Herr Bundeskanzler, gibt es Momente, in denen Sie der Ampel nachtrauern?
Nein, bislang nicht. All die nun auftauchenden Berichte über das, was die FDP geplant hatte, um die Koalition zu zerstören, bestätigen mich in dem Gefühl: Es war richtig, den Bundesminister der Finanzen Lindner zu entlassen.
Nach Lage der Dinge werden Sie als Kurzzeit-Kanzler in die Geschichte eingehen. Der Rückstand der SPD in den Umfragen ist enorm.
Na, die Prognosen lagen auch vor der vergangenen Bundestagswahl gründlich daneben. Ich bin ganz zuversichtlich, dass die SPD am Ende wieder vorne liegen kann und ich abermals ein Mandat dafür erhalte, die Regierung zu führen.
Boris Pistorius ist beliebter. Haben Sie erwogen, ihm die Kanzlerkandidatur zu überlassen?
Natürlich habe ich mich geprüft. Schließlich hat es viel Kraft gekostet, die Ampel über diese drei Jahre zusammenzuhalten und zu führen. Trotz all dem, was die Koalition zustande gebracht hat, war das Bild der Regierung von Streit und Uneinigkeit geprägt. Deshalb habe ich natürlich genau überlegt, ob es richtig ist, nochmal anzutreten. Mit meinen Parteichefs Saskia Esken und Lars Klingbeil, Fraktionschef Rolf Mützenich und, wie Sie wissen, mit der Unterstützung von Boris Pistorius haben wir entschieden, dass ich antrete.
Angenommen, Sie werden wieder Kanzler: Haben Sie ein Rezept für die siechende Wirtschaft?
Ja. Erstens müssen die Erneuerbaren Energien und unser Stromnetz weiter schnell ausgebaut werden. Damit Verbraucherinnen, Verbraucher und Unternehmen wegen der hohen Investitionsanforderungen nicht stark belastet werden, will ich einen Deckel von drei Cent auf die Übertragungsnetzentgelte legen. Zweitens möchte ich Anreize schaffen, damit Unternehmen wieder mehr in Deutschland investieren – mit einem Innovationsbonus. Und mein drittes Projekt ist ein großer Deutschlandfonds. 100 Milliarden Euro soll er enthalten und zusätzlich um privates Kapital werben. Das Kapital kann dort investiert, wo wir es für die wirtschaftliche Entwicklung brauchen, beispielsweise in das Fernwärmenetz oder in bezahlbare Wohnungen.
Rettet das unsere Autoindustrie?
Die Automobilbranche erlebt gerade einen radikalen Umbruch – weg vom Verbrenner und hin zum E-Auto. Alle Hersteller haben Milliarden in die Entwicklung und den Bau solcher Fahrzeuge gesteckt. Noch schwächelt aber die Nachfrage, was manche Autobauer vor Probleme stellt: Ford in Köln zum Beispiel oder auch Volkswagen. Eins ist klar für mich: Ich bin dagegen, dass Beschäftigte entlassen werden sollen, nur um Geld zu sparen. Grundsätzlich bleibt es richtig, den Umbruch entschieden anzugehen und auf die Elektromobilität zu setzen.
Was macht Sie so sicher?
Der Klimawandel lässt uns gar keine andere Wahl. Wichtig ist es jetzt, die Rahmenbedingungen für die Transformation zu verbessern. Ich halte überhaupt nichts davon, wenn die EU jetzt Hersteller mit Milliarden-schwere Strafzahlungen droht, falls sie die CO2-Ziele im nächsten Jahr nicht ganz erreichen. Denn alle haben sich längst auf den Weg gemacht, nur der Markt wächst nicht so schnell wie erhofft. Statt Strafzahlungen sollten die Hersteller das Geld besser in die weitere Entwicklung der E-Mobilität investieren können. Zweiter Punkt: Es sollte keine Strafzölle auf Elektro-Autos aus China geben, denn das würde sich auch negativ auf Exporte unserer hiesigen Hersteller auswirken. Ich erwarte, dass es eine gütliche Einigung zwischen der EU-Kommission und China gibt, die beiden Seiten gerecht wird.
Hat nicht auch die Ampel zu der Misere beigetragen? Das Verwirrspiel um die Förderung für E-Autos hat viele Käufer abgeschreckt.
Zumindest gibt es den Vorwurf, auch wenn die Förderung immer befristet gedacht war. Denn irgendwann muss der Markt ja ohne finanzielle Unterstützung funktionieren. Ziel muss natürlich sein, dass Elektroautos nicht wesentlich teurer sind als Verbrenner. Die Käuferinnen und Käufer müssen sich ein Fahrzeug ja leisten können. Wenn ich sehe, was BMW, Mercedes oder Volkswagen bald auf den Markt bringen, wird es viele interessante Angebote geben.
Klingt nicht, als wollten Sie die Prämie wieder einführen.
Fast zwei Drittel der Neuwagen werden in Deutschland als Dienstwagen verkauft. Deshalb wollen wir den Kauf von E-Autos dadurch fördern, dass wir die Abschreibungsmöglichkeiten für Unternehmen verbessern. Die meisten Bürgerinnen und Bürger kaufen ihr Auto als Gebrauchten, da würde eine Prämie gar nicht helfen. Eine bessere Lade-Infrastruktur indes schon: Wir haben ein Gesetz auf den Weg gebracht, damit es bald an fast allen Tankstellen Schnellladesäulen gibt. Innerhalb kurzer Zeit ist ein E-Auto dann zu 80 Prozent geladen, auch das erhöht die Akzeptanz.
Wie stark will sich die Regierung in Unternehmensentscheidungen einmischen? Arbeitsminister Heil war diese Woche bei VW, um gegen die Schließung von Werken zu protestieren…
Es ist immer richtig, die Unternehmen an ihre Verantwortung zu erinnern. Die konkreten Entscheidungen verhandeln die Eigentümer gemeinsam mit den Sozialpartnern. Meine Meinung ist klar: Die Schließung von Standorten wäre nicht der richtige Weg. Gerade weil Fehlentscheidungen des Managements zu der schwierigen Situation beigetragen haben, wäre das nicht in Ordnung.
Auch der Stahlbranche geht es schlecht, auch hier wackeln Tausende Jobs. Wie gehen Sie damit um?
Stahl wird unsere Industrie noch Jahrhunderte begleiten und es kommt jetzt darauf an, die Stahlherstellung in Deutschland langfristig zu sichern. Das hat eine geostrategische Bedeutung. Am Montag werde ich mich mit Spitzenvertretern der Stahl-Branche, mit Betriebsräten und Gewerkschaften im Kanzleramt treffen, um konkrete Maßnahmen zu besprechen. Drei Punkte sind mir dabei wichtig: Es braucht den bereits genannten verlässlichen Strompreis, wenn es um die klimafreundliche Produktion von Stahl geht. Zweitens braucht es die komplette Wertschöpfungskette. Die Stahlhersteller investieren gerade in Alternativen zum klassischen Hochofen, die viel CO2 einsparen. Die Vorhaben fördern wir mit Milliarden-Beträgen. Und mein dritter Punkt: Wir müssen unsere Unternehmen vor Dumping-Stahl aus dem Ausland schützen. Ich rufe die EU-Kommission deshalb zum Handeln auf: Hier brauchen wir mehr Schutz für Europa.
Es wachsen Zweifel, ob „grüner Stahl“ in Deutschland überhaupt konkurrenzfähig ist …
Diese Zweifel teile ich nicht. Wir müssen aus der Nutzung fossiler Brennstoffe aussteigen, um den Klimawandel aufzuhalten. Deshalb investieren wir in großem Umfang in grün produzierten Stahl. Das ist auch wichtig, um unser Potenzial als Industrieland nicht zu gefährden. Stahl kann nicht einfach in jeder Güte aus aller Welt importiert werden.
Teilen Sie die Haltung der Sozialdemokraten in NRW, dass der Staat bei Thyssenkrupp Stahl einsteigen sollte?
Ich nehme jetzt keine Option vom Tisch. Solche Beteiligungen gab es immer wieder, zuletzt bei der Meyer-Werft in Papenburg, aber auch beim Energie-Unternehmen Uniper oder während der Pandemie bei der Lufthansa. Unser Engagement ist zeitlich befristet und soll den Unternehmen helfen, Durststrecken zu überwinden, damit mögliche Investition nicht am fehlenden Eigenkapital scheitern.
Wachstum schaffen – aber wie? Friedrich Merz findet, dass die Deutschen mehr arbeiten müssen. Der Kanzlerkandidat der Union will daher Überstunden von der Steuer befreien. Ist das so falsch?
Mir gefällt der Grundton dieser Debatte nicht. In Deutschland wird sehr viel gearbeitet. Die Vollzeitbeschäftigten arbeiten ähnlich viel wie in unseren Nachbarländern. Deutschland hat einen Höchststand bei Erwerbstätigen. Wer behauptet, die Deutschen seien faul oder nicht fleißig genug, liegt falsch. Aus der Statistik lässt sich allerdings herauslesen, dass es bei uns einen höheren Anteil an Teilzeitbeschäftigten gibt. Das geschieht aber nicht immer freiwillig. Oft liegt es daran, dass Kinderbetreuungsplätze fehlen und vor allem viele junge Mütter deshalb oft auf Teilzeit gehen. Die Lösung: Wir müssen die Angebote für die Kinderbetreuung weiter verbessern.
Von steuerfreien Überstunden halten Sie nichts?
Wir haben schon im Sommer im Rahmen unserer Wachstumsinitiative vorgeschlagen, die Mehrarbeitszuschläge steuerfrei zu stellen.
Wer zahlt mehr Steuern, falls Sie wiedergewählt werden?
Die Frage gefällt mir nicht, weil sie das Pferd von hinten aufzäumt. Richtig ist, dass unser Gemeinwesen auskömmlich finanziert sein muss. Damit wir zum Beispiel zwei Prozent unserer Wirtschaftsleistung für Verteidigung ausgeben können, ohne bei Rente, bei Gesundheit, der Pflege oder dem Ausbau der Infrastruktur zu kürzen.
Geht das konkreter?
Erstens geht es um ein faires und gerechtes Steuersystem. Wer sehr hohe Einkünfte hat, muss stärker zur Finanzierung unseres Gemeinwesens beitragen. Zweitens müssen wir verstärkt die Möglichkeiten nutzen, unsere Infrastruktur auf Vordermann zu bringen, in dem wir die Deutsche Bahn oder die Autobahn-Gesellschaft mit Eigenkapital ausstatten. Drittens braucht es eine Reform der Schuldenbremse, um mehr Spielraum für Investitionen zu schaffen.
Sind Sie darauf vorbereitet, die Ukraine deutlich stärker zu unterstützen? Donald Trump könnte als Präsident die amerikanische Hilfe zurückfahren …
Mit dem künftigen US-Präsidenten habe ich bereits ausführlich telefoniert, und wir sind auch im direkten Austausch mit seinen Verantwortlichen für Sicherheitspolitik. Ich bin zuversichtlich, dass wir eine gemeinsame Strategie für die Ukraine entwickeln können. Mein oberstes Prinzip bleibt dabei: Es darf nichts über die Köpfe der Ukrainerinnen und Ukrainer hinweg entschieden werden. Das habe ich bei meinem Besuch Anfang der Woche in Kiew Präsident Selenskji noch einmal ganz deutlich gesagt. Die Ukraine muss ihre Souveränität verteidigen können. Dabei unterstützen wir sie nach Kräften. Deutschland ist in Europa mit Abstand der stärkste Unterstützer der Ukraine – dabei wird es bleiben.
Muss die Ukraine Gebiete abtreten, damit die Waffen schweigen?
Nochmal, es darf nichts über die Köpfe der Ukrainerinnen und Ukrainer hinweg entschieden werden. Der Krieg tobt seit mehr als 1000 Tagen gnadenlos und hat Hunderttausende von Toten und Verletzten gefordert. Wichtig ist, dass das Töten bald ein Ende hat und die Unabhängigkeit und Souveränität der Ukraine gewährleistet bleibt.
Sind Sie bereit, eine Friedenslösung mit deutschen Truppen abzusichern?
Solche Spekulationen verbieten sich aus meiner Sicht zum gegenwärtigen Zeitpunkt.
Außenministerin Baerbock kann sich eine deutsche Friedenstruppe in der Ukraine vorstellen.
Diese Lesart halte ich für überinterpretiert. Die Außenministerin hat versucht, eine diplomatische Antwort zu geben auf eine komplizierte Frage, die ihr gestellt wurde. Sie hat sich weder für noch gegen eine deutsche Friedenstruppe ausgesprochen. Für mich ist klar: Solange der Krieg tobt, wird es keine Soldaten aus Deutschland, keine deutschen Bodentruppen in der Ukraine geben. Für die Zeit danach muss es um noch zu diskutierende Sicherheitsgarantien gehen, damit die Ukraine die Gewissheit hat, dass Russland sie nicht ein drittes Mal seit 2014 und 2022 überfällt. Wie diese Garantien am Ende ausgestaltet sein werden, wird Gegenstand der Gespräche mit der Ukraine sein. Übrigens: Putin hat keines seiner Ziele erreicht. Statt die Nato zu schwächen, sind mit Finnland und Schweden zwei weitere Mitglieder hinzugekommen. Praktisch alle Nato-Mitglieder geben jetzt zwei Prozent der Wirtschaftsleistung für Verteidigung aus, und die Nato hat ihren Fokus wieder verstärkt auf die Bündnis- und Landesverteidigung gerichtet. Die Ukraine ist nicht zu einem demilitarisierter Vasallen-Staat Russlands geworden, sondern hat sich als stolze, eigenständige Nation bewährt mit einer starken Armee, ausgerüstet mit westlichen Waffen – und sie ist auf dem Weg in die Europäische Union.
Sehen Sie die Ukraine auch in der Nato?
Auf den Nato-Gipfeln in Vilnius und Washington ist der Weg der Ukraine beschrieben worden.
Würden Sie der Ukraine auch nach einer Wiederwahl die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern verweigern?
Deutschland liefert der Ukraine sehr viele Waffen – zur Luftverteidigung, aber auch schwere Artillerie und Kampfpanzer. Das werden wir weiter tun. Ich bleibe aber dabei, keine Marschflugkörper zu liefern, die weit in das russische Hinterland hineinreichen können. Eine Eskalation dieses Krieges hin zu einem direkten Konflikt zwischen der Nato und Russland muss vermieden werden.
Ist die Gefahr der Eskalation nicht dann am größten, wenn man zögert, Putin in die Schranken zu weisen?
Wir weisen Putin und seine imperialistische Aggression doch in die Schranken. Sein Plan war, die Ukraine innerhalb weniger Tage zu erobern, jetzt geht der Krieg bald schon ins dritte Jahr, ohne dass Russland irgendeines seiner Kriegsziele auch nur annähernd erreicht hat.
Russland hat den Krieg gegen die Nato möglicherweise schon begonnen. Es vergehen kaum noch Wochen ohne Sabotageakte in Europa ...
Das beobachten wir sehr aufmerksam. Es gibt Angriffe auf unsere Infrastruktur, vor denen wir uns schützen müssen. Diese Gefahr unterschätzen wir nicht…
… und begegnen ihr wie?
Gemeinsam mit Norwegen haben wir in der Nato bewirkt, dass die kritische Infrastruktur in Nord- und Ostsee stärker überwacht wird.