehalten, und das gilt auch heute. Um die hohen Preise für Gas, Fernwärme und Strom für die Bürgerinnen und Bürger und die Unternehmen abzufedern, haben wir den Wirtschafts- und Stabilisierungsfonds mit 200 Milliarden Euro ausgestattet. Gleichzeitig arbeiten wir fieberhaft daran, die Gaspreise auf Dauer wieder runterzukriegen, indem wir das Angebot erhöhen durch den Bau von LNG-Terminals an der Küste.
Die Terminals werden nun aber fast doppelt so teuer …
Das ist der Preis.
Gehört zu verantwortungsvoller Politik nicht auch zu sagen, dass wir nicht alle Probleme mit der Doppelwumms-Bazooka lösen können?
Deutschland hat eine sehr leistungsfähige Volkswirtschaft. Wir besitzen die Kraft und das Geschick zu tun, was nötig ist. Unter den G7-Staaten besitzt die Bundesrepublik die geringste Verschuldung. Auch nach dieser Krise werden wir weniger verschuldet sein als die anderen G7-Länder vor der Krise.
Wissen Sie, wie hoch die Schulden der Bundesrepublik im November 2022 sind?
Mehr als 2,4 Billionen Euro dürften es bei Bund, Ländern und Kommunen zusammen sein.
Sie sprechen stets leise, aber Ihre Politik- Begriffe sind laut: Bazooka, Zeitenwende, Doppel-Wumms: Mussten wir deshalb manchmal in Jahr Eins mit Scholz so lange auf Entscheidungen warten – weil Sie noch dem richtigen Begriff finden mussten?
Na, das ist mir jetzt zu spielerisch. Ich habe immer zügig entschieden.
Mit „You´ll never walk alone“ erklärten Sie Ihre Politik mit dem Leitmotiv des FC Liverpool. Herr Bundeskanzler, schauen Sie die Spiele der Deutschen Nationalmannschaft?
Ich habe mir vorgenommen, wenn es meine Terminlage zulässt, die Spiele der deutschen Elf anzuschauen.
Fahren Sie nach Katar, wenn Deutschland ins Finale kommt?
Das entscheide ich, wenn es so weit ist.
Der DFB hat sich beim bizarren Streit um die „One Love“-Binde den Wünschen der FIFA gebeugt. Finden Sie das richtig?
Ich habe mich gefreut, dass unsere Fußballer ein Zeichen für eine offene Gesellschaft setzen wollten. Und es bleibt festzuhalten: Die Spieler des deutschen Teams haben einen Weg gefunden, ein deutliches Zeichen zu setzen.
… aber trotzdem kein Zeichen gesetzt. Im Gegensatz zur iranischen Mannschaft, die die eigene Nationalhymne aus Protest verweigerte …
… ein starkes und mutiges Zeichen!
Werden Sie, wenn Sie denn zum Finale fliegen, im Stadion die „One Love Binde“ tragen?
Alles zu seiner Zeit.
Der weltgrößte Flüssiggasproduzent Qatar Energy und der chinesische Staatskonzern Sinopec haben diese Woche ein Abkommen über den Export von Flüssig-Gas im Umfang von 108 Millionen Tonnen über 27 Jahre geschlossen – einen der größten Gaslieferverträge überhaupt. Warum hat das für Deutschland nicht geklappt?
Stimmt so nicht. Deutsche Unternehmen sind in sehr konkreten Gesprächen, über die ich Ihnen mehr erzählen könnte, als ich werde.
Wann konnten Sie das letzte Mal ausschlafen?
Es ist oft so, dass die Termine das nicht zulassen. Aber es ist auch nicht so, als müsste ich schlaflos durch diese Zeit kommen.
Wie viele Menschen können Sie nachts anrufen und um Rat fragen? Wie viele gibt es, denen Sie absolut vertrauen?
Da ist vor allem meine Frau. Aber natürlich gibt es auch viele andere – hier im Kanzleramt und auch Freunde, denen ich immer vertraue.
Wann haben Sie zuletzt geweint?
Weiß ich nicht …
… oder bereut? Manche Entscheidung trafen Sie einsam: Etwa, als Sie einen Terminal-Teil des Hamburger Hafens gegen den Rat von sechs Ministerien an chinesische Investoren verkauften. Ist ein Deal wichtiger als Moral?
Fast nichts, was dazu öffentlich angemerkt wurde, übersteht einen Faktencheck. Der Hamburger Hafen dürfte einer der größten Häfen sein, die fast vollständig in Staatsbesitz sind. Darauf ist Hamburg sehr stolz. Verhandelt wurde über eine Minderheitsbeteiligung an einem kleinen Terminal – einer unter vielen Terminals. Übrigens gibt es, anders als mancher behauptet, auch europäische Unternehmen, die an chinesischen Hafen-Terminals beteiligt sind.
Das Berliner Regierungsviertel ist das angenehmste, transparenteste Regierungsviertel der Welt – Peking das genaue Gegenteil. Fühlt man sich klein, wenn man in der Verbotenen Stadt den Großen Führer Xi Jinping trifft?
Es war nicht mein erster Besuch in Beijing. Und klar: Der ganze Apparat ist in vielerlei Hinsicht das Gegenteil Berlins. Davon lasse ich mich aber nicht beeindrucken.
Beeindruckend ist aber schon die Vorstellung, dass es zum Konflikt mit China kommen könnte. Hätte Deutschland die Kraft, einen Handelskrieg mit China zu überstehen?
Zunächst einmal: Die Globalisierung hat weltweit Wohlstand geschaffen und Deutschland ist global vielleicht die am stärksten vernetzte Volkswirtschaft. Mit Global Playern und einem fantastischen Mittelstand. Unsere Wirtschaft kann ihre Kraft nur entfalten, wenn sie den ganzen Weltmarkt im Blick behält. Wie wichtig dabei der chinesische Markt ist, bedarf keiner Erklärung. Gleichzeitig gilt das Ziel, von niemandem abhängig zu sein. Eine alte Volksweisheit lautet: Nicht alle Eier in einen Korb legen. Mich wundert deshalb, wie abhängig sich manche Unternehmen von einzelnen Märkten gemacht und die Risiken dabei völlig ignoriert haben. Für mich bedeutet das auch, in Bezug auf Rohstoffe, etwa bei Lithium oder Kobalt, aktiver zu werden. Auch beim Bergbau können wir uns eine bequeme Haltung nicht mehr leisten.
Bergbau ja, Fracking nein?
Es geht um Diversifizierung, nicht um Fracking.
Wir sprachen bereits über Hamburg, die Stadt Ihrer Kindheit. Verraten Sie uns den Geruch Ihrer Heimat?
An einen speziellen Geruch kann ich mich nicht mehr erinnern, aber daran, dass ich sehr glücklich aufgewachsen bin.
Wie dürfen wir uns Olaf Scholz als Schüler vorstellen?
Als sehr guten.
Schwächstes Fach?
Sport.
Hat es gekränkt, wenn Sie als einer der Letzten in die Mannschaft gewählt wurden?
Na, das hat mich schon herausgefordert. Und ich habe es nicht ohne Weiteres akzeptiert, trotz meiner nicht zufriedenstellenden sportlichen Leistungen. Keine Sorge – ich war ja auch Klassen- und Schulsprecher.
Waren Sie nicht so betont unbeeindruckt wie heute, wenn es um Kritik oder Niederlage geht?
Ach, das können andere sicherlich besser beantworten. Heute wundern sich bestimmt manche Mitschüler, dass ich inzwischen regelmäßig Sport treibe. Das fing aber erst mit 40 an.
Sie spielten erst Flöte, dann Oboe: In einem Orchester gibt die Oboe das A vor, und damit die Stimmung. Aber die Führung kommt von der 1. Geige. Hätten Sie lieber Geige gelernt?
Nein. Ich habe gerne Oboe gespielt, auch wenn ich sie seit dem Abitur nicht mehr angefasst habe. Bis heute schätze ich das Spiel eines guten Oboisten.
Es heißt, Ihr Kater hieß Burle – hatte auch der junge Olaf einen Spitznamen?
Der Kater hieß Morle, das wurde irgendwann mal in einer Zeitung falsch berichtet und wird seither immer wieder abgeschrieben.
Und Ihr Spitzname?
Ich hatte keinen Spitznamen, an den ich mich erinnern würde.
Was war wichtiger: Das erste Auto oder die erste Freundin?
Ich hatte erst sehr spät ein erstes Auto, da war ich schon Rechtsanwalt.
Verraten Sie uns den Soundtrack Ihrer Jugend?
Radio – meine Brüder waren musikalisch engagierter als ich.
Welches Buch hat Ihnen als Jugendlicher die Welt erklärt?
Da gab es viele – prägend waren die Abenteuer Karl Mays.
Was waren die drei wichtigsten Werte im Elternhaus Scholz?
Ehrlichkeit. Fleiß. Und eine große Zuneigung zwischen Eltern und Kindern.
Wer war strenger, Vater oder Mutter?
Beide nicht.
Ihr Vater erzählt, Sie seien schon als Schüler ein Besserwisser gewesen – kam dieser Vorwurf im Leben öfter auf?
Es kann sein, dass mir dieser Vorwurf schon mal begegnet ist. Ich bin damit natürlich nicht einverstanden.
Sie waren der erste in der Familie, der Abitur machte, studierten dann Jura. Eine Bilderbuchkarriere sozialdemokratischer Bildungspolitik: Jeder bekommt die Chance, es zu schaffen: Ist uns dieser Traum in Deutschland abhanden gekommen?
Nein, mir und vielen anderen ganz sicher nicht. Chancengerechtigkeit gehört zu unseren wichtigsten Werten. Wenn man sich ansieht, wie viele Schülerinnen und Schüler in diesem Land Abitur machen, sind wir weit gekommen. Es darf bei der Bildung keine Hindernisse geben. Wobei ich ausdrücklich nicht sage: jeder muss den höchsten Schulabschluss erreichen. Eine Berufsausbildung ist auch viel wert. In Hamburg haben wir mit Stadtteilschulen, kostenlosen Kitas, Ganztagsschulen und Jugendberufsagenturen bewiesen, wie weit man mit moderner Bildungspolitik kommen kann.
Wie steht es um Ihren Glauben? Bei der Vereidigung haben Sie auf den Zusatz „So war mir Gott helfe“ verzichtet. Braucht Olaf Scholz keinen Beistand von oben?
Mein Amt bringt eine große Verantwortung mit sich – und die Verantwortung trage ich.
Auf einer Skala von 1 bis 10 – wie eitel ist Olaf Scholz?
Ich finde mich nicht eitel.
Können Sie gut verzeihen?
Ja.
Auch Ihrer Partei?
Sehr.
Auch Kevin Kühnert?
Muss ich gar nicht.
Mit 17 gingen Sie zu den JUSOS – wofür oder wogegen sind Sie auf die Straße gegangen?
Für moderne Schulpolitik und gegen Atomkraftwerke. Und ich habe mich in der Friedensbewegung engagiert.
Wenn Sie heute 17 wären: Würden Sie sich auf die Straße oder an ein Kunstwerk kleben?
Das ist eine Frage, die man einem Anfang 60-Jährigen nicht stellen sollte.
Weil?
Weil es unangemessen ist, aus meinem Blickwinkel über die Perspektive eines 17-Jährigen zu urteilen. Aber ich will klar sagen, dass ich diese Aktionen für verfehlt halte.
Eine der größten Niederlagen Ihrer Karriere war die Niederlage bei der Wahl zum SPD-Vorsitz. Doch Olaf Scholz nahm nur seine Aktentasche, lief ins Finanzministerium und machte weiter: Woher kommen diese masochistischen Steherqualitäten? Sie hätten es mal mit Boxen versuchen sollen!
Habe ich einmal ausprobiert. Es hat mir auch gefallen, aber nicht in mein Leben gepasst.
Gewähren Sie uns einen Blick in Ihre Glaskugel der nächsten drei Jahre der Ampel-Regierung?
Na, mal sehen.
Tempolimit auf der deutschen Autobahn …
… ist SPD-Beschlusslage, steht allerdings nicht im Koalitionsvertrag.
Vor dem Reichstag wird gekifft …
… wir machen möglich, dass Cannabis legal konsumiert werden darf.
Haben Sie schon mal inhaliert?
Nein.
Die letzte verbliebene Röhre von Nordstream 2 geht doch in Betrieb …
… das halte ich für schwer vorstellbar.
Die Inflation liegt bei 2 Prozent …
… wollen wir unbedingt erreichen.
Um Europa wird eine Mauer errichtet …
… nein.
Kommen wir zum Leben eines Kanzlers: Wie viele Emails erreichen Sie am Tag?
So viele, dass mir nicht alle vorgelegt werden.
Wie viele Telefone tragen Sie bei sich?
Eins.
Schalten Sie Ihr Handy nachts aus?
Nein.
Kennen Sie Lindners Nummer auswendig?
Kaum jemand kennt heute noch Telefonnummern auswendig.
Auch nicht die Nummer Ihrer Frau?
Nicht mehr. Seit sie eine neue Nummer hat, ist sie einfach eingespeichert im Handy.
Besorgen Sie die Weihnachtsgeschenke online oder im Laden?
Meine Frau und ich schenken uns einander zu Weihnachten nichts. Wir genießen es, dann Zeit füreinander zu haben.
Wo feiern Sie Weihnachten?
In der Sonne.
Welches Lied singen Sie am liebsten?
Ich singe nicht so gut.
Elektrische Kerzen oder aus Wachs?
Keine elektrischen.
Gans oder Würstchen?
Eher Gans, aber nicht an Heiligabend.
Besitzen Sie den Schlüssel fürs Kanzleramt?
Nein.
Kennen Sie das Wifi-Passwort des Kanzleramts?
Meine Geräte kennen es.
Es läuft gerade eine Anfrage der Union zur Beleuchtung im Kanzleramt. Ist es im Maschinenraum der deutschen Demokratie zu hell oder zu dunkel?
Wir orientieren uns an den geltenden Regeln.
777 Millionen Euro soll der Luxus-Erweiterungsbau für das Kanzleramt kosten. Im Preis enthalten: 400 zusätzliche Büros, über fünf Geschosse reichende Wintergärten und ein Hubschrauberlandeplatz – brauchen Sie das in Zeiten von hybridem Arbeiten wirklich?
Einen Landeplatz gibt es bereits – und die Büros auch. Allerdings verstreut über die Stadt. Wir wollen den Beschäftigten des Kanzleramts ermöglichen, an einem gemeinsamen Ort zu arbeiten. Über den Anbau haben unsere Vorgänger entschieden. Und es geht um eine langfristige Perspektive – man plant für kommende Generationen und Aufgaben. Der Bau vollendet zudem ein architektonisches Zeichen der Demokratie – das „Band des Bundes“ verläuft quer zu Hitlers geplanter größenwahnsinniger faschistischer Prachtstraße.
Was ist Ihr Lieblingsgericht in der Kantine?
Ich esse fast alles.
Wie halten Sie sich fit?
Ich rudere und ich laufe.
Mit Schuhen der Firma „Lunge“, einem Hamburger Traditionsunternehmen. Diese gelten als wenig komfortabel, dafür aber als stabil, gesund und widerstandfähig. Ist Kanzler Scholz ein wenig wie seine Sohle?
Ha!
Was würde der 16-jährige Olaf über den Mann sagen, der heute hier sitzt?
Das weiß ich nicht. Man sollte nicht der Neigung erliegen, sich nachträglich in ein zu gütiges Licht zu rücken.
Olaf oder Scholz?
(lacht.) Eher Olaf.
Tee oder Kaffee?
Tee.
Morgen oder Abend?
Abend.
Still oder sprudelig?
Still.
Wecker oder iPhone?
iPhone.
Elbe oder Spree?
Ich bin an Elbe und Alster aufgewachsen. Die Havel gefällt mir auch gut, seit ich dort wohne.
Fischbrötchen oder Currywurst?
Beides schmeckt.
An der Nordseeküste oder Dickes B?
(lacht)
Rote Flora oder Rotes Rathaus?
Ich war schon in beiden. Am liebsten aber: Hamburger Rathaus.
G20 oder Love Parade?
Bei mehreren G20-Treffen war ich, bei der Love Parade nie.
Optimist oder Pessimist?
Optimist.
Menschliche oder Künstliche Intelligenz?
Menschliche.
Am Gang oder am Fenster?
Fenster.
Rechter oder linker Ruderarm?
Ich rudere gleichmäßig.
Trump oder DeSantis?
Biden.
Habeck oder Baerbock?
Beide.
Wirklich?
Wir haben eine gute Koalition mit Frau Baerbock, Herrn Habeck und Herrn Lindner.
Welcher Bowie-Song beschreibt das erste Jahr der Ampelregierung besser: „Heroes“ oder „Under Pressure“?
„Heroes“.
Herr Bundeskanzler, Sie wirken in diesem Gespräch nicht wie ein Mann, der viel vergisst. Warum haben Sie in der mehrstündigen Befragung zur Cum-Ex-Affäre so oft auf „Erinnerungslücken“ verwiesen?
Weil ich sehr oft dieselbe Frage gestellt bekam – und es um einen sehr kurzen Sachverhalt ging.
An Ihrem 60. Geburtstag sagten Sie: „Ich hoffe, mir bleiben noch zehn gute Jahre in der Politik.“ Heißt das, Sie wollen noch einmal antreten – oder gilt nach nunmehr 8377 Stunden Kanzlerschaft die Erkenntnis: „Schrecklich amüsant, aber in Zukunft ohne mich!“
Nein. Ich mache diesen Job wirklich gerne – und gerne länger.