Herr Bundeskanzler, wir sitzen in der Bochumer Jahrhunderthalle. Das Ruhrgebiet gilt auch als Stahlstandort. Doch es gibt große Sorgen um den Konzern Thyssenkrupp. Tausende Arbeitsplätze könnten gestrichen werden. Geht es mit dem deutschen Stahlstandort gerade zu Ende?
Nein, ganz sicher nicht. Stahl hat Zukunft – auch in Deutschland. Stahl wird unsere Industrie noch Jahrhunderte begleiten. Es wird jetzt darauf ankommen, die Stahlherstellung in Deutschland langfristig zu sichern.
Wie?
Wir müssen das als strategische Frage verhandeln. In Kürze werde ich mit Vertretern der Stahlkonzerne, Betriebsräte und Gewerkschaften in Kanzleramt darüber beraten. Ich bin überzeugt: Wir sollten die gesamte Wertschöpfungskette des Stahls in Deutschland halten, um unser Potenzial als Industrieland nicht zu gefährden.
Können Sie den Menschen, die aktuell in der Stahlbranche in NRW und in ganz Deutschland um ihre Arbeitsplätze bangen, eine Perspektive geben?
Die Stahlarbeiterinnen und Stahlarbeiter können sich auf den Bundeskanzler verlassen. Wir werden um ihre Arbeitsplätze kämpfen und konkrete Verabredungen treffen, um Beschäftigung zu sichern. Stahl in Deutschland, insbesondere auch im Ruhrgebiet, bleibt eine wichtige Branche mit vielen gut bezahlten Arbeitsplätzen.
Gibt es eine Garantie für industrielle Standorte in Deutschland und hier in NRW?
Das Industriezeitalter wird nicht zu Ende gehen, davon bin ich fest überzeugt. Was sich verändert, sind einige Herstellungsprozesse. Wir müssen aus der Nutzung fossiler Brennstoffe aussteigen, um auf den Klimawandel zu reagieren. Stahl wird dann in Zukunft nicht mehr mit Kohle produziert. Diesen nötigen Umstieg in der Produktion unterstützt der Staat mit vielen Milliarden Euro. Davon profitiert auch ThyssenKrupp. Fachleute wissen nach einigen schlechten Erfahrungen – Stahl kann nicht in jeder Güte einfach aus aller Welt importiert werden. Was unsere Industrie an Stahl braucht, kann in der hohen Qualität oft nur hier bei uns produziert werden.
Die NRW-SPD fordert, dass der Staat bei Thyssen einsteigt, um Arbeitsplätze zu retten. Das hat der Staat ja zum Beispiel auch bei Lufthansa und Uniper gemacht. Ist das für Sie bei Thyssen auch eine Option?
Der Staat ist nicht der bessere Unternehmer, er kann aber Unternehmen in bestimmten Krisenzeiten mit einem finanziellen Einstieg helfen. Etwa wenn Eigenkapital fehlt für eine Sanierung oder für nötige Investitionen. So haben wir es in der Corona-Pandemie mit Lufthansa gemacht oder nach dem russischen Überfall auf die Ukraine mit dem Energieversorger Uniper. Und zuletzt habe ich das entschieden bei der Papenburger Meyer-Werft. Das Unternehmen hat volle Auftragsbücher, leidet aber noch unter den Folgen der Corona-Pandemie für die Kreuzschifffahrt. Gemeinsam mit dem Land Niedersachsen beteiligt sich der Bund an der Werft. Auch mit Blick auf die Stahlbranche werde ich jetzt keine Option vom Tisch nehmen. Im Konkreten muss aber natürlich sehr genau mit dem Unternehmen, mit den Betriebsräten und Gewerkschaften besprochen werden, was genau sinnvoll zu tun ist.
Sie haben den Stahl auch in den Zusammenhang mit der Waffenproduktion gestellt. Ist ein deutscher Stahlstandort also nicht nur für die Industrie und für die Autobranche, sondern auch für die Waffenproduktion erforderlich?
Die Stahlproduktion hat eine geostrategische Bedeutung für unser Land. Seit der Zeitenwende haben wir gelernt, dass Unternehmen der Rüstungsindustrie zu oft von Zulieferern aus Ländern abhängig sind, bei denen wir uns nicht immer sicher sein können, ob wir zu jedem Zeitpunkt das Material bekommen, was wir brauchen. Ein Beispiel sind Halbleiter, also Microchips für die Steuerung der Technik. Ein anderes sind spezielle Stahlsorten, und manchmal ist es auch nur ein billiges Produkt wie Schießbaumwolle – Deutschland muss da insgesamt resistenter, also robuster werden, wenn es mal Lieferschwierigkeiten gibt. Das heißt nicht, dass wir bei der Produktion autark werden wollen, das wäre Unsinn in einer globalisierten Weltwirtschaft; aber wir müssen schon resilient sein, um nicht erpressbar zu sein.
Ist die Sicherung des Stahlstandorts also letztlich auch eine geopolitische Frage?
Ja, wie schon gesagt. Es ist aber auch wirtschaftspolitisch sinnvoll, dass Deutschland Industrieland bleibt. Da geht es dann auch um die Frage, wie teuer es wird, den Strom von A nach B zu befördern, die sogenannten Netzentgelte für die großen Überlandleitungen. Hier bin ich für eine klare Deckelung auf 3 Cent.
In Regionen wie Ostwestfalen-Lippe sind die Netzentgelte mitunter überdurchschnittlich hoch, weil es hier bereits viele Windräder gibt und die Kosten für die Infrastruktur in die Netzentgelte einfließen. Diese Kosten werden wiederum auf die Stromverbraucher umgelegt. Können Sie diesen Regionen fairere und somit niedrigere Netzentgelte in Aussicht stellen?
Ja, das kann ich – und zwar sehr genau zum 1. Januar 2026. Die Bundesnetzagentur hat festgelegt, dass dann endlich ein fairer Ausgleich stattfindet zwischen den Regionen, in denen viele Windkraftanlagen oder Solarzellen stehen wie in Ostwestfalen-Lippe, und jenen Regionen, die dieser Entwicklung noch etwas hinterherhinken. Wer das Richtige macht, sollte dafür nicht länger „bestraft“ werden.
Städte und Gemeinden in NRW sehen sich finanziell eingeschränkt. Ein Grund sind Schulden, die sich über Jahrzehnte angehäuft haben. Wird es durch den Bund eine Lösung bei den Altschulden geben?
Schon als Bundesfinanzminister hatte ich die Idee entwickelt, wie wir jene Städte und Gemeinden entlasten, die oft von ihren Altschulden schier erdrückt werden. Die Idee: Diese Schulden werden auf den Bund und das jeweilige Land umgebucht. Die Kommunen könnten dann durchatmen. Das Angebot fand damals leider nicht ausreichend Unterstützung bei den Ländern – weil von dieser Idee eben nicht überall gleich viele Kommunen profitiert hätten, aber alle Länder hätten zustimmen müssen. Der neue Bundesfinanzminister wird jetzt aber nochmal einen Anlauf unternehmen.
Woran hakt es?
Für diesen Plan müssen wir das Grundgesetz ändern – und das geht nur mit einer Zweidrittelmehrheit im Bundestag und Bundesrat. Da braucht es jetzt die Solidarität aller Länder, auch derjenigen, die kein großes Altschulden-Problem in ihren Gemeinden haben. Dafür werbe ich.
Aber NRW haben Sie schon auf Ihrer Seite?
Kommunen in NRW gehören auf alle Fälle zu den Nutznießern einer solchen Regelung. Ich höre immer mehr Stimmen, die bei den Altschulden wirklich vorankommen wollen.
Also müsste NRW-Ministerpräsident Wüst zunächst seinen Parteichef Friedrich Merz von einer Grundgesetzänderung überzeugen?
Jedenfalls brauchen wir eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag und in der Länderkammer, sonst klappt das nicht.
Sie loben, dass sich in NRW und gerade im Ruhrgebiet im industriellen Zeitalter nicht die Skeptiker durchgesetzt haben, sondern die Fortschrittsdenker. Wie würden Sie heute den Fortschrittsgedanken formulieren, gerade vor der Veränderung der wirtschaftlichen Erfordernisse?
Wir brauchen Mut zum Fortschritt. Technologisch müssen wir als Land immer ganz vorne dabei sein, um unseren Wohlstand zu erhalten. Es ist ja kein Zufall, dass Deutschland die einzige große Nation Europas ist, die mehr als drei Prozent der eigenen Wirtschaftsleistung für Forschung und Entwicklung ausgibt. Es braucht neue Erfindungen und Entwicklungen, mit denen wir in Zukunft Geld verdienen können. Das müssen wir uns gemeinsam zutrauen.
Was bedeutet der technologische Fortschritt für die Menschen?
Der technologische Fortschritt ist die Grundlage für unseren Wohlstand. Insofern sollten wir ihn nicht fürchten, sondern ihn für uns nutzen. Klar ist: Wir müssen es hinbekommen, bis zur Mitte des Jahrhunderts klimaneutral zu werden. Deutschland will das schon 2045 schaffen, dafür haben wir die Weichen gestellt. Und aus meiner Sicht braucht es auf diesem Weg jetzt weniger Ideologie und mehr Pragmatismus. Ob wir eine Sache schon 2027 oder erst 2029 erreichen, halte ich nicht für alles entscheidend, solange wir unser Gesamtziel erreichen. Wichtig ist, dass die Unternehmen damit immer zurechtkommen können.