Herr Bundeskanzler, geht Deutschland härteren Zeiten entgegen?
Nein, unser Land hat die besten Voraussetzungen dafür, dass wir auch in zehn, 20 und in 30 Jahren technologisch in der Spitzenliga spielen. Wir haben Rekordbeschäftigung. Anders als zur Jahrtausendwende, als wir mit Massenarbeitslosigkeit zu kämpfen hatten, haben wir es jetzt mit einem Mangel an Fachkräften zu tun. Das heißt, wir suchen im In- und Ausland händeringend nach Arbeitskräften. Gleichzeitig wird Deutschland gerade zum zentralen Standort der Halbleiterproduktion in Europa – große Unternehmen siedeln bei uns gerade ihre Fabriken an. Die Firma Intel errichtet ein Werk in Magdeburg, das ist die größte ausländische Direktinvestition in Europa, die es je gegeben hat. Wir dürfen den Wirtschaftsstandort Deutschland nicht schlechtreden. Unser Land hat weiterhin gute wirtschaftliche Perspektiven.
Die Wirtschaftsdaten deuten nicht auf eine kurze Flaute hin. Die Union geht so weit, vom kranken Mann der Welt zu sprechen. Deuten wir Ihre Worte richtig, dass wir uns bloß in einen Abschwung hineinreden?
Die Zeitschrift Economist meint, unsere Probleme lägen darin begründet, dass wir nicht genug Staatsschulden aufnähmen. Ich bin mir nicht sicher, ob die Union tatsächlich der Meinung ist, wir sollten mehr Schulden machen. Ich jedenfalls finde das nicht. Um unser Land sicher durch die Corona-Pandemie zu bringen und die Folgen des russischen Überfalls auf die Ukraine abzufedern, haben wir Hunderte Milliarden Euro an Schulden aufgenommen. Das war nötig und richtig. Damit wir gut durch den Winter kommen, niemand frieren und die Industrie nicht die Produktion einstellen musste, haben wir in Rekordzeit – in einem neuen Deutschland-Tempo – Flüssiggas-Terminals an den norddeutschen Küsten gebaut. Nicht schlecht für einen angeblich kranken Mann, oder? Nun konsolidieren wir den Haushalt. Klar ist, dass die aktuellen Wachstumsraten unbefriedigend sind. Der Grund? Weil Deutschland ein so erfolgreiches Exportland ist, sind wir viertgrößte Volkswirtschaft der Welt. Wenn die Weltkonjunktur schwächelt, spüren wir das besonders stark. Das gilt aber auch umgekehrt: Springt die Weltkonjunktur wieder an, profitieren wir auch stärker.
Auch Ihre Partei fordert aber Signale für eine wirtschaftliche Belebung. Dazu soll der Industriestrompreis dienen. Sie sind dagegen. Werden Sie sich umstimmen lassen?
Uns eint das Ziel, dass die Strompreise runter müssen. Um den Strompreis dauerhaft zu subventionieren, fehlen uns nicht nur das Geld, sondern auch die rechtlichen Möglichkeiten. Deshalb setzen wir vor allem auf einen schnelleren Ausbau von Windkraft und Solarenergie. Im Norden und Osten Deutschlands ist uns das schon in großem Maße gelungen – dort erzeugen wir Windenergie-Überschüsse. Hessen, Bayern und Baden-Württemberg profitieren davon noch nicht in ausreichendem Maße, weil die nötigen Stromleitungen noch nicht stehen. Leider. Im Übrigen, weil vor allem Bayern lange massiv Widerstand gegen den Bau der Trassen geleistet hat. Da müssen wir ansetzen, endlich diese Leitungen zu bauen, damit die Energie aus dem Osten und Norden für den Süden bereitsteht. Dann werden die Strompreise merklich sinken.
Heißt, dieser Industriestrompreis wäre sowieso schnell obsolet? Ihre Maßnahmen wirken doch erst langfristig.
Na, im Jahr 2030 wird 80 Prozent unseres Stroms in Deutschland schon aus Erneuerbaren Quellen stammen. Mit Windkraft auf hoher See und an Land, mit Solar-Paneelen, Biomasse-Anlagen und Wasserkraft werden wir strukturell einen geringen Strompreis haben als jene, die auf sündhaft teure Kernkraftwerke setzen und keine Lösung für die Endlagerung des Atommülls haben.
Der CO2-Preis soll zum 1. Januar von 30 auf 40 Euro pro Tonne CO2 steigen. Wann kommt der versprochene Klimabonus? Oder haben Sie den ad acta gelegt?
Nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine haben wir Verbraucher und Unternehmen entlastet, indem wir die EEG-Umlage abgeschafft haben, die den Ausbau der Erneuerbaren mitfinanziert hatte. Das war eine Entlastung von 20 Milliarden Euro. Klar ist, dass der CO2-Preis aus Gründen des Klimaschutzes wie vereinbart steigen wird. Die Einnahmen daraus sind aber noch deutlich geringer als seinerzeit aus der EEG-Umlage. Die Lücke schließen wir mit Steuermitteln.
Das heißt, den Klimabonus können wir uns nicht leisten?
Das heißt, erstmal läuft eine Entlastung über den Wegfall der EEG-Umlage.
Menschen im Süden sorgen sich, dass sie bald höhere Strompreise zahlen müssen, weil Rufe nach verschiedenen Strompreiszonen lauter werden. Können Sie ihnen diese Sorge nehmen?
Diese Sorge ist völlig unberechtigt. Die Bundesregierung will keine unterschiedlichen Strompreiszonen – das ist eine Fake-Debatte. Richtig ist, dass wir ein Gerechtigkeitsdefizit haben. Im Augenblick müssen die Regionen, in denen viele Windkraft- oder Solaranlagen ans Netz gehen, die Anschlusskosten an ihr Verteilnetz allein tragen, was dort zusätzliche Kosten verursacht. Wer also viel Strom zubaut, um andere Regionen damit zu versorgen, hat höhere Kosten zu tragen als die Regionen, für die der Strom bestimmt ist. Das ist nicht fair und das wollen wir angehen. Wir bleiben aber bei einer einheitlichen Strompreiszone in Deutschland.
Menschen in den Grenzregionen zu Österreich erleben derzeit eine Situation, die der im Jahr 2015 ähnelt. Allein die Polizei Freilassing hat 2023 eine Zunahme um 100 Prozent illegaler Migranten festgestellt. Was unternehmen Sie?
Wir sind da dran – und zwar mit einem Gesamtkonzept. Deutschland ist ein europäischer Binnenstaat mit keinerlei EU-Außengrenzen, wir sind auf enge Kooperation mit unseren Nachbarn in Europa angewiesen. Es war deshalb so wichtig, dass es Bundesinnenministerin Nancy Faeser gelungen ist, nach jahrelang vergeblichen Verhandlungen im Juni einen neuen Solidaritätsmechanismus in der EU zu vereinbaren. Er legt unter anderem fest, dass Flüchtlinge wieder dort registriert werden, wo sie ankommen. Noch ist es so, dass 80 Prozent der Flüchtlinge, die in Deutschland Asyl beantragen, nirgendwo sonst registriert wurden, obwohl sie ja schon in anderen EU-Ländern gewesen sein müssen. Die Bundesinnenministerin hat zudem ein Bündel an Maßnahmen zusammengestellt und an die Länder versandt, um Rückführungen schneller und effizienter zu gestalten – das werden wir jetzt umsetzen. Gleichzeitig halten wir die Grenzkontrollen zu Österreich aufrecht und passen die Grenzregime zur Schweiz, Tschechien und Polen an die jeweilige Lage an, um pragmatisch dafür zu sorgen, dass möglichst wenige irregulär nach Deutschland kommen. Wir werden Georgien und Moldau zu sicheren Herkunftsländern erklären. Und wir sind dabei, Migrationspartnerschaften mit Herkunfts- und Transitländern abzuschließen. Sie haben zwei Ziele: Zum einen reguläre Wege der Zuwanderung nach Deutschland zu schaffen, damit wir unseren Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften decken können. Zum anderen, jene unbürokratischer zurückführen zu können, die keine Schutzgründe bei uns geltend machen können. Wenn in diesen Ländern gemerkt wird, dass es keinen Sinn hat, die lebensgefährlichen irregulären Routen nach Europa zu nehmen, sondern legale Migrationswege für qualifizierte Arbeitskräfte offenstehen, werden die Zahlen zurückgehen.
Das kann doch noch Jahre dauern.
Es gibt keine einfache Zauberformel, die man nur sprechen muss und das Problem verschwindet einfach. Die Bundesregierung hat bei diesem Thema aber schon deutliche Fortschritte erzielt, das zählt.
Die meisten der Aufgegriffenen stammen aus Syrien, der Türkei und Afghanistan. Funktioniert das EU-Türkei-Abkommen nicht mehr?
Das EU-Türkei-Abkommen funktioniert weitestgehend.
Es sind viele Türken unter den Aufgegriffenen. Sprechen Sie darüber mit Präsident Erdogan?
In unseren Gesprächen wird kein Thema ausgelassen.
Finanzminister Lindner hat eine Debatte über die Armut unter Migrantenkindern entfacht. Er argumentiert, dass deutsche Kinder aus der Armut geholt werden konnten, aber mehr Kinder von Migranten nun Hilfe benötigten. Deswegen ist er gegen mehr Geld für diese Gruppe im Rahmen der Kindergrundsicherung. Teilen Sie das?
Die Bundesregierung wird bis nächste Woche klären, wie die Kindergrundsicherung konkret ausgestaltet wird. Parallel dazu braucht Deutschland ein flächendeckendes Angebot an Krippen und Kitas, möglichst ohne Gebühren. Darin unterstützen wir die Länder in einem Bund-Länder-Programm, damit das vorangeht. Davon profitieren alle Kinder, besonders aber natürlich jene, die mehr Unterstützung brauchen im Kindergarten und in der Schule.
Die Familienministerin hat ein Gesetz von Lindner blockiert. Untermittelbar vor dem Kabinettsbeschluss. Geht das jetzt in der Koalition so weiter?
Davor kann ich nur warnen. Die Regierung hat viele weitreichende Entscheidungen getroffen, die für mehr Tempo und mehr Modernisierung in unserem Land sorgen. Wir sollten uns mehr darauf konzentrieren, die Erfolge der Regierungstätigkeit herauszustellen und die nötigen Diskussionen über unsere Vorhaben intern führen.
Die AfD muss gerade nur zusehen und erhält Zulauf. Was verschafft Ihnen die Gewissheit, dass die Partei wieder auf den Wert der letzten Bundestagswahl fällt?
Bei allen Meinungsunterschieden setzt die übergroße Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger doch auf die demokratischen Parteien. Sie wissen ganz genau, dass es keinerlei konstruktive Vorschläge der AfD gibt, die gut wären für Deutschland oder für sie persönlich. Die Partei stellt mit ihrer feindlichen Haltung gegenüber der Europäischen Union sogar die Grundlage unseres Wohlstands insgesamt infrage und will alles verhindern, was nötig ist, dass Deutschland ein modernes Industrieland bleibt. Ich bin zuversichtlich, dass die Bürgerinnen und Bürger klug genug sind, sich zwischen den demokratischen Parteien zu entscheiden, die zur Wahl stehen.
Wenn die AfD einen Kanzlerkandidaten aufstellt, würden Sie sich der- oder demjenigen in einem TV-Duell stellen?
Diese Frage steht jetzt nicht an. Und wir sollten solche Diskussionen jetzt auch nicht führen.
Grünen-Chefin Ricarda Lang will Investitionsgesellschaften stärken. Damit könne abseits der Schuldenbremse investiert werden, sagt sie. Steht ein neues Schuldenprogramm bevor?
Nein, wir haben jetzt hunderte Milliarden zusätzliche Schulden gemacht, um die wirtschaftlichen und gesundheitlichen Folgen der Corona-Pandemie abzufedern, in unsere Sicherheit zu investieren und um sicherzustellen, dass wir die wirtschaftlichen Folgen der fehlenden Gaslieferung aus Russland meistern können. Jetzt kommen wir mit den Steuereinnahmen zurecht, die uns zur Verfügung stehen.
Trotz Sondervermögen wird das 2-Prozent-Ziel der Nato wohl auch 2024 nicht erreicht. Haben Sie das Momentum verpasst, um den Wehretat signifikant zu erhöhen?
Der Wehretat wird signifikant erhöht. Wir wollen das Zwei-Prozent-Ziel im nächsten Jahr erreichen. Beim Nato-Gipfel in Vilnius haben wir gerade miteinander vereinbart, künftig mindestens zwei Prozent für Verteidigung auszugeben. Das ist der Sinn des Sondervermögens. Und der Verteidigungsminister hat die feste Zusage, wenn das Sondervermögen 2027 aufgebraucht sein wird, die zusätzlich nötigen Mittel im regulären Haushalt zur Verfügung zu haben.
Aber wir reden ja – wenn das Sondervermögen verbraucht ist – von einem mehrere zehn Milliarden Euro betragenden Haushaltsloch.
Der Wehretat wird dann wohl um mehr als 25 Milliarden Euro anwachsen müssen, das wissen aber alle Beteiligten und können sich darauf einstellen. Bis dahin gibt es das Sondervermögen, um diesen Übergang zu organisieren.
Zur Erreichung des 2-Prozent-Ziels im Jahr 2024 wird von etwa 85,5 Milliarden Euro ausgegangen, bei 51,8 Milliarden steht der Wehretat dann. Das sind fast 35 Milliarden, die fehlen.
Sie haben sich wohl verrechnet. Übrigens fließt in die Nato-Quote nicht allein der Wehretat ein. Nochmal zum Prinzip: Die 100-Milliarden-Sondervermögen der Bundeswehr werden in den nächsten Jahren sukzessive abfließen und den eigentlichen Wehretat ergänzen, sodass wir das Zwei-Prozent-Ziel erreichen. Wenn das Vermögen irgendwann aufgebraucht ist, wird der Wehretat regulär und dauerhaft um die nötigen Mittel aufgestockt. Das Sondervermögen verschafft uns die Zeit, die dafür nötigen Vorbereitungen zu treffen.
Derzeit wird sehr viel über die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern gesprochen. Deutschland zögert bei der Lieferung, weil Sie befürchten, dass damit auch russisches Territorium angegriffen werden könnte. Ist dieses Argument nach anderthalb Jahren Krieg nicht überholt?
Deutschland ist der zweitgrößte Unterstützer der Ukraine nach den USA. Wir liefern Flugabwehrgeräte, Kampfpanzer, schwere Artillerie und vieles mehr. Und das machen wir, solange wie es nötig ist, damit sich die Ukraine gegen die schrecklichen Angriffe Russlands zur Wehr setzen kann. Wer will da von „Zögern“ sprechen? Viele Bürgerinnen und Bürger nehmen erleichtert zur Kenntnis, dass die Regierung sich keine Entscheidung leicht macht. Das ist im Übrigen auch ein Grund dafür, weshalb eine so große Mehrheit unseren Kurs zur Unterstützung der Ukraine mitträgt.
Machen Frankreich oder Großbritannien einen Fehler, wenn sie Waffensysteme liefern, die Moskau erreichen können?
Niemand macht sich solche Entscheidungen leicht und alle Alliierten helfen der Ukraine nach Kräften. Ich möchte aber all Ihren Leserinnen und Lesern versichern: Egal, welche Anforderungen an Deutschland gerichtet werden: Ich werde mir weiterhin jede einzelne Entscheidung sorgfältig überlegen und niemals etwas Unüberlegtes tun.
Zum Schluss quasi ein Blick zurück: Die Corona-Zahlen steigen wieder. Stehen Sie für neuerliche Maßnahmen im kommenden Winter zur Verfügung?
Die Situation heute ist doch glücklicherweise völlig anders als bei Ausbruch der Corona-Pandemie vor dreieinhalb Jahren. Was wir jetzt erleben, ist die „neue“ Normalität mit Corona. Und es wird einen angepassten Impfstoff geben, der bald zur Verfügung steht mit der Empfehlung, dass Ältere und vulnerable Gruppen davon Gebrauch machen. Aber das muss jeder und jede für sich entscheiden.
Wie oft sind Sie eigentlich schon durch Corona durch? Einmal ist aktenkundig.
Mir ist auch nur eine Infektion aufgefallen. Und ich habe vier Impfungen erhalten – das dürfte mir so gehen wie den allermeisten erwachsenen Deutschen. Und ich werde mich demnächst ein fünftes Mal impfen lassen.